EINUNDDREISSIG

DIE TORE SIND offen! Drinnen wird gekämpft, Herr!«

Dhannam erkannte zwar nicht, wer da geschrien hatte, doch er musste nur den Kopf heben und auf das inzwischen nahe Carith Shehon blicken, um zu erfahren, dass die Worte der Wahrheit entsprachen. Nach dem Entschluss, in die Stadt in den Bergen zurückzukehren, und ihrem Aufbruch aus Shilkar waren sie Tag und Nacht marschiert, und jetzt, nachdem sie endlich den Aufstieg zu dem unzugänglichen Berggipfel, auf dem Carith Shehon sich erhob, geschafft hatten, erwartete sie nicht etwa eine tröstliche Zuflucht, sondern Feuerblitze und Lärm.

Nachdem sie sich einen Eindruck von der Lage verschafft hatten, ließen sich weder Lay Shannon noch General Asduvarlun davon beeindrucken. Ersterer sammelte hastig eine große Zahl Schwarzer Hexer um sich, während der General nach hinten zu den Soldaten eilte, die den toten Zarak Fudrigus trugen. Er befahl ihnen, einen kleinen, ein wenig von der Stadt entfernten Vorposten zu errichten, wo sie die Leiche des Königs in Sicherheit bringen sollten.

Auf dem Rückweg an die Spitze des Zuges hielt Asduvarlun neben Gavrilus an, der bereits Aitia gezückt hatte und nur auf ein Wort zu warten schien, um der belagerten Stadt zu Hilfe zu eilen. Auch sein Sohn hatte zu seinem magischen Schwert gegriffen, aber selbst wenn er sich langsam an die pulsierende Wärme im Griff von Synfora gewöhnt hatte, fühlte er sich immer noch nicht ganz vertraut mit ihr und verabscheute weiterhin den Gedanken, kämpfen zu müssen.

»Ich begleite Euch in die Stadt, General«, verkündete Gavrilus entschlossen. »Die Gefahr hat für mich keine Bedeutung, mein Sohn ist dort und ich muss zu ihm.«

Asduvarlun seufzte. »Nun gut«, sagte er dann, obwohl man genau sah, dass ihn diese Entscheidung beunruhigte. »Aber ich muss Euch bitten, immer in meiner Nähe zu bleiben. Ich habe geschworen, Euer Leben auch um den Preis des meinen zu beschützen, vergesst das nicht.«

Gavrilus und Dhannam folgten ihm wortlos, während er zu dem schon um Lay Shannon versammelten Trupp stieß.

Der Ordensmeister trug seinen Stab aus Erlenholz über der Schulter und schien ungewöhnlich aufgeregt. »Vielleicht können wir so Rache für Shilkar nehmen, General«, sagte er. »Ganz bestimmt haben wir den Überraschungseffekt auf unserer Seite.«

Asduvarlun zog Ligiya mit metallischem Klirren aus der Scheide und die Klinge blitzte hell durch die Dunkelheit. »Allerdings sind wir nicht gerade viele«, erwiderte der Elbe. »Deshalb müssen wir gezielt zuschlagen. Der ungezügelte Wunsch nach Rache sollte uns nicht blenden, ehrwürdiger Shannon.«

Auf Shannons Gesicht erschien ein so breites Lächeln, dass es wie ein Riss aussah. »Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie ungezügelt verhalten, General.« Dann wandte er sich an die Hexer und seine Worte durchschnitten klar und deutlich die Luft. »Da unten warten die, die unsere Stadt mit Feuer und Schwert vernichtet und unseren Stolz untergraben haben. Ich wünsche mir, dass unsere Reaktion dem schweren Verlust entspricht, den wir erlitten haben. Man wird uns nicht um Gnade bitten, und selbst wenn, werden wir nicht wissen, was dieses Wort bedeutet.«

Das Schweigen, das auf diese kurze Ansprache folgte, wirkte beängstigender als jeder Kriegsruf, den Dhannam je gehört hatte.

»Vorwärts«, befahl Shannon.

