FÜNFUNDVIERZIG

AM NÄCHSTEN MORGEN erwachte Elirion mit Kopfschmerzen. Das Fest hatte sich bis zum Morgengrauen hingezogen, begleitet von den Gesängen in der melodiösen Sprache der Shardari und wilden Tänzen rund um das große Feuer in der Mitte des Lagers. Noch ehe Elirion protestieren konnte, fand er sich im Kreis der Tänzer wieder, dann fielen ihm wieder Sirios Worte ein, dass Diplomatie nicht unbedingt seine Stärke war, und er dachte, dass sich diese Leute beleidigt fühlen könnten, wenn er ihrer Aufforderung nicht nachkam. So hatte er also mühsam versucht, den Hüpfschritten von Naime zu seiner Rechten und Janden Sirio auf seiner anderen Seite zu folgen, einem jungen Kerl mit einem langen kastanienbraunen Pferdeschwanz, der statt eines Ohrrings einen Bärenzahn trug und ihn den ganzen Abend keinen Moment aus den Augen gelassen hatte.

Irgendwann hatte er zu Sirio und Herg hinübergesehen, die einträchtig nebeneinandersaßen, und beide hatten ihm unauffällig zugewinkt. Elirion hatte den Verdacht, dass sie sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machten. Girvan, der an Allan Sirios anderer Seite saß, redete mit ihm in seiner Sprache und von Zeit zu Zeit klopfte er ihm lachend mit der kräftigen Hand auf den Rücken.

Und ständig wurde ihm jemand vorgestellt. Janden schien es sich zur Ehrensache gemacht zu haben, ihn mit seinem gesamten Stammesverband oder zumindest dem größten Teil davon bekannt zu machen, und so wurde Elirion mal hierhin, mal dorthin gezogen, dabei hätte er lieber mit Naime weitergetanzt, deren freimütige Art zu reden und silberhelles Lachen ihm immer besser gefielen.

Nachdem er eine ganze Reihe von Kriegern kennengelernt hatte, deren Namen er sofort wieder vergaß, kaum dass er sie gehört hatte, stand Elirion auf einmal vor einer jungen Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Es war Girvans älteste Tochter, Vàna Deinira, die bei ihrer Ankunft die Wachen befehligt hatte. Jetzt fielen ihre rötlichen Haare offen und üppig auf die Schulter und sie trug einen gelben Rock, der so ähnlich aussah wie der von Naime, dazu ein braunes Leibchen. Ihr Händedruck war fest und ehrlich. Auf ihn wirkte sie wie eine mutige, willensstarke Frau, die ihrem Vater oder ihrer Schwester in nichts nachstand.

Sie war in Begleitung ihres Verlobten, offensichtlich ein guter Freund von Janden, ein gewisser Chatran Ballaschain. Elirion mochte Chatran auf Anhieb, als er dessen offenes Gesicht unter den kurzen blonden Haaren zum ersten Mal sah, und sie hatten sich lange über Waffen und Kämpfe unterhalten. Chatran hatte mit großem Interesse die magische Axt betrachtet, die Elirion über der Schulter trug, hatte ihm aber zu seiner Erleichterung keine Fragen dazu gestellt. Dann hatte ihm Girvan etwas zu trinken gebracht, und nachdem Elirion sich fragend zu Sirio umgeschaut hatte, hatte ihm dessen anerkennender Blick bestätigt, dass das Familienoberhaupt ihm damit eine große Ehre erwies.

Danach hatte er wieder getanzt, diesmal waren nur die Männer an der Reihe, er war mit Janden und Chatran, und Vàna und Naime und die anderen jungen Frauen standen um sie herum und klatschten freudig im Takt. Die Shardari versuchten nicht, ihn so zu behandeln wie einen der Ihren, sie wussten einen gewissen Abstand zu wahren, aber sie taten ihr Möglichstes, damit er sich wohlfühlte, und Elirion hatte den Eindruck, dass auch Herg viel entspannter war als sonst.

Der Einzige, der sich nicht hatte blicken lassen, obwohl Elirion von Janden ständig seinen Namen hörte, war Brennus: Von Girvans ältestem Sohn war weit und breit nichts zu sehen, und schließlich erklärte ihm Sirio, dass der junge Krieger an diesem Abend die Nachtwache befehligte und bis zum Sonnenaufgang draußen Wache halten würde. Elirion war darüber nicht besonders glücklich. Er hatte gehofft, Brennus vor ihrem offiziellen Treffen am nächsten Morgen kennenzulernen, nun, wo Girvan ihm gegenüber zugänglicher war, bereitete ihm sein Sohn als Einziger noch Kopfzerbrechen. Aber Brennus war nicht mehr aufgetaucht, auch nicht, als Elirion mit Herg und Allan Sirio zu seinem Zelt zurückging, und da dämmerte es schon. Das Fest ging noch weiter, aber Elirion war unverzüglich in einen bleiernen Schlaf gesunken, und als Herg ihn sanft an der Schulter rüttelte, um ihn zu wecken, erinnerte er sich nur noch an wenig vom Vorabend.

