32. KAPITEL
Die Meldung, dass die mutmaßlichen Anführer von Gleic Éire festgenommen worden waren, und dass ein Reporter namens Steve Reyes dafür gesorgt hatte, war der Aufhänger in allen Nachrichtensendungen des Landes.
Plötzlich wollte jeder wissen, wer Steve war, was er gemacht hatte, bevor er nach Monterey gekommen war, und ob er für Interviews zur Verfügung stand. Tim hatte ihn bereits angerufen, da “60 Minutes”, “20/20” und “Good Morning America” ihn in ihren Sendungen haben wollten.
Der Gedanke an eine solche Publicity ließ Steve zusammenzucken. Wäre da nicht Julia gewesen, hätte er sich längst ohne viel Aufhebens auf den Weg zurück nach Florida gemacht und versucht, die Angelegenheit zu vergessen. Aber Julia bedeutete ihm inzwischen sehr viel, umso mehr, da sein eigentlicher Grund, der ihn nach Monterey geführt hatte, jetzt im Gefängnis saß.
So hatte er sich an diesem warmen, windigen Tag, während sich die Sonne über die Berge erhob, an den einzigen Platz begeben, von dem er wusste, dass er ihm ein paar Minuten Ruhe garantieren würde – Sheilas Grab.
Seine Blumen, die inzwischen ohnehin sicher verwelkt waren, hatte man durch ein kunstvolles Gesteck aus Callas ersetzt, das genauso förmlich und steif war wie der Mann, der es dorthin gelegt hatte.
Er hockte sich hin und ließ seine Hände zwischen seinen Knien baumeln. “Ich habe ihn gekriegt, Sheila. Du und unser Baby – ihr könnt jetzt in Frieden ruhen.” Auch wenn er noch nie an übersinnliche Erlebnisse geglaubt hatte, blickte er jetzt zum Himmel, als suche er dort nach einem Zeichen von ihr. Als nichts dergleichen geschah, sah er wieder auf den Grabstein. Im hellen Schein der Sonne schien Sheilas Name zu glitzern. Steve sah andächtig auf Sheilas Grab.
“Ich bin jemandem begegnet, Sheila”, sagte er sanft. “Ich hätte es zwar nie geglaubt, aber es ist geschehen.” Er schluckte. “Ich dachte, du solltest das wissen. Doch vielleicht … musste ich auch nur hören, wie ich es sage.”
Die einzige Antwort kam vom Ozean, der fünfzehn Meter unter ihm lag, wo die tosenden Wellen an die Felsen schlugen.
“Ich habe überlegt, sie zu fragen, ob sie mich heiraten möchte, aber ich bin nicht sicher, ob das richtig ist. Das ist ein großer Schritt. Für mich und für sie. Ich weiß nicht mal, ob sie Ja sagen würde.”
Ein Windstoß fuhr durch den Mandelbaum und riss eine Blüte los, die zu Boden segelte und Zentimeter von Steve entfernt auf dem Grab landete. Er nahm sie auf und sah noch einmal zum Himmel. Dann nahm er die Blüte lächelnd auf, um an ihr zu riechen und sie zurück auf den Stein zu legen.
Nach einer Weile stand er auf und verabschiedete sich von Sheila.
Diesmal wusste er, dass er nicht zurückkehren würde.
“Sie schon wieder!”
Verärgert darüber, dass Ron Kendricks wieder einmal vor ihr stand, versuchte Julia, die Tür zuzuschlagen, aber der lästige Reporter hatte bereits einen Fuß in den Türspalt gestellt.
“Hallo, Mrs. Bradshaw.”
“Was muss man eigentlich machen, damit Sie verstehen, dass Sie hier nicht willkommen sind?”
Unbeeindruckt blickte er über ihre Schulter. “Wo ist denn Ihr Wachhund?”
“Ich bin alleine”, herrschte sie ihn an. “Aber machen Sie sich keine falsche Hoffnungen, Kendricks. Ich bin nicht wehrlos, müssen Sie wissen. Das sollten Sie inzwischen auch mitbekommen haben.”
Er schien sie nicht gehört zu haben, oder es interessierte ihn nicht, was sie sagte. “Ruht er sich jetzt auf seinen Lorbeeren aus?” sagte er sarkastisch. “Der Mann der Stunde. Der große Held.” Er verzog das Gesicht. “Was für eine Scheiße.”
Während Julia versuchte, seinen Fuß zurückzuschieben, lehnte er sich gegen die Tür und versetzte ihr einen heftigen Stoß. “Wollen Sie mich denn nicht reinlassen?”