Sie marschierten los. Dhannam warf einen Blick zurück und sah die magischen Feuer auf den Spitzen der Zauberstäbe der Hexer leuchten, die Zaraks Leichnam bewachten. Einen Augenblick lang bereute er, dass er nicht mehr unter ihnen in der relativen Sicherheit der Straße weilen durfte. Aber sein Platz war an der Seite seines Vaters und genau dort war er, als der König durch das große, weit geöffnete Tor Carith Shehon betrat. Um ihn tobten wilde Gefechte und man sah schnell, dass die Verteidiger der Stadt in Schwierigkeiten waren. Einigermaßen erstaunt bemerkte Dhannam, dass an der Seite der Gremlins Wesen kämpften, die ganz normale Bewohner der acht Reiche zu sein schienen. Erst nach kurzer Zeit fiel ihm auf, wie seltsam sie sich bewegten. Wie der verstorbene König der Menschen mussten auch sie ihren eigenen Willen verloren haben. Dhannam hätte sich nichts Schrecklicheres vorstellen können.

Lay Shannon wechselte leise ein paar Worte mit Asduvarlun, und Dhannam beobachtete, dass der General ihr Gespräch mit einem entschiedenen Nicken beendete, dann einige Hexer zu sich beorderte und sich ins Schlachtgetümmel stürzte. Ligiya schwang er hoch erhoben über seinem Kopf. Er und Gavrilus folgten ihm und nutzten die Verwirrung unter den Feinden, die nur schwer begreifen konnten, woher diese Gegenoffensive kam.

Asduvarlun fiel es immer leichter, sich von den Gremlins zu befreien. Ganz offensichtlich beherrschte er sein magisches Schwert immer besser und es zeigte ihm seine ungeheuren Möglichkeiten. Da sich das von Synfora nicht gerade sagen ließ, war Dhannam froh, dass er auf seinem Weg nur auf kämpfende Tote stieß. Shannon war irgendwo verschwunden und Dhannam befürchtete schon, so unglaublich dies auch klang, man hätte ihn getötet. Er war es gewöhnt, den Ordensmeister immer inmitten der Kämpfe zu sehen, sodass ihn seine Abwesenheit zutiefst entmutigte.

Er nutzte eine Gefechtspause, um sich nach Shannon umzusehen, als plötzlich ein schrecklicher Lärm, wie von einer Explosion, aus der Richtung des weit offen stehenden Tores kam. Instinktiv warf sich Dhannam auf Gavrilus, um ihn mit dem eigenen Körper zu schützen. Flammenzungen zuckten über ihren Köpfen in den dunklen Himmel hinauf, und Dhannam glaubte schon, dies sei eine weitere List der schwarzen Kreaturen. Doch er merkte schnell, dass die Flammen einen eigenen Willen zu besitzen schienen und ganz gezielt nur die Gremlins und die Toten trafen. Als er erstaunt aufschaute, sah er Shannon aufrecht hinter einem der großen Glutbecken neben dem Tor stehen. Dahinter hatten sich drei weitere Hexer aufgebaut und alle vier lenkten mit erhobenen Armen die Flammen gegen das Heer der Angreifer. Dhannam fragte sich, wie lange sie diesen Zauber aufrechterhalten konnten, der mächtig genug zu sein schien, um den Verteidigern von Carith Shehon wenigstens einen zeitweiligen Sieg zu bescheren. Sehr bald zerstreuten sich die letzten Feinde in den Straßen der Stadt, in dem Versuch, dem magischen Feuer zu entkommen, und die Verteidiger konnten, leicht verwirrt über die unerwartete Hilfe, wieder aufatmen.

Schließlich hörte er jemand rufen: »König Gavrilus! General Asduvarlun! Euch schicken die Götter!«

Es war Elirion Fudrigus, der jetzt, das Schwert in der Hand und einen langen schwarzen Bogen über der Schulter, auf sie zulief. Ihm auf dem Fuß folgte der hochgewachsene Mann mit den gelben Augen, der seine Leibwache zu sein schien. Elirions lange zusammengenommene Haare lösten sich überall aus dem Zopf und sein Gesicht war mit Ruß verschmiert. Er rannte zu ihnen und begrüßte sie hastig. Dann kam auch Lay Shannon hinzu.

