VIERUNDZWANZIG

DAS ZIMMER IN der Spitze des Turmes war groß und achteckig. Der Raum wurde von einem goldenen Licht erleuchtet, dessen Quelle man nicht genau erkennen konnte und das sich geheimnisvoll in den Scheiben der großen, in die Wände eingelassenen Nischen spiegelte. Durch ein von blauen Vorhängen eingerahmtes Fenster sah man hinaus in die Nacht. Auch in diesem Raum bestand der Fußboden aus Marmoreinlegearbeiten, die einen Zweikampf darstellten. Verblüfft erkannte Morosilvo in den Steinbildern Dan Rees elegante Gestalt, in Rüstung und mit einem Schwert in der Hand, die mit Kentar, dem Gott des Krieges und der Kraft, kämpfte, der so hochgewachsen, blond und strahlend war, wie es eben nur ein Gott sein konnte.

Während sich die großen Bronzetüren absolut lautlos öffneten, betrat Fèlruc den Raum. Trotz seines riesigen Körpers wirkte er alles andere als plump. Dan Ree folgte direkt hinter ihm mit erhobenem Haupt und auch die Gefährten kamen ihm nach: sieben Wesen aus sieben verschiedenen Völkern, die nur ihre schlichte Kleidung und der bewundernde Ausdruck auf dem Gesicht verband. Der Magus, der weiterhin Ardrachan trug, wirkte völlig unberührt von der Situation. Schließlich blieb Fèlruc in der Mitte des Raumes stehen und die Übrigen bildeten einen Kreis um ihn. Neugierige Blicke wanderten zu den verglasten Nischen, in denen glänzende Rüstungen standen und Schwerter und Dolche mit ziseliertem Griff lagen.

Shaka schüttelte als Erster die Verwunderung ab und sagte: »Das ist ja eine Waffenkammer.«

Fèlruc sah ihn mit seinen Augen an, die so alt schienen wie die Welt, und kam langsam auf ihn zu. »Ja, du hast recht, Shaka Alek. Doch eine, wie es sie an keinem anderen Ort in allen acht Reichen geben könnte. Die Waffen, die ihr hier seht, hat Kentar mit seinem Hammer in den ewigen Flammen des Feuermeers geschmiedet, dann wurden sie in Valdos Wassern gehärtet und mit Talons Künsten und durch Anmans Hand geweiht. Keine menschliche Hand hätte diese Waffen jemals schaffen können. Jahrtausendelang haben sie in diesem Raum auf diejenigen gewartet, die bestimmt waren, sie in Besitz zu nehmen. Heute ist dieser Tag nun gekommen.«

»Und das sollen wir sein?«, fragte Thix in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Begeisterung. Zu anderer Zeit an einem anderen Ort hätte niemand diesen Worten Glauben geschenkt. Doch in diesem von einem unwirklichen Licht erhellten Zimmer, in dieser Festung, diesem märchenhaften Ort, unter dem wohlwollenden Blick ihres Wächters konnte das, was man ihnen eben eröffnet hatte, keine Lüge sein. »Die Götter haben diese Waffen für uns geschmiedet?«

Dan Ree nickte ermutigend. »Seht sie euch ruhig genauer an«, forderte er sie mit einer weit ausholenden Geste auf. »Seht sie euch an und zweifelt nicht länger.«

Morosilvo löste sich als Erster aus der Erstarrung und ging auf die nächstgelegene Nische zu. Obwohl dieser Ort ihm und den anderen instinktiv Respekt einflößte, musste er nun einen Fluch unterdrücken. Die Gefährten kamen zu ihm, drängten sich um ihn und brachen unter dem amüsierten Blick Dans und dem strengen des Magus in weitere Überraschungsschreie aus.