»König Elirion«, sagte seine Leibwache. »König Elirion! Es ist schon Morgen. Wir müssen gehen!«

Elirion brauchte eine Weile, ehe er wieder wusste, wo er sich befand und wohin er gehen sollte, dann war er aber auch schon auf den Beinen, getrieben von einer gewissen inneren Unruhe. »Du brauchst mich nicht König Elirion zu nennen!«, meinte er, nur um etwas Sinnvolles zu sagen. Herg antwortete nicht, er gab ihm einen aufmunternden Klaps in den Nacken und verschwand zu Allan Sirio auf die andere Seite des Paravents. Elirion blieb nichts anderes übrig, als sich eilig anzuziehen, dann legte er sich den blauen Umhang an, schulterte die Axt von Alfargus, hängte sich den magischen Bogen über die eine und den Köcher über die andere Schulter und folgte Herg. Allan Sirio, der mit einer Tonschale in der Hand neben der Feuerstelle kauerte, lachte bei seinem Anblick lauthals auf.

»Wir ziehen doch nicht in den Krieg, Elirion«, begrüßte ihn der Druide. »Bis auf die Axt kannst du deine ganze Waffensammlung hierlassen. Girvan könnte sonst annehmen, dass du ihm misstraust.«

Mit einem demonstrativen Seufzer ließ Elirion alle Waffen fallen und setzte sich neben Herg auf den Boden. Sirio reichte ihm die Schale und Elirion nahm sie, ohne hineinzusehen. Allmählich wurde er wegen des anstehenden Gesprächs mit dem Oberhaupt der Shardari und seinem Sohn immer nervöser und er wünschte sich einen Moment lang, Dhannam Sulpicius wäre bei ihm, der so gut mit Worten umzugehen verstand.

»Du solltest besser etwas in den Magen bekommen.« Sirio deutete auf die Tonschale, von der leichter Dampf aufstieg.

Elirion begutachtete vorsichtig die Flüssigkeit: Sie war dunkel und trüb und verströmte einen stechenden Geruch. Er warf Sirio einen fragenden Blick zu. »Und was ist das?«

»Kuhmilch vermischt mit Blut«, antwortete Sirio so ruhig wie immer, »das natürlich auch von der Kuh stammt. Du bist bei den Shardari, und solange du hier bist, musst du essen, was sie essen. Außerdem ist Naime, während du noch geschlafen hast, eigens hierhergekommen, um dir das zu bringen, und ich nehme an, du möchtest ihr später nicht sagen, dass sie sich die Mühe umsonst gemacht hat.«

»Es schmeckt gar nicht so schlecht, wie man denkt«, fügte Herg hinzu und ließ eine Schale sinken, die genauso aussah wie seine und schon zur Hälfte geleert war.

Elirion schaute verwundert zu ihm hinüber: Er konnte sich nicht erinnern, wann Herg zum letzten Mal etwas zu einem Gespräch beigetragen hätte, worin es nicht um Krieg oder seine offiziellen Aufgaben ging. Diese Reise schien merkwürdige Auswirkungen auf sie beide zu haben. Widerwillig führte er die Schale an die Lippen und beschloss, dass dieses seltsame Gebräu im Grunde trinkbar war. Es war dickflüssig und schmeckte ziemlich süßlich.

»Na ja, das Grillfleisch von gestern Abend war eindeutig besser«, sagte der junge Menschenkönig. »Aber ich werde keine Umstände machen. Was meinst du, Sirio, wie wird das Gespräch heute Morgen verlaufen?«

Sirio wickelte sein Druidengewand fester um den Leib. »Das hängt ganz von dir ab«, sagte er. »Hast du die Absicht, Girvan einzuschüchtern, damit er dir seine Kämpfer mitgibt, und ihm mit Repressalien zu drohen, falls er nicht dazu bereit ist? Dann kannst du gleich deine Sachen packen, denn dann wirst du hier nicht länger geduldet. Aber wenn du dich mit ihm von Gleich zu Gleich unterhältst, hast du gewisse Chancen, dass du deine Bekanntschaft mit der schönen Naime weiter vertiefen und später in Begleitung einer größeren Einheit von Kriegern aufbrechen kannst.«

»So genommen, hört es sich vielversprechend an«, meinte Elirion und nahm noch einen tiefen Schluck. »Ich habe nicht vor, irgendjemandem zu drohen. Und könntest du bitte aufhören, in jeden zweiten Satz den Namen Naime einzuflechten?«

»Ich bin ja wohl nicht derjenige, dem sie es angetan hat«, sagte Sirio lachend. »Jetzt trink schon endlich dieses Zeug aus, möglicherweise bietet dir Girvan gleich etwas Stärkeres an und dann solltest du schon etwas im Magen haben. Ich möchte dich nicht betrunken sehen.«

Elirion nickte grinsend. »Und Herg?«, fragte er, denn er wollte wissen, welche Rolle sein treuer Schatten in dieser diplomatischen Mission erfüllen sollte. Darauf antwortete dieses Mal nicht der Druide, sondern Herg selbst. Er wurde immer gesprächiger, seit sie zu dritt unterwegs waren.