»Die Lage auf der anderen Seite der Stadt hat sich praktisch normalisiert«, verkündete Elirion und lächelte erschöpft, aber glücklich. »Oberst Ghandars Zwergen und den ihm zugeteilten Bogenschützen ist es gelungen, die Gremlins mit Sprengstoff in Schach zu halten, das hat sich als äußerst nützlich erwiesen. Damit kann man sie zwar nicht töten, aber Verwirrung stiften, und sie weichen zurück.« Er schlug mit der Hand auf den Bogen, der über seiner Schulter hing und auf dessen Griff man sehr deutlich Zauberrunen sah. »Ich muss mich bei Alfargus bedanken, dass er ihn für mich gefunden hat.«

»Alfargus …!« Gavrilus wiederholte aufgeregt den Namen seines Sohnes, als hätten Elirions Worte ihn an etwas Lebenswichtiges erinnert. »Wo ist Alfargus?«

Elirion zuckte peinlich berührt mit den Schultern. »Das weiß ich nicht«, musste er zugeben. »Ich dachte eigentlich, er wäre hier. Wir haben uns getrennt, um so viele Gefechte wie möglich unter Kontrolle zu haben.« Nervös sah er sich um, als hoffe er, Alfargus würde aus irgendeiner Ecke auftauchen. Dann fragte er: »König Gavrilus, wo ist mein Vater?«

Shannon bewahrte Gavrilus davor, etwas zu erklären, was zu diesem Zeitpunkt nur schmerzhaft und unangebracht gewesen wäre, indem er Elirion ins Wort fiel. »Für Höflichkeiten ist später noch Zeit«, sagte er. »Jetzt müssen wir die letzten Feinde verfolgen, die ins Stadtinnere geflohen sind, und sie vernichten. Ich zweifle zwar nicht daran, dass der größte Teil inzwischen aus den Mauern nach draußen geflohen ist, wo wir sie unmöglich aufspüren können, aber wir sollten am besten so viele wie möglich von ihnen töten.«

Elirion nickte zustimmend. »Jemand führt sie an«, enthüllte er ihnen. »Ein Nekromant in einem seltsamen violetten Gewand und mit einem breitkrempigen Hut, aber er ist sehr rasch wieder verschwunden. Trotzdem könnte er irgendwo hier in der Nähe sein.«

»Das bezweifle ich«, rief Shannon. »Wenn er klug ist, und wer auch immer die Gremlins anführt, muss klug sein, wird er sofort die Flucht ergriffen haben, sobald er gesehen hat, dass ihr ihnen diesmal standhalten konntet. Trotzdem lohnt es sich, nach ihm zu suchen. Ich nehme die Hexer mit. Ihr fünf versucht, immer zusammenzubleiben. «

»Ihr braucht mich nicht zu belehren, wie ich auf einem so unsicheren Terrain kämpfen muss, ehrwürdiger Shannon«, erwiderte General Asduvarlun. »Es wäre gut, wenn jemand auch nach Ghandar und Skellensgard suchte, um sie über die neue Lage zu informieren.«

»Herg kann das tun«, schlug Elirion vor und sah kurz zu seinem schweigsamen Begleiter hinüber. »Er kommt sehr gut allein zurecht.«

Der wartete keine weiteren Befehle ab, sondern verabschiedete sich von Elirion nur mit einem Nicken, bevor er schnell in das undurchdringliche Gewirr der Straßen von Carith Shehon eintauchte.

»Wir sollten jetzt auch besser aufbrechen«, beschloss Asduvarlun. »Vorwärts, aber seid vorsichtig. Die Kreaturen könnten plötzlich aus jedem dunklen Winkel auftauchen und passt auf, falls wir auf Prinz Alfargus stoßen und er unsere Hilfe brauchen sollte.«

Sie gingen los und brauchten nicht lange, bis sie ebenfalls in das Labyrinth aus schwach erleuchteten Straßen eingetaucht waren, wo kleine Trupps von Soldaten noch letzte Gefechte gegen die wenigen in der Stadt verbliebenen Toten schlugen. Elirion fiel auf, dass deren Kraft stark nachließ, wenn sie einmal von ihrem finsteren Heer getrennt waren. Außerdem hatten die Soldaten herausgefunden, dass die Toten über einen gewissen Punkt hinaus keinen Widerstand leisten konnten, deshalb schlossen sie sich in Dreiergruppen zusammen und gönnten den Feinden keine Ruhe, bis sie sie vernichtet hatten.