Die in den Nischen aufbewahrten Waffen waren die schönsten, die man jemals gesehen hatte. Sie waren mit Silber und Gold verziert und so fein gearbeitet, wie sie nicht einmal der tüchtigste Schmied hätte fertigen können. Trotzdem kamen sie ihnen seltsam vertraut vor, und nachdem sie einen Augenblick lang nicht wussten, warum, begriffen die Gefährten: Diese Waffen sahen aus, als wären sie eigens für sie geschaffen. Dort in der Ecke lagen ein Paar Bolas und eine Spitzhacke mit Bronzegriff, eine genaue Kopie von Pelcus’ Waffen, nur noch viel besser. Sie sahen einen Krummsäbel, der eigens dazu geschaffen schien, in Shakas Scheide zu passen, zwei Schwerter, die denen von Morosilvo und Thix vollkommen glichen, zwei Kurzschwerter mit geflammter Wellenklinge wie die, die Ardrachan besaß. In einer Ecke stand ein riesiger Säbel wie der von Farik, in dessen Knauf Rubine eingelassen waren und dessen Klinge keine Kerben aufwies. Außerdem gab es eine Reihe von Wurfmessern mit glänzenden Klingen aus Silber, die genau in Arinths Schulterriemen gepasst hätten. Dazu Kettenhemden aus feinstem Gewebe, die leicht und widerstandsfähig sein mussten und von denen eines Ametista auf den Leib geschneidert schien.

Dies war nicht nur die beste Ausrüstung, die ein Trupp Krieger sich erträumen konnte, diese Waffen waren sogar eigens für sie erdacht und gefertigt worden. Ametista drehte sich um und warf Dan einen beinahe erschrockenen Blick zu, worauf der Unsterbliche ihr mit einer ermutigenden Geste antwortete.

»Glaubt ihr es nun?«, fragte er. »Glaubt ihr nun, dass nur ihr und niemand anderer diese Mission erfüllen muss? Kentar wusste das, als er die Waffen schmiedete, Talon wusste es, als er sie mir anvertraute. Der Magus hat die Wahrheit gesagt: Ihr seid die Richtigen. Legt jeden Zweifel ab, denn Zweifel könnt ihr euch von jetzt an nicht mehr erlauben.«

»Da-das ist ja unglaublich«, stammelte Ametista fassungslos.

»Es ist wahr«, erwiderte Dan Ree. Er fuhr mit einem Finger am Rahmen der Glasscheibe entlang, die die Nische verschloss, worauf sie verschwand.

Morosilvo streckte zögernd eine Hand nach dem Schwert aus, das seines auf das Beste ersetzen konnte, doch erst als er das zustimmende Nicken des Unsterblichen bemerkte, wagte er auch, danach zu greifen. Er schloss die Finger fest um den vergoldeten Knauf, und der lag so warm in seiner Hand, als wäre Leben in ihm. Morosilvo war nie mit Magie vertraut gewesen, doch selbst er spürte, wie sich eine geheime Kraft in seinen Arm entlud – eine Kraft, die sich in dem Metall verbarg und unendlich stark sein musste. Er packte das Schwert mit größerer Entschlossenheit und probierte es aus. Es war vollkommen, jede Bewegung wirkte schnell, elegant, natürlich, beinahe als führe die Waffe seine Hand und nicht umgekehrt. Vielleicht war es ja wirklich so. Überrascht senkte er das Schwert. »Ich habe noch nie so ein Schwert gesehen«, erklärte er. »Es wirkt, als wäre es schwerelos, und es kostet keinerlei Kraft, es zu führen. Und dennoch macht es den Eindruck, als würde es kraftvoller zuschlagen als jedes andere.« Nachdenklich betrachtete er, wie sich das Licht kurz auf der Klinge spiegelte und dann wieder verschwand. »In der Hand eines Kriegers, der es zu benutzen weiß, wird es unbesiegbar sein.«

»Deshalb musste es hier verborgen bleiben, bis es gebraucht wurde«, fügte Fèlruc mit sanfter, tiefer Stimme hinzu. »Wenn diese Waffen in falsche Hände geraten wären, hätte jede von ihnen Verderben bringen können. Doch hüte dich davor, Morosilvo, dich mit dem Schwert allmächtig zu fühlen. Dies Schwert in deiner Hand kann dich stärker machen als jeden Krieger der acht Völker, aber trotzdem entscheidet immer noch die Hand den Ausgang des Kampfes, der Verstand des Kriegers und dessen Mut. Außerdem gehören die Feinde, gegen die ihr kämpft, keinem eurer Völker an. Die Gremlins verfügen über große dunkle Macht, sie kennen kein Mitleid, und nicht einmal die Kraft von Kentars Schmiedekunst und Talons Magie allein wird genügen, um sie zu besiegen. Ihr müsst nicht nur mit anderen Waffen kämpfen, ihr müsst euch selbst verändern. Aus diesem Grund seid ihr hier: um die zu werden, die ihr noch nicht seid.«

