34. KAPITEL

Zu Hause angekommen, stellte Julia fest, dass ihr Heim mit einem Mal zu groß, zu kalt und zu leise war, obwohl sie von allen Dingen umgeben war, die sie liebte.

Wider besseren Wissens ging sie in Steves Zimmer. Er hatte die Tür offen gelassen, und als sie eintrat, verursachte der vertraute Geruch seines After Shave einen Stich in ihrem Herzen.

Das Zimmer war so aufgeräumt und sauber wie an dem Tag, an dem sie es ihm gezeigt hatte. Es war so, als wäre er niemals hier gewesen.

Das Telefon auf dem Nachttisch wirkte auf sie wie ein Magnet. Wenn sie es wollte, konnte sie sehr schnell herausfinden, wo er abgeblieben war. Vermutlich war er ins Monterey Arms gezogen, jenes große und recht bequeme Motel am Stadtrand. Oder er hatte sich für eines der malerischen Gasthäuser oder Motels entlang der Cannery Row entschieden.

Wenn sie es wollte. Aber sie wollte es nicht.

Während sie auf den Schreibtisch starrte, an dem er so oft gesessen hatte, um seine Artikel zu schreiben, kamen ihr die Worte in den Sinn, die er während ihres Streits gesagt hatte: “Du bist die Frau, die ich liebe. Nur du. Wenn du mir nichts anderes glaubst, dann glaub mir das.”

War sie ihm gegenüber zu hart gewesen? Zu unerbittlich? Ja, sie hasste Lügen. Sie hasste sie noch mehr, wenn sie von jemandem kamen, den sie liebte. Eine Lüge war ein Verrat, so einfach war das.

Oder vielleicht doch nicht?

“Versetz dich in seine Lage.” Das hatte Penny ihr eindringlich gesagt. Aber das hatte sie nicht tun können. Sie war zu wütend gewesen, zu sehr hatte die Gewissheit sie getroffen, dass er Sheila noch immer liebte.

Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen, und verbannte die Gedanken aus ihrem Kopf, schloss die Tür und ging nach unten.

Auf dem Küchentresen wartete das Willkommensgeschenk für Andrew, ein Kirschkuchen. Die Heimkehr ihres Sohnes war das Einzige, was jetzt noch zählte.

Ihr noch immer verschwommener Blick blieb an dem kleinen gelben Regenmantel haften, der an der Hintertür hing. Sie lächelte. Gott, wie sehr hatte sie ihren Jungen vermisst, die abendlichen Machtkämpfe, wenn er ins Bett sollte, seine Zahnlücke, wenn er grinste, die Art, wie er ihr heute von der rätselhaften Kassette erzählt hatte, die ihm und Coop aufgefallen war.

Plötzlich versteifte sie sich. Die rätselhafte Kassette. Bislang war diese Formulierung nur benutzt worden, wenn es um Jordans fehlendes Band ging.

Während ihr ein fast unglaublicher Gedanke durch den Kopf jagte, schnappte Julia nach Luft. Nein, das konnte nicht sein. Nicht in Andrews Roboter. Paul hätte nie …

O Gott.

Plötzlich ergriff Panik von ihr Besitz. Paul hatte Andrew den Roboter als Wiedergutmachung geschenkt, weil er seinen letzten Besuchstag vergessen hatte. Das war am 23. Mai gewesen, nur drei Tage vor seiner Ermordung.

Sie versuchte, Ruhe zu bewahren, als sie nach dem schnurlosen Telefon auf dem Schreibtisch griff und Spikes Nummer in der Hütte eintippte. Als sie ein Besetztzeichen hörte, schrie sie frustriert auf. Mit wem sollte Coop um diese Zeit telefonieren?

Sie wählte neu, weil sie befürchtete, sich vertippt zu haben, doch die Leitung war abermals besetzt. Sie würde fünf Minuten warten und es dann noch einmal versuchen.

Ein Gefühl des Unbehagens machte sich kurz in ihr breit. Den Blick auf die Wanduhr über dem Schrank gerichtet, zählte sie die Sekunden, griff aber schon nach drei zermürbenden Minuten wieder nach dem Hörer.

Immer noch besetzt.

Das ergab keinen Sinn. Nur sie und Steve kannten die Nummer. Und Steve würde um diese Zeit nicht anrufen. Vielleicht hatte Coop bei ihm angerufen, oder er hatte über Nacht ausgehängt. Sie hätte Steve anrufen können, aber sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie ihm möglicherweise nachlief oder seine Hilfe nötig hatte.

Ein fürchterlicher Gedanke ging ihr plötzlich durch den Kopf.

Was, wenn Coop wieder getrunken hatte?