Ab und zu wagte General Asduvarlun, mit seiner gebieterischen Stimme laut nach Alfargus zu rufen, ohne dass er je eine Antwort erhielt. Dhannam marschierte am Ende ihrer Gruppe, an der Seite seines Vaters und Lay Shannons, der ihnen den Rücken deckte. Irgendetwas quälte ihn, eine dunkle Vorahnung sagte ihm, dass Alfargus etwas Furchtbares zugestoßen sein musste, und obwohl er ihr auf keinen Fall Gehör schenken wollte, drängte sie sich ihm immer stärker auf, je mehr er versuchte, sie zu verjagen. Er kannte seinen Bruder wie kein Zweiter und wusste: Wäre er noch am Leben und unverletzt, hätte er als Erstes nach Ende der Gefechte die Führer der Streitmacht zu erreichen versucht. Wenn er das nicht getan hatte, hieß das, dass er aus irgendeinem Grund nicht dazu in der Lage war. Vielleicht lag er sogar schwer verwundet irgendwo in einer dieser verdammten Gassen und konnte sich nicht bewegen.

Dhannam zog die schlimmste Vermutung lieber erst gar nicht in Betracht. Obwohl er ihn am Arm hielt, sah er Gavrilus nicht an, da er fürchtete, in seinen Augen die gleiche Angst zu entdecken. Aber dafür sah er ab und zu auf das gleichmütige Gesicht von General Asduvarlun, der Alfargus’ Lehrmeister gewesen war und der ihm erlaubt hatte, ihn beim Vornamen zu nennen – eine Ehre, die nur wenigen zuteilwurde. Obwohl das Gesicht des Generals keine Gefühlsregung verriet, schien es Dhannam, dass auch seine Besorgnis wuchs, je weiter sie gingen.

Was Elirion Fudrigus anging, so musste man sich wirklich wundern, wie sehr ihm das Schicksal von jemandem am Herzen lag, mit dem er immer ganz offen in Streit gelegen hatte. Sein Gesicht hatte sich verdüstert und seine Hand umklammerte fest den magischen Bogen, als hoffe er, dessen Macht könnte sie zu Alfargus’ Aufenthaltsort führen.

Als Amorannon Asduvarlun mitten auf einer der breitesten Straßen der Stadt stehen blieb, hielten auch die anderen an. Niemand sagte ein Wort. Dhannams Blick war auf den Boden, Elirions Augen waren ins Leere gerichtet. Da wandte sich der eiserne General an Shannon. »So erreichen wir gar nichts. Carith Shehon ist zu groß und womöglich haben wir nur wenig Zeit. Ehrwürdiger Shannon, zum Wohle von Prinz Alfargus: Seid Ihr in der Lage, ihn mithilfe Eurer Magie zu finden?«

»Natürlich bin ich das«, antwortete Shannon bestimmt. Doch aus irgendeinem Grund ermutigten diese Worte Dhannam nicht etwa, sondern er fürchtete sich beinahe davor, Alfargus wiederzufinden. Und das, was General Asduvarlun zuvor gesagt hatte, schien seine Ängste nur noch zu bestätigen. Der Ordensmeister ging ein paar Schritte voran, Elirion und Asduvarlun traten beiseite, um ihm den Weg frei zu machen. Dann hob Shannon die Rechte und ein bläulich funkelnder Pfeil flog aus seiner Handfläche, durchquerte wie ein Komet die Dunkelheit der tiefen Nacht und fiel nicht weit von ihrem Standort zu Boden. Sie sahen, wie er am Rande einer schmalen Gasse aufleuchtete.

Shannon nickte. »Dort entlang«, sagte er.