»Aber das könnte Monate dauern!«, rief Arinth aus. »Nicht dass ich das bedaure, aber es könnte doch sein, dass wir zu lange brauchen, um uns vorzubereiten, und dann könnte alles schon zu spät sein! Sie haben uns auf dem Weg hierher angegriffen, wir alle haben gesehen, wie schnell sie sind und vor allem wie stark. Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken, wie viel Zeit und Mühe es kosten würde, um sich mit ihnen messen zu können!« Dabei sah er Dan Ree herausfordernd an.

Der Unsterbliche zuckte nur mit den Schultern, als wüsste er genau, dass der Gnom mit seinen Worten recht hatte, und als glaube er trotzdem, dass dies vollkommen unwichtig war. »Aber wir haben doch alle Zeit der Welt«, sagte er schließlich.

Als ihn die Gefährten verblüfft anstarrten, erklärte er: »Adamantina ist ein Ort außerhalb von Raum und Zeit. Hier zählt die Zeit draußen in der Welt nicht, und das, was hier drinnen vorgeht, zählt dort nicht. Wenn ihr die Festung verlasst, werdet ihr die Welt genauso vorfinden, wie ihr sie verlassen habt, als wären inzwischen kein Tag und keine Nacht vergangen. Trotzdem wird eure Unterweisung nur begrenzte Zeit dauern. Fèlruc oder mir kann die Zeit nichts anhaben, euch allerdings schon, selbst wenn ihr sie hier in Adamantina verbringt. Und wenn ihr ewig in der Festung bliebet, würdet ihr nicht unsterblich. Verstehst du, Thix Velinan?«, schloss er ein wenig vorwurfsvoll, und Thix, der bei den Worten über die Zeit besonders hellhörig geworden war, wendete sich hastig ab.

» Wir werden«, erklärte der Magus ernst, »deshalb so kurz wie möglich hier verweilen.«

Daraufhin erhob sich unter den Gefährten weiteres Erstaunen.

»Warum denn?«, meinte Farik verblüfft. »Wenn die Zeit in der Außenwelt nichts mit der zu tun hat, die wir hier brauchen, warum sollten wir uns dann beeilen? Wir könnten es doch wesentlich besser machen, wenn wir länger hierblieben.«

Doch der Magus schüttelte den Kopf. »Sei dir dessen nicht so sicher, Farik Rilkart. Neben zahllosen Vorteilen hat Adamantina auch einen Nachteil: Es ist der sicherste Ort überhaupt. Und nichts schadet den Fähigkeiten eines Kriegers mehr als eine Ruhepause an einem sicheren Ort. Man lernt schnell, nicht mehr wachsam genug zu sein, man entspannt sich und muss sich nicht mehr so anstrengen wie sonst. Einer der Gründe dafür, warum kaum jemand in den acht Reichen so zu kämpfen verstehen wie ihr, ist, dass es in eurem Leben nur wenige Momente der Sicherheit gegeben hat. Ihr habt euch daran gewöhnt, immer auf der Hut zu sein und schwierige Situationen zu meistern, und genau das wird euch später nützlich sein. Das will ich nicht aufs Spiel setzen. « Er schien nachdenklich und wirkte plötzlich traurig. »Doch jetzt sind die Reiche gezwungen, selbst zu kämpfen. Und wenn die Lage so verzweifelt ist, wird man entweder stark … oder man stirbt.«

Pelcus schnaubte übertrieben dramatisch. »Na, war ja klar, dass da ein Haken sein musste.«

Arinth stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Los, Kopf hoch, alter Langbart«, flüsterte er ihm zu. »Denk mal an die Leute, die jetzt nicht in einer unerreichbaren Festung sind und vielleicht kurz vor einem Angriff der Gremlins stehen.«