Verärgert warf Julia die Arme in die Höhe. “Das reicht. Ich rufe die Polizei.”
Bevor sie aber auch nur einen Schritt machen konnte, fasste Kendricks sie am Arm und zog sie zurück. “Nicht so schnell, Blondie. Ich habe Ihnen doch noch gar nicht gesagt, warum ich hier bin.”
Als ihr sein Atem entgegenschlug, zuckte Julia zurück. “Sie sind betrunken.”
“Na ja, ich hab ja nicht viel anderes zu tun, nachdem man mich gefeuert hat.”
Davon wusste sie nichts, und im gleichen Moment tat ihr der Mann Leid, auch wenn sie wusste, dass das dumm war. Noch vor ein paar Tagen hatte sie ihm überhaupt nicht Leid getan, und mit Andrew hatte er kein Mitgefühl gehabt. Ihn hatte nur das Geld interessiert. “So wie ich Sie kenne, ist das Ihre eigene Schuld”, sagte sie und versuchte, distanziert zu klingen.
Er stieß auf. “Was denn? Mehr Mitleid kriege ich nicht? Nicht mal ein 'ooh, tut mir Leid, Kenny'?”
Ihr Mitleid schwand schnell dahin. “Ich hatte nichts damit zu tun, dass Sie gefeuert wurden, Kendricks.”
“Wollen Sie denn gar nicht wissen, wer es war?”
“Nein, und jetzt lassen Sie mich …”
“Charles Bradshaw. Ja, genau, Ihr Exschwiegervater, Ihr neuer Sir Galahad, er hat gehört, dass ich Sie neulich abends fotografiert habe, und er hat meinen Verleger angerufen.” Endlich ließ er ihren Arm los, schwankte aber ein wenig, da er das Gleichgewicht zu verlieren begann. “Können Sie sich vorstellen, was für Nerven manche Leute haben, einfach zu glauben, dass sie Gott spielen können?”
“Ich habe ihm von dem Foto nichts gesagt, wenn es das ist, was Sie glauben.”
“Wer dann?”
“Auch nicht Steve”, sagte sie rasch, weil sie fürchtete, er könne ihm als Nächstes auflauern. “Die beiden reden ja nicht mal miteinander.”
“Ich weiß.” Sein Blick hatte etwas von einer Anspielung, die sie nicht verstand. “Wollen Sie wissen, warum die beiden nicht reden?”
“Das weiß ich.”
“Irrtum, Blondie. Sie meinen, dass Sie es wissen.” Er lachte gackernd. “In Wahrheit verbindet die beiden eine laaaaange Geschichte.” Er zog das Wort in die Länge, als habe es eine besondere Bedeutung.
“Sie reden wirres Zeugs, Kendricks”, sagte sie gereizt. “Tun Sie sich einen Gefallen: verschwinden Sie und schlafen Sie irgendwo Ihren Rausch aus.”
Er legte den Kopf schräg. “Was? Und ich soll mir die Gelegenheit nehmen lassen, es Reyes heimzuzahlen?” Er schüttelte benommen den Kopf. “Auf gar keinen Fall.”
Er beugte sich vor und blinzelte, während er versuchte, seinen Blick auf sie zu richten. “Wissen Sie, ich habe Ihren edlen Ritter überprüft. Und dabei habe ich herausgefunden, dass er gar nicht so edel ist.”
“Ich habe keine Lust, mir Ihre Lügen anzuhören.”
“Ach ja?” Er wartete einen Moment lang. “Nicht mal, wenn ich Ihnen erzähle, dass Steve Reyes mal mit Sheila Bradshaw verlobt war? Und dass sie von ihm schwanger war, als sie starb?”
Julia hielt sich schockiert an der Wand fest. Das ist nicht wahr, sagte sie sich. Eine gehässige Lüge. Kendricks war ein kleiner, unbedeutender Mann, der alles tun würde, um Steve zu blamieren. Er hatte es selbst gesagt.
“Sie lügen.” Aber ihre Stimme war plötzlich schwächer geworden und verriet ihre Zweifel.
Wieder stieß er auf. “Das würde ich mir nicht ausdenken. Bestimmt nicht, wenn ich es so leicht beweisen kann.”
“Und wie?” sagte sie höhnisch. “Etwa mit den gleichen erfundenen Quellen, die Sie sonst für den Dreck benutzen, den Sie schreiben?”
“Meine Quellen sind über jeden Zweifel erhaben”, erwiderte Kendricks und klang ein wenig verärgert. “Sie können es selbst nachprüfen. Rufen Sie Sergeant Bruno Cavalieri vom NYPD an.”