Es war nicht weit und die Sorge beschleunigte ihre Schritte, sodass sie beinahe zu fliegen schienen. Fast rennend erreichten sie die Einmündung der Straße. Dhannams Herz schlug ihm bis zum Hals, während General Asduvarlun sich vorbeugte, um in die Gasse zu schauen, die beinahe völlig im Dunkeln lag. Doch im geisterhaften Schein, den Shannons magischer Pfeil noch kurz vor dem Verlöschen aussandte, konnte man die Umrisse einer am Boden liegenden Gestalt ausmachen. Ihre Haltung war merkwürdig verdreht, und Dhannam brauchte nur fünf Sekunden, um in dem zerrissenen Stoff, der ihr den Rücken bedeckte, den purpurroten Umhang seines Bruders zu erkennen.

»Alfargus!«, schrie er und versuchte nicht einmal, den Schrei zurückzuhalten. Er ließ alle Vorsicht außer Acht und stürzte in die Gasse. Elirion und General Asduvarlun, der Gavrilus stützte, folgten ihm.

Shannon kam als Letzter, er erreichte die anderen erst, als Dhannam schon neben dem leblosen Körper seines Bruders niedergesunken war und seinen zerzausten Kopf im Schoß hielt. Anscheinend atmete der Prinz nicht mehr, aber es war zu dunkel, als dass man das genau hätte sagen können, und man sah auch keine Wunde. Er durfte nicht tot sein! Doch je mehr Dhannam sich bemühte, Alfargus’ Hand in die seine zu nehmen, ihm die Haare aus dem Gesicht zu streichen und ihn aufzurichten, umso mehr bemerkte er, dass in dem Leib in seinen Armen kein Leben mehr war. Und je offensichtlicher diese Tatsache wurde, desto weniger wollte er sie glauben.

Er spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, als hätte sein Körper schon etwas begriffen, was sein Kopf nicht wahrhaben wollte. Leise rief er Alfargus’ Namen, rüttelte an seinem Körper, in der Hoffnung, er würde die Augen öffnen, ihn erkennen, lächeln und sei es das verkrampfte Lächeln eines Schwerverwundeten. Doch Alfargus reagierte auf keine seiner Bemühungen – sie mussten sich den Tatsachen stellen.

Dhannam ließ Alfargus’ Körper los, der auf seine Knie zurücksank, und blickte mit tränenfeuchten Augen zu seinem Vater und zu General Asduvarlun auf. »Er ist nicht tot«, flehte er mit gebrochener Stimme. »Das ist er doch nicht, oder?«

Niemand antwortete ihm, dafür hob hinter ihm Lay Shannon erneut die Rechte und aus seiner Handfläche strahlte ein goldenes Licht, das die Gasse beleuchtete. Darin erkannten alle eine mit magischen Runen bedeckte Doppelaxt, deren Klinge unversehrt war und die nicht weit von ihnen auf dem Boden lag. Und sie sahen Alfargus’ Gesicht, das von Schmerz so verzerrt war, dass es geradezu grotesk wirkte. Und sie sahen etwas noch weit Schlimmeres: die Würgemale an seinem Hals. Ganz deutlich erkannte man dort Zeichen einer schweren Verbrennung, den Abdruck einer Hand. Dhannams Frage würde unbeantwortet bleiben: Sie hatten die Wahrheit vor Augen und niemand vermochte sie auszusprechen.

General Asduvarlun trat vor und schob Dhannam höflich aber entschieden beiseite, er beugte sich über Alfargus und hob ihn behutsam auf. Dhannam sah, wie die Hand seines Bruders in der Luft hing, während der General ihn hochnahm wie ein schlafendes Kind. Doch Alfargus schlief nicht und alle wussten das.

Auch Dhannam stand wieder auf, wie in Trance. Er wusste kaum noch, was er tat, und erst jetzt suchte sein Blick Gavrilus’ Augen. Der Ausdruck in den Augen seines Vaters, den er im Licht von Shannons Magie wahrnahm, war schier unerträglich für ihn. Als er seinen Bruder auf dem Boden entdeckte, hatte Dhannam gespürt, wie etwas in ihm zerbrach, doch dies war nichts im Vergleich zu dem namenlosen Schmerz, den er nun in Gavrilus’ blauen Augen las. Nichts konnte schlimmer sein, nicht einmal der Tod.