Alfargus Sulpicius war sich absolut sicher, dass in den letzten Monaten in den acht Reichen und vor allem in seinem eigenen Leben alles schiefgelaufen war. Die Völker waren durch die ständige Furcht vor einem Angriff gebeugt, sein Vater war nicht bei ihm, der König des Menschenreiches schwer verwundet, seine Schwester einem Verbrecher versprochen, wovon General Asduvarlun nicht die mindeste Ahnung hatte! Die Stadt der Schwarzen Hexer widerstand gerade noch den Angriffen, ihr eigener Vorposten in Carith Shehon wurde ebenfalls bedroht, er führte die Verteidigungstruppen an, und zwar gemeinsam mit der Person, die er am wenigsten auf dieser Welt mochte, und als ob dies alles noch nicht genügte, stand gerade ein mürrischer Zwerg neben ihm, der entschlossen war, ihrem unfassbaren Feind eine Sprengladung nachzuwerfen.

Die Sonne ging schon unter. Und selbst wenn die letzten beiden Nächte ruhig verlaufen waren und es keine Angriffe gegeben hatte, fürchtete Alfargus immer noch diese Zeit des Tages. Er machte sich nichts vor: Die Gremlins hatten sich nicht zurückgezogen, und die Tatsache, dass sie sich zwei Tage nicht gezeigt hatten, beunruhigte ihn nur noch mehr. Das konnte nur eines bedeuten: Sie bereiteten einen neuen Angriff vor, der wahrscheinlich schlimmer werden würde als die bisherigen. Ulf Ghandar schien sich sicher zu sein, dass seine Pläne funktionieren würden, doch Alfargus setzte nicht viel Vertrauen in die seltsame Waffe der Zwerge. Und es tröstete ihn auch nicht, dass Elirion Fudrigus endlich einmal mit ihm einer Meinung war.

»Ein sehr schöner Sonnenuntergang, nicht wahr, Prinz Alfargus ?«, fragte Elirion gerade in dem Moment, als er an ihn dachte. Alfargus drehte sich um und sah, wie der Menschenprinz sich auf dem Mauerwall näherte, zu seiner Rechten den ombresischen Hauptmann Huninn und zu seiner Linken den schweigsamen Herg. Elirion war in Schwarz gekleidet, und es sah beinahe aus, als trage er Trauer. Vielleicht hatte er damit sogar recht – von seinem Vater fehlte jede Nachricht. Der schwarze Stoff bildete einen starken Kontrast zu seinem blassen Gesicht, den hellblonden Haaren und seinen hellblauen, eiskalten Augen. Elirion deutete auf das flammende Rot des Sonnenuntergangs hinter den Zinnen. Es war ein atemberaubender Anblick.

»Wie schade, dass wir ihn nicht leichten Herzens genießen können«, sagte Alfargus. »Du müsstest einmal Sonnenuntergänge bei uns im Elbenreich über dem Meer sehen.«

Elirion kam zu ihm und entfernte sich ein wenig von seinen ständig wachsamen Begleitern. »Heute Nacht werden sie kommen, Alfargus, sie haben lange genug gewartet.«

Alfargus lächelte erschöpft. »Das habe ich mir auch schon gedacht. «

Die Berge am Horizont hatten die untergehende Sonne in ihren Schluchten verschluckt. Man sah noch letzte rötliche Streifen zwischen den Wolken. Auf den Mauern von Carith Shehon warteten zitternd Soldaten aus allen acht Völkern darauf, dass etwas geschah – oder nicht, was vielleicht noch schlimmer war. Sie hielten ihre Piken, Bogen, Schwerter fest umklammert, doch was sollten sie damit schon ausrichten? Selbst das Schwert an Alfargus’ Seite hing nutzlos herab.

Die Festung lag weit entfernt, jenseits der Straßen der schweigenden, schutzlosen Stadt. Ihre Bewohner hatten sich wegen der von den fremden Kommandanten verhängten Ausgangssperre in ihren Häusern verkrochen. Vielleicht hätten auch Alfargus und Elirion sich in der Festung verbarrikadieren sollen, in die ihr Feind erst nach längerer Zeit vordringen würde. Aber stattdessen standen sie hier Seite an Seite auf den Mauern. Wer hätte je geahnt, dass ausgerechnet sie beide sich dieser Katastrophe entgegenstellen würden – und dass sie einander Rückendeckung geben mussten?