“Ihr Sergeant Cavalieri ist falsch informiert. Steve ist bis vor drei Wochen nie einem der Bradshaws begegnet.”
Der Reporter warf ihr einen langen, wissenden Blick zu. “Sie sind die mit den falschen Informationen, Julia. Reyes kannte sie alle – Charles, Sheila, sogar Paul. Das hätten Sie nun niemals gedacht, nicht wahr?”
Sie schüttelte langsam und wiederholt den Kopf. Steve hätte mir das gesagt, dachte sie. Er hätte in einer so wichtigen Sache nicht gelogen.
“Der Grund dafür, dass weder Sie noch sonst jemand in dieser Stadt etwas davon weiß”, fuhr Kendricks fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen, “ist der, dass der alte Bradshaw die ganze Sache unter Verschluss genommen hat, die Schwangerschaft eingeschlossen.”
“Woher sollte jemand wissen, dass sie schwanger war? Es gab doch gar keine Autopsie.”
Kendricks lächelte sie überheblich an. “Das stimmt. Aber Sheila war eine Woche vor ihrem Tod beim Arzt, und der hat die Schwangerschaft bestätigt.”
“Ich glaube Ihnen kein Wort.” Doch die Übelkeit, die sich in ihrem Magen ausbreitete, sagte ihr, dass die Zweifel erfolgreich gesät worden waren.
Plötzlich erinnerte sie sich an jenen Morgen vor Luthers Büro, als Steve und Charles vor laufender Kamera so hart aneinander geraten waren. Sogar Frank hatte sich gefragt, ob die beiden Männer sich kannten. Steve hatte das natürlich bestritten, und zu der Zeit hatte sie sich dabei nichts gedacht. Aber jetzt …
Während Kendricks sie weiter beobachtete, begannen seine Augen vor Freude zu strahlen. “Glauben Sie mir, Süße. Ihr Superman ist ein gewaltiger Lügner.”
Er fing lauthals an zu lachen, als wäre seine Bemerkung unglaublich witzig gewesen. “Er hat Ihnen auch nicht erzählt, dass er seit sieben Jahren nicht mehr für die Sun arbeitet und dass er nur aus einem einzigen Grund bereit gewesen ist, nach Monterey zurückzukommen. Um nämlich die Männer zu fassen, die seine geliebte Sheila umgebracht haben.”
“Sie lügen.” Diesmal konnte Julia aber keine Überzeugung in ihre Worte legen, als sie sie aussprach. Sie konnte nicht wahrhaben, was ihr Kendricks offenbarte.
“Er hat Sie benutzt, Julia”, sagte Kendricks. Seine Augen leuchteten gehässig. “Es hat ihn überhaupt nicht interessiert, ob Sie schuldig sind oder nicht. Er wollte nur den Tod der Frau rächen, die er geliebt hatte. Und des Kindes, das er mit ihr verloren hatte. Darum ist er nach Monterey gekommen. Und darum hat er sich bei Ihnen einquartiert. Damit er in Ihrer Nähe sein und Sie aushorchen konnte – über Paul, über Eli Seavers, über jeden, der ihn zu Sheilas Mörder führen würde.”
Er gackerte wieder und schien mit sich zufrieden zu sein. “Aber vertrauen Sie nicht mir. Unterhalten Sie sich mit dem großartigen Charles. Er wird Ihnen alles erzählen, vor allem, wenn er hört, dass Sie's mit dem Kerl treiben.”
Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht, was exakt das war, was Kendricks auch in seinem betrunkenen Zustand hatte erreichen wollen.
“Tja, ich schätze, ich habe für heute meine gute Tat getan.” Kendricks richtete sich auf. “Ich werde jetzt wohl feiern gehen. Sie rufen mich an, wenn Sie Ihre Meinung über unser Buch ändern, ja? Dieses neue romantische Kapitel in Ihrem Leben wird bestimmt noch eine weitere Million wert sein.”
Mit der übertriebenen Langsamkeit eines Betrunkenen ging der Reporter fort.
Langsam schloss Julia die Tür und lehnte sich mit der Stirn gegen das Holz. Er hatte gelogen. Aber wenn nicht, dann hatte ein anderer gelogen. Sie bewegte sich nicht, bis sie hörte, dass Kendricks in seinen Wagen gestiegen und abgefahren war. Dann unterdrückte sie ihre Tränen, ging in die Küche und holte ihren Schlüsselbund aus dem Schreibtisch.
Es gab nur einen Mann, der Gewissheit bringen konnte.
Mit bleicherem Gesicht als üblich sah Charles Julia an und hörte zu, während sie Wort für Wort erzählte, was Ron Kendricks gesagt hatte.