Während er den Blick abwandte, bemerkte Dhannam gerade noch, dass Elirion Fudrigus die Doppelaxt aufgehoben und sie über seine Schulter gehängt hatte.



Man hatte Alfargus Sulpicius auf das Bett in seinem Zimmer oben im Turm von Carith Shehon gelegt und nun versammelte sich eine kleine Gruppe Trauernder um ihn. Dhannam war auf einen Hocker gesunken und wusste nicht, wie er jetzt weiterleben sollte. Gavrilus, der neben ihm saß, wirkte, als sei er am Boden zerstört. General Asduvarlun, der hinter ihnen stand, wirkte gefasst wie immer, aber man spürte seinen ungeheuren Schmerz.

Die gesamte Stadt trauerte, und das nicht nur, weil man den Thronerben des Elbenreiches verloren hatte, obwohl es kaum etwas Schlimmeres geben konnte.

Man hatte Elirion auch über Zaraks Schicksal informieren müssen. Der Thronfolger der Menschen, nicht minder temperamentvoll, als es Alfargus gewesen war, machte danach den Eindruck, als habe er den Verstand verloren. Man hatte beobachtet, dass er wie rasend aus der Festung gerannt war, sich über die Bahre mit Zaraks Leiche geworfen hatte und von Schluchzen geschüttelt wurde. Keinen Moment lang hatte Elirion Fudrigus daran gedacht, dass ihm jetzt der Titel des Königs über das Menschenreich gebührte, und ihm war nicht einmal entfernt der Gedanke gekommen, dass er ab jetzt die würdevolle Fassung zeigen musste, die man von einem König erwartete. Bis spät in die Nacht hatte er an der Leiche seines Vaters gewacht, Huninn und Herg in respektvollem Abstand mit ihm. Die beiden hatten nicht gewagt, ihm vorzuschlagen, dass er seinen Posten verlassen und sich ausruhen sollte, weil er dringend Schlaf brauchte.

Zarak hatte man im Zimmer neben dem Raum aufgebahrt, in dem Elirion bis zur vergangenen Nacht geschlafen hatte. Elirion war gerade schweigend in Alfargus’ Zimmer erschienen und war mit geröteten Augen sichtlich darum bemüht, den Eindruck zu vermitteln, als sei er gefasst und entschlossen, sich nicht von den schlimmen Umständen besiegen zu lassen. Er trug immer noch die Doppelaxt über der Schulter, die er in jener Gasse aufgehoben hatte, und seinen Bogen. Als er sich dem Bett näherte, auf dem Alfargus lag, spürte jeder, dass er diesen Verlust genauso schmerzhaft empfand wie den seines Vaters.

»Wir haben einander nicht gerade gemocht«, erklärte er mit gebrochener Stimme. »Und oft miteinander gestritten. Doch Euer Sohn, König Gavrilus, war sehr mutig.« Er nahm dessen Hand, und Dhannam sah, dass sie ein wenig zitterte.

Gavrilus nickte schweigend, doch es schien, als kostete ihn jede kleinste Bewegung ungeheure Kraft. Seine Augen kehrten immer wieder trauernd zu dem leblosen Körper zurück, der bis vor wenigen Stunden sein Sohn gewesen war, sein Erstgeborener, der Erbe des Thrones. Hinter Elirion waren Herg, Ulf Ghandar und Huninn Skellensgard in der Tür aufgetaucht und traten nun zu ihm, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Ein wenig erstaunt sah Dhannam auch Lay Shannon unter ihnen.