Sie schämte sich für dieses Misstrauen gegenüber ihrem Vater und versuchte, den Gedanken zu vertreiben. Es wollte ihr einfach nicht gelingen. Spike war schon immer ein standfester Trinker gewesen, und daher hatte er auch einen gut sortierten Vorrat in der Hütte. Was, wenn Coop ohne den Rückhalt der Anonymen Alkoholiker der Versuchung erlegen war?

Ohne zu zögern, nahm Julia ihre Tasche und ihre Schlüssel vom Schreibtisch und rannte aus dem Haus.

Steve hatte es gerade noch rechtzeitig zum Del Monte Shopping Center geschafft. Ein paar Minuten später, und die Elektrohandlung wäre geschlossen gewesen.

Jetzt saß er im Landrover, das Diktiergerät auf dem Beifahrersitz, und nahm sein Telefon, um in der “Hacienda” anzurufen. Ob Julia auf ihn wütend war oder nicht, sie würde dabei sein wollen. Vielleicht würden fünfundvierzig Minuten Fahrt bis zu Spikes Hütte ihnen die Gelegenheit geben, weiterzureden und Klarheit zu schaffen. Eines war auf jeden Fall sicher: Er würde sie nicht so leicht aufgeben.

Er erreichte aber nicht Julia, sondern hörte nur die Ansage auf ihrem Anrufbeantworter. Nach einem Blick auf die beleuchtete Uhr im Armaturenbrett runzelte er die Stirn. Zehn Uhr. Würde sie so früh zu Bett gehen? Oder hörte sie seinen Anruf mit und wollte nicht mit ihm reden?

Leise fluchend trat er aufs Gaspedal und fuhr Richtung Via del Rey.

Von den Laternen im Hof abgesehen, war das Gasthaus dunkel, als Steve eintraf. Und die Garage, in der Julia ihren Volvo abstellte, war leer. Wo zum Teufel sollte sie um diese Uhrzeit sein?

Anstatt lange zu überlegen, eilte Steve die Stufen hinauf und klingelte Sturm. Als nichts geschah, klingelte er wieder und hämmerte mit dem Türklopfer auf das Holz. “Julia!”

Er wartete eine volle Minute, und als nichts geschah, ging er zurück zum Wagen.

Während er sich auf die Unterlippe biss und mit den Fingern ungeduldig auf das Lenkrad trommelte, versuchte er, sich keine Sorgen zu machen. Es konnte ein Dutzend Gründe geben, warum sie nicht zu Hause war. Vielleicht war sie bei ihrer Mutter. Oder bei Penny.

Penny! Natürlich. Warum hatte er nicht eher daran gedacht? Er nahm sein Mobiltelefon und rief die Auskunft an, um Pennys Nummer zu bekommen.

Die nahm nach dem dritten Klingeln den Hörer ab und sagte schlaftrunken: “Hallo?”

“Penny, hier ist Steve”, sagte er, während er Mühe hatte, seine Besorgnis zu verbergen. “Ich suche Julia, hast du sie gesehen?”

Sie war mit einem Mal hellwach. “Sie war hier, aber sie ist vor einer Stunde nach Hause gefahren. Sie wollte für den Kurs morgen alles vorbereiten.”

Er fühlte Unruhe in sich aufkeimen. “Sie ist nicht hier. Und ihr Wagen auch nicht. Könnte sie bei ihrer Mutter sein?”

“Das glaube ich kaum.” Die Beunruhigung in Pennys Stimme trug nicht dazu bei, seine Nerven zu besänftigen. “Sie weiß, dass sich Grace früh schlafen legt. Hast du versucht, sie auf dem Mobiltelefon zu erreichen?”

Er gab sich im Geiste einen Tritt, weil er die Nummer nicht notiert hatte. “Gib mir ihre Nummer, Penny.”

Steve notierte sie auf der Rückseite einer Tankquittung, versprach Penny, sie sofort zurückzurufen, sobald er Julia gefunden hatte, dann beendete er das Gespräch. Er blickte kurz zur “Hacienda”, dann tippte er die Ziffern ein und atmete erleichtert auf, als Julia sich meldete.

“Wo zum Teufel steckst du?” war das Einzige, was er herausbrachte.

“Was geht dich das an?”

Ihr scharfer Tonfall schmerzte, aber jetzt war keine Zeit, um sich zu bemitleiden. “Dein Vater hat mich angerufen”, sagte er. “Er glaubt, dass er Jordans Band gefunden hat und …”

“In Andrews Roboter?” Der Zorn war völlig aus ihrer Stimme verschwunden. “O Gott, dann stimmt es.”

“Woher weißt du das?”