Als sie fertig war, lehnte er seinen Kopf an das dunkelbraune Leder und schloss die Augen.
Julias Magen begann verrückt zu spielen. Charles hätte wütend sein sollen, aufgebracht. Er hätte damit drohen sollen, diesen Bastard zu erwürgen, der solche albernen Gerüchte über seine tote Tochter verbreitete. Stattdessen saß er einfach nur da, den Unterkiefer vorgeschoben, während Julia fühlte, wie ihr das Herz brach.
“Charles … hast du mich gehört?”
Langsam öffnete er die Augen und sah sie an. “Liebst du Steve Reyes?” fragte er.
Die überraschende Frage irritierte sie. Einen Moment lang wollte sie ihm sagen, dass ihre Antwort bedeutungslos für ihr Anliegen war, und dass er sich aus ihren Angelegenheiten heraushalten sollte. Doch unter seinem bohrenden Blick konnte sie nur leise ergeben seufzen. “Ja.”
Das Eingeständnis überraschte sie, nicht, weil sie es endlich sich selbst gegenüber zugegeben hatte, sondern weil sie es einem Mann gesagt hatte, bei dem sie noch immer nicht sicher war, ob er wusste, was wahre Liebe eigentlich war.
“Ah.” Charles stützte seine Ellbogen auf die Armlehnen, verschränkte die Hände und ließ sein Kinn auf den beiden aufragenden Zeigefingern ruhen. “Das macht es nur komplizierter.”
Julias Magen drehte sich. “Dann stimmt es also”, sagte sie mit einem erneuten flauen Gefühl. “Alles, was ich erfahren habe.”
“Ja, es stimmt.” Er runzelte die Stirn. “Reyes hat es dir nicht gesagt?”
“Nein.” Sie drückte die Hand auf ihre Brust, als könne sie so das wilde Pochen ihres Herzens stoppen. Es half nichts, ihr Herz raste weiter. “Wie … wie lange haben sie sich gekannt?” brachte sie über die Lippen.
“Nicht lange. Drei Monate.”
“Kendricks hat gesagt, du wolltest nicht, dass irgendjemand von ihrer Beziehung erfuhr.” Der Grund dafür war für sie nicht erkennbar. “Stimmt das?”
“Ja.”
“Aber warum? Welchen Unterschied …”
“Weil ich wütend war!” Er schlug mit den Handflächen auf die Armlehnen und sprang aus seinem Stuhl auf. “Ich war wütend darüber, dass sie ihr Leben für den ersten Mann wegwerfen wollte, dem sie begegnete. Ein Mann, den sie kaum kannte.” Er atmete tief durch, als bereite er sich auf etwas vor, was er nur schweren Herzens aussprechen konnte. “Ein Kubaner”, sagte er schließlich.
Julia saß fassungslos da. Diskriminierung war eine Schwäche, die sie nicht mit dem beliebten Exgouverneur in Verbindung gebracht hätte. Charles Bradshaw hatte die letzten vierzig Jahre Geld für die weniger Betuchten – darunter viele Einwanderer aus Mittelamerika – gespendet, damit sie ein besseres Leben führen konnten. Im Amt hatte er sich für höhere Löhne und bessere Lebensbedingungen eingesetzt, und im Gegenzug hatte sich die hispanoamerikanische Bevölkerung hinter ihn gestellt, seinen Namen bei politischen Veranstaltungen gerufen, gedrängelt und geschoben, um seine Hand schütteln und sich bei ihm persönlich bedanken zu können. So ernst es ihm damit aber auch gewesen war, hatte Charles offenbar entschieden etwas dagegen, dass seine Tochter einen Exil-Kubaner heiraten wollte.
Er ging zum Fenster und schwieg eine Weile. Seine Finger, die er hinter dem Rücken verschränkt hatte, bewegten sich unablässig.
Als er wieder sprach, war seine Stimme ruhiger. “Als Sheila mich von New York aus anrief und mir sagte, dass sie einen Mann kennen gelernt hatte, den sie heiraten wollte, dachte ich, das sei nichts weiter als die Schwärmerei eines jungen Mädchens. Das geht vorüber, sagte ich mir. Als ich erkannte, dass sie es ernst meinte, versuchte ich, mit ihr zu reden. Ich sagte ihr, sie sei zu jung, zu impulsiv. Sie hat nur gelacht und gesagt, sie sei einundzwanzig Jahre alt und wisse, was sie mache. Weil ich nichts weiter davon hören wollte, beendete ich das Gespräch an diesem Punkt. Ein paar Wochen später rief sie wieder an, mit einer neuen schockierenden Nachricht. Sie war schwanger. Ich war außer mir vor Wut. Ich sagte ihr, sie wisse gar nichts über Steve Reyes, außer dass er irgendein Reporter war. Vielleicht war er nur hinter ihrem Geld her.”