»Ich verstehe Euren tiefen Schmerz, König Gavrilus«, sagte der Hexer leise und kam auf ihn zu. »Und ich teile ihn. Zwei große Verluste haben uns alle in so kurzer Zeit getroffen. In Friedenszeiten wäre es nicht übertrieben, sie Monate lang zu beweinen. Doch in unserer Situation könnte es einer der folgenschwersten Fehler sein, auch nur einige Stunden zu zögern.«

Elirion erhob bei diesen Worten den Kopf und warf Shannon einen vorwurfsvollen Blick zu. Und Dhannam bemerkte, dass er verärgert sein Gesicht verzog. Es erschien ihm respektlos, in Gegenwart von Alfargus’ Leichnam so zu sprechen. Doch zu seiner Überraschung reagierte General Asduvarlun auf die Worte des Dämons mit einem zustimmenden Nicken.

»Ihr habt recht, ehrwürdiger Shannon«, hörte er ihn antworten und drehte sich ruckartig um. Dhannam konnte es nicht fassen. Doch Amorannon Asduvarlun meinte es ernst. »Ich zweifele nicht daran, dass wir alle uns nach Rache für Prinz Alfargus und König Zarak sehnen und dass wir sofort alles tun werden, um sie zu bekommen. Bei König Zarak wissen wir genau, dass wir uns an den Gremlins rächen müssen, aber bei Prinz Alfargus liegt vieles im Ungewissen. Ehrwürdiger Shannon, Ihr wisst mehr über Magie als jeder andere in diesem Raum, und hier ist zweifellos Zauberkraft am Werk gewesen. Könnt Ihr uns sagen, wer das getan hat?«

Shannon kam zu Alfargus’ Bett, schob das Laken beiseite, das ihn bedeckte, und enthüllte die schrecklichen Male an seinem Hals. »Nein«, antwortete er leise, als wolle er die Ruhe des Toten nicht stören. »Ich kann nicht sagen, wer das getan hat, ich kann gerade noch erkennen, wie er es getan hat. Ganz offensichtlich hat er keine anderen Waffen als den eigenen Körper benutzt, doch um so eine Wirkung zu erzielen, muss er mehr Magie in sich tragen, als es selbst dem erfahrensten Hexer möglich ist. Und ich glaube, dass es sich um die gleiche wie bei den Gremlins handelt. So unwahrscheinlich das auch klingt: Diesem Wesen muss es gelungen sein, in Kontakt mit Magie zu treten, sie in sich aufzunehmen, und schlimmer noch, sie zu beherrschen.«

»Der Magus hat im Saal im Wald gesagt, dass jemand auf die in dem Weißen Stein eingeschlossene Magie zurückgreift«, bemerkte Dhannam schüchtern, und alle wandten sich ihm zu, als würden sie erst jetzt seine Anwesenheit bemerken. »Das waren seine Worte. Jemand. Könnte das nicht der Gleiche sein?«

Lay Shannon zuckte mit den Schultern. »Wenn es sich wirklich so verhält, bedeutet das, dass wir nun in direkten Kontakt zu dem geheimnisvollen Wesen getreten sind, das im Hintergrund die Fäden zieht.« Der Ordensmeister bedeckte Alfargus’ Kopf, dann wandte er sich überraschend an Elirion. »Prinz Elirion, darf ich Euch eine Frage stellen, die möglicherweise nicht sehr viel mit alldem zu tun hat?«

Elirion sah ihn ein wenig misstrauisch an, forderte ihn aber dennoch auf zu sprechen.

»Könnt Ihr mir etwas über die Axt erzählen, die Ihr über der Schulter tragt? Wir haben gesehen, wie Ihr sie in der dunklen Gasse aufgehoben habt, während wir anderen bestürzt über den schmerzlichen Anblick waren, und wenn meine Erfahrung wirklich etwas wert sein sollte, dann kann ich mit Sicherheit sagen, dass dies eine magische Waffe ist, eine Axt der Goblins. Ich möchte wissen, welche Bedeutung diese Waffe für Euch hat.«

Elirion verhehlte nicht, wie verärgert er über die Frage war. »Ich verstehe nicht, was Euch das angeht«, antwortete er brüsk. »Aber da Ihr es gern wissen wollt: Die Axt gehörte Alfargus. Der Nekromant, der die feindlichen Truppen anführte, hat ihm bei ihrem ersten Zusammentreffen großen Respekt eingeflößt. Alfargus hat sich eine magische Waffe besorgt, um ihm entgegentreten zu können. Er fand diese Axt und es ist wirklich schade, dass es ihm nicht länger vergönnt war, sie zu tragen, denn er kämpfte mit ihr wie ein wahrer Held. Deshalb schien es mir nur gerecht, sie nicht auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen.«

Obwohl er Elirion gegenüber zunächst misstrauisch gewesen war, schätzte Dhannam seine Worte und seine Tat, so verhielt sich ein Mann von Ehre. Und Gavrilus nickte dem jungen Mann ebenfalls dankbar zu.