»Vielleicht kommen sie ja nicht«, sagte Alfargus leise, während der Himmel immer dunkler wurde und schon die ersten Sterne am Firmament erschienen.

Elirion zuckte mit den Schultern. »Das glaubst du ja selbst nicht!«

Die Stimme einer Nachtwache auf einem fernen Turm durchdrang klar die Stille und wirkte wie eine Antwort.

»Seht!«, rief der Mann und sie beobachteten, wie er im Gegenlicht auf einen Punkt am Horizont deutete. »Dort hinten! Bei den Göttern, schaut dorthin!«

Sie folgten seinem Ruf: Alle Köpfe auf der Mauer wandten sich gleichzeitig dem Punkt zu, auf den sein Arm zeigte. Alfargus bereute sofort, hingesehen zu haben.

Ein langer Zug näherte sich den Mauern. Ob es sich um Lebende oder Tote handelte, ließ sich nicht mit Gewissheit sagen, doch ganz bestimmt wurden sie von einer äußeren Kraft gelenkt, denn sie bewegten sich wie Marionetten. Zwischen ihnen zuckten die sich ständig verändernden schwarzen Körper der Gremlins auf.

Zweifellos traf sie dieser neue Einfall ihres Feindes völlig überraschend. Und genauso sicher war, dass hinter den Gremlins jemand stand, der sie anführte. Ein unbekannter, mächtiger Feind.

Alfargus fragte sich nur eines: Waren sie in der Lage, einer solchen Bedrohung entgegenzutreten?

»Ich glaube, wir haben jetzt alle wiedergefunden, die jemals aus den acht Reichen verschwunden sind«, bemerkte Elirion mit dem schwarzen Humor eines Mannes, der sich nicht der Verzweiflung überlassen will und dennoch Mühe hat, ihr nicht nachzugeben.

Ja, sie hatten sie wiedergefunden, und wenn nicht alle, so zumindest einen großen Teil. Die verschwundenen Schwarzen Hexer, die Gnomen, die auf der Großen Mauer Wache gehalten hatten, die geflohenen Goblins, deren Verbleiben ungeklärt war, und die Soldaten, die im Register des Menschenreiches als Deserteure geführt wurden … Alle standen sie dort im Halbdunkel aufgereiht. Alfargus spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg.

Elirion legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Zumindest sind wir bei denen hier ganz gewiss, dass sie einen Körper haben«, gab er zu bedenken.

Der Hauptmann der Ombrier befahl seinen Bogenschützen, Pfeile aufzulegen.

»Ich möchte wissen, wer sie lenkt«, erwiderte Alfargus und starrte auf dieses Heer von Marionetten, das sich mit leeren Gesichtern auf die Mauern zubewegte. »Und wie er das anstellt.«

» Wir werden sie niederstrecken, bevor sie uns erreichen«, sagte Elirion entschlossen. Er gab Huninn ein Zeichen, der daraufhin schnell seinen Bogenschützen zurief: »Erste und zweite Linie der Bogenschützen! Zielen!«

Einige Hände zitterten, als sie die Sehnen ihrer Bogen gegen den unerwarteten und gleichzeitig so vertrauten Feind spannten, und der Salve ihrer Pfeile fehlte es an Durchschlagskraft.

Genau wie ich befürchtet habe, dachte Alfargus wütend, während einige ihrer Feinde in der ersten Reihe zu Boden fielen, andere wieder aufstanden und sich die Pfeile aus den Wunden zogen. Andererseits, wie hätte er seinen Soldaten Vorwürfe machen sollen? Höchstwahrscheinlich hatten viele der Bogenschützen lange keine Nachricht von ihren Verwandten mehr bekommen und fürchteten sich nun davor, auf sie zu schießen.«

Elirion stieß Alfargus mit dem Ellenbogen an. »Die scheinen gar nicht zu bluten«, sagte er. »Schau sie dir an.«

Alfargus sah genauer hin. Viele der zu Boden gefallenen Feinde standen bereits wieder und der zweite Angriff von den Mauern schien sie ebenfalls kaum aufzuhalten. Im Schein der Fackeln wirkte es nicht so, als wären ihre Gewänder mit Blut befleckt – das hätte doch so sein müssen?