“Steve macht sich nichts aus Geld”, konterte Julia, verstummte aber sofort wieder. Warum verteidigte sie ihn? Den Mann, der sie belogen und benutzt hatte?
“Das weiß ich inzwischen auch.” Charles lachte traurig auf und drehte sich zu ihr um. “Glaub mir, ich habe innerhalb weniger Tage die Erfahrungen eines ganzen Lebens gemacht.”
Er sprach weiter in diesem flachen, monotonen Tonfall, der so untypisch für ihn war. “Ich stellte ihr ein Ultimatum. Ich sagte ihr, sie solle heimkommen, ansonsten würde ich sie enterben.”
“O Charles.” Der Gedanke, dass sich ein Vater aus irgendeinem Grund von seinem Kind abwenden könnte, ging über Julias Fassungsvermögen hinaus.
Ihr missbilligender Tonfall ließ Charles ein paar Mal nicken. “Ich weiß, ich hätte das nicht sagen sollen. Ich habe dafür teuer bezahlt.” Er blickte in die Ferne. “Ein paar Tage später war sie tot.”
Sein Schmerz war so offensichtlich, dass sich Julias Herz ungewollt verkrampfte. “Das tut mir Leid, Charles.”
“Es muss dir nicht Leid tun. Ich bin an jeder quälenden Minute meiner Trauer selbst schuld. Ich hätte nie den Mann angreifen dürfen, den sie liebte. Dadurch habe ich sie nur völlig von mir entfremdet.” Mit erhobenem Kopf sah er Julia in die Augen. “Ich bin vielleicht ein erfolgreicher Politiker gewesen, aber als Vater war ich ein völliger Versager. Ich habe meine Kinder geliebt, aber ich wusste nicht, wie ich es ihnen zeigen sollte, zumindest nicht auf die Art, die sie erwarteten. Ich wollte, dass sie erfolgreich wurden, stattdessen habe ich sie unterdrückt. Ich habe eines meiner Kinder gezwungen, das Zuhause zu verlassen. Und meinem anderen Kind habe ich es unmöglich gemacht, irgendetwas anderes zu sein als das, was ich wollte.”
Er ging hinüber zum Kamin und berührte das gerahmte Foto einer fröhlichen, lächelnden Sheila. “Ich konnte mich nicht mal bei ihrer Beerdigung richtig verhalten.”
“Wie meinst du das?” fragte Julia leise.
“Steve kam zum Friedhof, wie ich es auch erwartet hatte. Also bat ich Garrett, ein paar Wachen am Tor aufzustellen. Als Steve auftauchte, haben sie ihn aufgefordert zu gehen.”
Irgendwie konnte sich Julia nicht vorstellen, dass sich Steve anstandslos wegführen ließ. “Und das hat er mitgemacht?”
“Er tat es für Sheila, damit es bei ihrer Beerdigung nicht zu einer Szene kommen konnte. Damit hatte ich auch gerechnet und genau das ausgenutzt.” Er betrachtete weiter das Bild seiner Tochter. “Er hat sie mehr geliebt, als ich es jemals getan habe”, murmelte er.
Und er liebt sie immer noch, dachte Julia, die sich elend fühlte. Sonst hätte er mir die Wahrheit gesagt. Ihr Blick verschwamm, als ihr Tränen in die Augen schossen.
Schließlich wandte sich Charles von Sheilas Bild ab und drehte sich um. “Was hat dieser Mann an sich, dass sich gleich zwei Bradshaw-Frauen so hoffnungslos in ihn verlieben?”
Julia bemerkte mit einem spürbaren Ruck, der ihren Körper durchfuhr, dass er sie zum ersten Mal als eine Bradshaw bezeichnet hatte.
Ihm musste das auch aufgefallen sein, da sein Blick plötzlich milder wurde. “Vielleicht”, sagte er sanft, “kannst du mit ihm reden und versuchen, diese Sache aus der Welt zu schaffen …”
“Oh, ich werde zu Hause sofort mit ihm reden, Charles. Das kannst du mir glauben.”
Sie freute sich nicht darauf, nach Hause zu kommen. Sie war nicht mal sicher, was sie Steve sagen sollte oder wie er reagieren würde. Würde er die Wahrheit sagen? Oder würde er lügen? Er wird bestimmt lügen, dachte sie. Für manche Menschen war eine Lüge immer die einfachste Lösung.
Und Steve war so gut darin.