“Andrew hatte angerufen und mir erzählt, dass er und Coop eine Kassette unter den Batterien entdeckt hatten. Ich habe erst später zwei und zwei zusammengezählt, als mir einfiel, dass der Roboter ein Geschenk von Paul war. Er hat ihn ihm drei Tage vor seinem Tod geschenkt.” Sie machte eine Pause. Als sie weitersprach, war ihre Stimme wieder von Sorge geprägt. “Ich habe mehrmals versucht, meinen Vater anzurufen, aber es war immer besetzt. Ich bin jetzt gerade auf dem Weg zur Hütte.”

Steve klemmte das Telefon zwischen Kopf und Schulter, schaltete die Innenbeleuchtung ein und holte die Karte aus dem Handschuhfach, die er bei seiner Ankunft in Monterey gekauft hatte. “Wo bist du jetzt, Julia?”

Er erwartete fast, dass sie ihn zur Hölle wünschte, aber das war nicht der Fall. “Ich bin gerade von der 101 in westlicher Richtung auf die Route 18 abgebogen”, sagte sie nach kurzem Zögern. “Ich schätze, dass ich bis zur Hütte noch etwa eine halbe Stunde brauche.”

Mit dem Finger verfolgte Steve die Strecke. “Okay, ich fahre jetzt ab.” Er wendete den Landrover. “Unterwegs ist nicht viel los, also sollte ich ziemlich schnell da sein.”

“Steve?” Ihre Stimme bebte. “Du glaubst doch nicht, dass … etwas passiert ist, oder? Ich meine, ich habe jetzt bestimmt noch vier Mal angerufen, aber es ist noch immer besetzt.”

Das machte ihm auch Sorgen. Coop würde nicht den Hörer danebenlegen. Er wusste, dass er unterwegs war und möglicherweise nach dem Weg fragen würde. Das konnte er ihr aber nicht sagen, erst recht nicht in ihrer momentanen Verfassung. “Vielleicht hat er den Hörer ausgehängt”, sagte er so überzeugt, wie es nur ging. Als er dann bemerkte, was ihr wirklich Sorgen machte, fügte er hinzu: “Er hat nichts getrunken, Julia. Er hat mich erst vor ein paar Minuten angerufen und war völlig nüchtern.”

Er hörte sie erleichtert aufatmen. “Danke, Steve.”

Nachdem sie aufgelegt hatte, rief er Hammond zu Hause an.

“Sie können einem so richtig schön auf die Nerven gehen, Reyes, wissen Sie das?” murmelte der Detective. “Was ist denn jetzt schon wieder los?”

Steve hatte sich in den vergangenen drei Wochen an Hanks ruppige Art gewöhnt und ignorierte sie einfach. Mit wenigen, präzisen Sätzen ließ er ihn wissen, was Coop ihm gesagt hatte, dann fügte er an: “Julia versucht seit einer halben Stunde, ihren Vater zu erreichen, aber es ist ständig besetzt. Sie macht sich Sorgen, und ich ebenfalls. Coop würde nicht den Hörer danebenlegen, wenn er weiß, dass ich anrufen könnte, um nach dem Weg zu fragen.”

Am anderen Ende der Leitung war ein Seufzen zu hören. “Okay, okay, wo ist diese verdammte Hütte?”

Coop kam langsam zu Bewusstsein. Sein Gesicht ruhte auf einer Lage Piniennadeln. Vorsichtig fasste er sich an den Hinterkopf und stöhnte leise auf, als er einen stechenden Schmerz spürte.

Zum Glück hatte der Schlag ihn nicht frontal getroffen, so dass er keine ernsthaften Verletzungen hatte verursachen können. Allerdings war er kräftig genug gewesen, um ihn außer Gefecht zu setzen.

Als er sich sicher genug fühlte, um aufzustehen, hielt er sich am Geländer der Terrasse fest und zog sich hoch.

Von dieser Stelle aus konnte er in die Hütte sehen, er erkannte den Kamin, in dem ein paar Scheite glühten, die mit Holz verkleideten Flächen, das braune Sofa und die Sessel.

Zokor stand auf dem Spieltisch, wo Andrew ihn zurückgelassen hatte. Rund um den Roboter verstreut lagen die sechs Kassetten.

Ein Mann in dunkler Hose und schwarzem Parka durchsuchte leise und methodisch jeden Winkel im Zimmer. Auch wenn die rechte Hand zum Teil verdeckt war, konnte Coop erkennen, dass sie eine Pistole hielt.

Gerade drehte sich der Eindringling um, doch noch bevor sein Gesicht komplett zu sehen war, brachte sich Coop in Sicherheit.

Der Mann war Frank Walsh.