»Ich glaube, ich weiß, warum sie kein Blut verlieren! Sie sind schon tot«, flüsterte Alfargus zurück und fühlte, wie ihm die Angst die Kehle emporstieg. »Bei Talon, ich brauche einen Magier ! Elirion, such mir einen Magier!«

Elirions Mund verzog sich zu einem finsteren Lächeln. »Na, den müssen wir wenigstens nicht groß suchen. Huninn, komm doch mal her. Herg, lass die Schützen weiter schießen, anscheinend nützt es nicht viel, aber es ist besser als nichts.«

Herg ging schweigend an den Mauern entlang. Alfargus hörte, wie er mit der rauen Stimme eines Mannes, der viel zu lange stumm war, den Bogenschützen Befehle zurief. Dann erschien der ombresische Hauptmann an den Zinnen und stellte sich zwischen ihn und Elirion.

Der Prinz des Menschenreiches sah ihn fragend an. »Hast du sie gesehen?«, fragte er nur. Die Dämmerung war nun vollkommen in Dunkelheit übergegangen, außer den brennenden Fackeln entlang der Mauern gab es nur das schwache Licht der Sterne und des Halbmondes, der sich oben am Himmel so klar abzeichnete, als hätte man ihn mit einem Beil in der Mitte geteilt. Alles war so unwirklich, wie in einem Traum, nein, wie in einem Albtraum.

Huninn Skellensgard nickte. »Die Toten sind auferstanden«, sagte er seufzend. »Das kam in letzter Zeit in den acht Reichen schon einige Male vor, und leider sind die Gremlins nicht die eigentliche Ursache, Prinz Elirion. Ihre Macht ist von anderer Art. Für dieses Grauen gibt es nur eine Erklärung: Es muss einen schwarzen Magier unter ihnen geben, einen Nekromanten – einen Totenbeschwörer. Übles Pack, aber wenigstens muss er ein Wesen aus den acht Reichen sein.«

»Und das bedeutet, wir können ihn vernichten«, schloss Elirion mit einer gewissen grausamen Befriedigung. »Endlich ein Feind, den wir töten können. Huninn, wie erkennen wir diesen Nekromanten ?«

»Ich nehme nicht an, dass er das schwarze Gewand seiner Zunft tragen wird«, sagte der Ombrier spöttisch. »Aber wenn ihr jemanden seht, der mit erhobenen Armen auf einer Anhöhe steht und dessen Hände ein violettes Leuchten umgibt, dann ist es der Gesuchte, jede Wette.«

Elirion drehte sich ruckartig um. »Herg, befiehl deinen Bogenschützen sofort, auf jeden zu schießen, der Huninns Beschreibung entspricht!«

»Habt ihr gehört, was Prinz Elirion gesagt hat, Leute? Also, Augen auf!«

»Ich glaube kaum, dass das viel nützen wird«, entgegnete Alfargus. Elirion sah ihn überrascht an, als hätte er seine Anwesenheit völlig vergessen. Alfargus stand immer noch an die Mauer gelehnt. »Während ihr euch damit amüsiert, irgendeinen Kerl auf einem Fels zu suchen, haben diese Toten schon unsere Mauern erreicht.«

» Verdammt, du hast recht«, rief Elirion. »Meinst du, sie schaffen es, hier einzudringen?«

»Ich denke, wir sollten ihnen nicht die Zeit lassen, es zu versuchen. « Alfargus presste die Lippen aufeinander. »Oberst Ghandar, ich fürchte, mir bleibt keine Wahl. Sagt Euren Soldaten, sie sollen die Bombarde abfeuern.«

Ulf Ghandar bemühte sich erst gar nicht, seine Begeisterung zu verheimlichen. Er ging zu den Kanonieren hinüber und schrie ihnen irgendetwas in Zwergensprache zu, worauf die sich an der Waffe zu schaffen machten.