Doch Lay Shannon schien dessen Erklärung nicht ganz zu befriedigen. »Das kann nicht sein«, wandte er ein. »Diese Waffe kann unmöglich Alfargus Sulpicius gehört haben.«

Diesmal zeigte Elirion seine Verärgerung ganz offen. »Und warum bitte nicht?«, erwiderte er. »Warum sollte Alfargus Sulpicius nicht in der Lage gewesen sein, eine magische Waffe zu führen, und das besser als jeder andere? Warum hätte sie ihm nicht gehören sollen?«

Lay Shannon ließ sich nicht erschüttern. »Sie kann ihm nicht gehört haben«, erwiderte er kühl. »Wenn es so gewesen wäre, wäre sie jetzt zerstört und wir würden vergeblich versuchen, sie wieder zusammenzuschmieden. Wie Ihr wisst, hat eine magische Waffe eine ganz bestimmte Eigenschaft: Sie sucht sich ihren Besitzer aus und schließt eine enge Verbindung mit ihm. Wenn er stirbt, zerbricht die Waffe, das ist unausweichlich, ganz gleichgültig, wie groß ihre Macht ist. Hätte diese Axt wirklich Alfargus gehört, wäre sie jetzt in Stücke zerfallen, und nur derjenige, der ihn getötet hat, dürfte sie jetzt besitzen, und er wäre auch der Einzige, der diese Klinge wieder zu einem Ganzen schmieden könnte. Doch wie es scheint, hat Alfargus, selbst wenn es ihm durch seine guten Absichten gelungen ist, die Waffe zu beherrschen, sie doch nie besessen. Vielleicht hat er sich aus diesem Grund nicht mit ihr gegen seinen Angreifer verteidigen können. Das bedeutet, dass die Waffe niemandem gehört hat und noch auf ihren Herrn wartet.«

Elirion seufzte und schaute zu Boden. »Dann werde ich sie mit mir tragen. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mit Alfargus begraben wird, deshalb habe ich sie aufgehoben. Doch wenn es gerechter ist, dass sie jemanden finden soll, der ihrer würdig ist, wie Alfargus, werde ich sie nicht eher aus der Hand geben, bis ich nicht sicher bin, ihn gefunden zu haben.«

»Viel Glück«, sagte Shannon. »Andererseits, Ihr werdet genug Gelegenheit haben, den Richtigen zu finden, da mir im Gegensatz zu meinen Wünschen klar geworden ist, dass General Asduvarluns Meinung die einzig richtige ist. Wenn wir hier weiter standhalten wollen, müssen wir Garnisonen zur Verteidigung der Stadt zurücklassen und dann mit dem Hauptteil des Heeres losmarschieren. Wenn ich etwas vorschlagen darf: Die Große Mauer im Gnomenreich wäre wohl nicht allzu schwer zu verteidigen, ich weiß, dass sich dort ein großer Vorposten des Heeres gebildet hat.«

»Und ich habe die Absicht, dazuzustoßen«, stimmte der General zu. »Aber wenn wir unsere Möglichkeiten, uns zu verteidigen, erhöhen wollen, würde ein strategischer Rückzug an die Große Mauer nicht genügen. Ein Teil von uns muss einen anderen Weg beschreiten.«

»Und was sollen sie tun?« Elirion sah den General neugierig an. »Was sollten wir tun?«

Amorannon Asduvarlun antwortete genauso ruhig und entschieden wie immer: »Die Shardari suchen.«

THARKARÚN – Krieger der Nacht
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