»Ich bin ganz und gar nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, sagte Alfargus und sah Elirion an.

Doch zu seiner Überraschung antwortete ihm Huninn. »Es könnte sogar eine ausgezeichnete Idee sein. Ich habe die Waffen der Zwerge in Aktion gesehen, und sie erzielen genau die Wirkung, die wir jetzt brauchen. Ich glaube nicht, dass die Bombarde den Gremlins schaden kann, aber sie kann die Toten vernichten, und die sind im Moment unser größtes Problem.«

Alfargus fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Er war erschöpft. »Dann sollen sie sie eben einsetzen.«

Ulf Ghandar schrie einen Befehl und die Bombarde feuerte.

Alfargus wurde nicht zum ersten Mal Zeuge einer Explosion. Er hatte schon diverse Male magischen Explosionen beigewohnt – natürlich auch der großartigen Sprengung, mit der Thix Velinan bei ihrem ersten Versuch, seiner habhaft zu werden, entkommen war. Trotzdem blieb ihm nun der Mund offen stehen: Ein großer Feuerblitz kam in einem Funkenregen aus der Kanone geschossen, zog wie ein Komet über den Nachthimmel und landete mit einem ohrenbetäubenden Knall mitten unter ihren Feinden.

Diese wichen zurück.

Im Halbdunkel ließ sich nur schwer erkennen, was geschehen war, aber man konnte sich denken, dass das Geschoss ein großes Gemetzel angerichtet hatte. Sogar die Bogenschützen waren zu verwirrt, um ihre Pfeile abzuschießen. Die Mehrheit von ihnen hatte noch nie mit einer Feuerwaffe zu tun gehabt. Ulf Ghandar stand aufrecht auf seinem Posten, die Hände in die Hüften gestützt, und strahlte vor Stolz.

Alfargus war einen Moment lang verblüfft, doch dieses Gefühl wich der Begeisterung. »Ja!«, rief er triumphierend aus und konnte sich kaum zurückhalten, Elirion Fudrigus zu umarmen. »Jetzt haben wir endlich eine Waffe, mit der wir sie stoppen können. Oberst Ghandar, feuert noch mal! Und alle Magier, die wir haben, zu mir auf die Mauern! Wir müssen diesen Nekromanten aufspüren!«

»Immer mit der Ruhe! Die Einsatzfähigkeit unserer Bombarde ist begrenzt«, brummte Ghandar.

In Alfargus’ Augen blitzte es auf. »Oberst Ghandar, Ihr müsst es schaffen, ein wenig von Eurem Sprengstoff auf den Pfeilspitzen anzubringen. Glaubt Ihr, Ihr könnt das schaffen?«

»Für einen Zwerg ist nichts unmöglich. Aber jetzt lasst uns bitte unsere Arbeit machen«, sagte Ghandar und kehrte zu den drei Soldaten zurück, die ungerührt neben der Kanone standen.

Kleine Grüppchen von Zauberern verteilten sich entlang der Mauern. Von der Stelle, die die Bombarde getroffen hatte, erhob sich immer noch Rauch, die Toten hatten an Boden verloren. Sogar die Gremlins, die zwischen ihnen hin und her huschten, schienen sich zurückgezogen zu haben, und die Bogenschützen feuerten unter Hergs Kommando ermutigt eine neue Salve ab.

»Wenn wir so weitermachen, können wir es bis zum Morgen schaffen«, sagte Alfargus vorsichtig.

» Wir könnten sie sogar besiegen«, erwiderte Elirion überzeugt.

Erneut feuerte die Kanone und verursachte ein weiteres Massaker in den feindlichen Reihen. Die Bogenschützen vollendeten das Werk mit ihren Pfeilen, und die Magier schleuderten Zauber durch die Luft, die die Nacht in vielen Farben erhellten. Alfargus überraschte sich dabei, dass auch er für einen Moment an den Sieg glaubte. Carith Shehon konnte mehr, als nur den Angriffen standzuhalten.

»Sie besiegen!«, wiederholte Alfargus und lachte, ohne zu wissen, warum. »Sie besiegen, warum eigentlich nicht? Die Allianz der acht Reiche wird den Feind zurückschlagen! Genau wie in den Legenden, Elirion, wie in den Erzählungen aus den längst vergangenen Zeitaltern. Wenn unsere Vorfahren es geschafft haben, warum nicht auch wir? Feuert noch einmal, Oberst Ghandar ! Ich kann es gar nicht abwarten, unsere neuen Pfeile auszuprobieren !«

Ohne groß nachzudenken, gab der Oberst den Befehl. Er wirkte etwas abwesend, wohl weil er irgendwo in der Dunkelheit etwas durch den Rauch und das Feuer und Getümmel gesehen haben musste, denn er rannte aufgeregt die Mauern entlang und zeigte über die Brüstung auf einen fernen Punkt. »Prinz Alfargus! «, rief er. »Prinz Elirion! Bei Kentars Hammer, schaut dorthin! «

Die Blicke der Prinzen folgten seiner Hand in das absolute Chaos, aber es war wirklich schwierig, inmitten der Schreie, des Rauchs und der vielen Kämpfenden auf und unterhalb der Mauern etwas zu sehen.

Oberst Ghandars Arm war auf irgendetwas im Chaos der Feinde gerichtet. »Schaut dorthin!«, wiederholte der Zwerg mit dröhnender Stimme.

Alfargus und Elirion wollten gerade, gefolgt von Huninn, ihren Platz verlassen und zu ihm gehen, da schoss die Kanone erneut.

Oder besser gesagt: Sie explodierte.

THARKARÚN – Krieger der Nacht
e9783641062927_cov01.html
Section0001.html
e9783641062927_toc01.html
e9783641062927_fm01.html
e9783641062927_ded01.html
e9783641062927_fm02.html
e9783641062927_fm03.html
e9783641062927_fm04.html
e9783641062927_fm05.html
e9783641062927_p01.html
e9783641062927_c01.html
e9783641062927_c02.html
e9783641062927_c03.html
e9783641062927_c04.html
e9783641062927_c05.html
e9783641062927_c06.html
e9783641062927_c07.html
e9783641062927_c08.html
e9783641062927_c09.html
e9783641062927_c10.html
e9783641062927_p02.html
e9783641062927_c11.html
e9783641062927_c12.html
e9783641062927_c13.html
e9783641062927_c14.html
e9783641062927_c15.html
e9783641062927_c16.html
e9783641062927_c17.html
e9783641062927_c18.html
e9783641062927_c19.html
e9783641062927_c20.html
e9783641062927_c21.html
e9783641062927_c22.html
e9783641062927_c23.html
e9783641062927_c24.html
e9783641062927_c25.html
e9783641062927_c26.html
e9783641062927_c27.html
e9783641062927_c28.html
e9783641062927_c29.html
e9783641062927_c30.html
e9783641062927_c31.html
e9783641062927_p03.html
e9783641062927_c32.html
e9783641062927_c33.html
e9783641062927_c34.html
e9783641062927_c35.html
e9783641062927_c36.html
e9783641062927_c37.html
e9783641062927_c38.html
e9783641062927_c39.html
e9783641062927_c40.html
e9783641062927_c41.html
e9783641062927_c42.html
e9783641062927_c43.html
e9783641062927_c44.html
e9783641062927_c45.html
e9783641062927_c46.html
e9783641062927_c47.html
e9783641062927_c48.html
e9783641062927_c49.html
e9783641062927_c50.html
e9783641062927_c51.html
e9783641062927_c52.html
e9783641062927_c53.html
e9783641062927_c54.html
e9783641062927_c55.html
e9783641062927_c56.html
e9783641062927_c57.html
e9783641062927_c58.html
e9783641062927_c59.html
e9783641062927_p04.html
e9783641062927_c60.html
e9783641062927_c61.html
e9783641062927_c62.html
e9783641062927_c63.html
e9783641062927_c64.html
e9783641062927_c65.html
e9783641062927_c66.html
e9783641062927_c67.html
e9783641062927_c68.html
e9783641062927_c69.html
e9783641062927_c70.html
e9783641062927_c71.html
e9783641062927_bm01.html
e9783641062927_ack01.html
e9783641062927_cop01.html