»Ich bleibe, wo ich bin«, sagte er. »Wenn Ihr ohne Eure Leibwache erscheint, beweist Ihr Euer großes Vertrauen ihnen gegenüber, außerdem tauge ich nicht besonders als Diplomat.«

Wenn Elirion sich gerade schon gewundert hatte, dass Herg über alltägliche Dinge geredet hat, war er jetzt sprachlos vor Verblüffung: Hätte man ihm noch vor ein paar Tagen gesagt, dass sich Herg ganz freiwillig von ihm trennen würde, und sei es nur für ganz kurze Zeit, dann hätte er das nicht geglaubt. Sirio wirkte dagegen nicht überrascht, vielleicht hatten sie ja darüber gesprochen, während er noch schlief, aber Elirion hatte mehr denn je den Eindruck, dass der Druide immer schon alles im Voraus wusste.

»Also gut«, sagte er abschließend. »Dann werde ich wohl bald mit guten Neuigkeiten zurückkehren.«



Zu Elirions Erleichterung begleiteten sie diesmal keine ganz in Schwarz gekleideten Krieger zu Girvans Zelt, aber auch Naime ließ sich nicht blicken. Elirion versuchte, sich nicht allzu enttäuscht darüber zu zeigen, um Allan Sirio nicht noch mehr Anlass für anzügliche Bemerkungen zu geben. Aber wie immer musste er gar nichts sagen, denn der Druide, der mit dem Birkenstab in der Hand neben ihm schritt, hatte schon wieder diesen wissenden Ausdruck aufgesetzt. Am Zelt läutete Sirio die kleine Glocke, mit der sich Besuch ankündigte, und von drinnen ertönte Girvans dröhnende Stimme, die sie aufforderte hereinzukommen.

Das Oberhaupt der Shardari saß auf seinem geschnitzten Holzsessel und erhob sich nun, um sie zu begrüßen. Elirion bemerkte, dass er für seine Verhältnisse höchst elegant gekleidet war: Über den Schultern trug er einen roten Umhang mit Pelzkragen, der weit kostbarer war als der vom Vortag, und um seine Hüften war über seine schwarzen Hosen eine rote Schärpe mit Goldschmuck geschlungen, zahlreiche Ketten mit auffälligen Anhängern hingen an seinem Hals. Er ging ihnen entgegen und begrüßte Sirio mit einer freundschaftlichen Umarmung und Elirion mit einer respektvollen Verbeugung, die dieser sofort erwiderte. Der junge König der Menschen hatte darauf gehofft, dass Vàna oder Chatran anwesend waren, sie gehörte schließlich zu den Befehlshabern der Krieger und ein vertrautes Gesicht hätte ihm Mut machen können. Aber in dem großen schwarzen Zelt war niemand außer dem Familienoberhaupt. Elirions Enttäuschung wurde noch größer, als ihm klar wurde, dass auch der geheimnisvolle Brennus nicht anwesend war.

»Mein Sohn ist noch nicht zurück«, erklärte Girvan. »Ich bitte Euch, ihn zu entschuldigen, er hat die ganze Nacht Wache gehalten. Wir werden allerdings nicht mehr allzu lange warten müssen, er wird jeden Moment eintreffen.«

Er wusste, wovon er sprach, denn es verging wirklich kaum Zeit, da klingelte auch schon die Glocke. Nachdem er von seinem Vater die Erlaubnis erhalten hatte, betrat Brennus Astair, genannt Brennus der Schreckliche, das Zelt.

Das erste Gefühl, das Elirion bei seinem Anblick empfand – und er schämte sich dessen sofort – war Enttäuschung. Nachdem er Girvan kennengelernt und dessen Beschreibungen von seinem Sohn gehört hatte, hatte er ihn sich als einen muskelbepackten Riesen vorgestellt, der grimmig und stolz um sich blickte, ein Mann wie aus Stein gemeißelt, furchterregender als ein ganzer Söldnertrupp. Brennus Astair war dagegen ganz anders.

Jetzt betrat er das Zelt mit lautlosen Schritten, grüßte Sirio mit einer Handbewegung und Elirion mit einer knappen, aber höflichen Verbeugung und ging dann zu seinem Vater. Ein junger Mann, ganz in Schwarz gekleidet, nicht sehr groß, dafür schlank, mit sehr heller Haut und rötlichen, sorgfältig frisierten Haaren, die ihm teils offen auf die Schulter fielen, teils im Nacken zu einem kleinen Zopf geflochten waren. Ein kleiner, ebenfalls rötlicher Spitzbart zierte sein Kinn, doch auch der konnte an seinem jungenhaften Aussehen nichts ändern. Er hatte freundliche Augen von derselben grauen Farbe wie Naime und schmale, gepflegte Hände. Brennus bewegte sich absolut lautlos und war anscheinend unbewaffnet. Allerdings konnte Elirion in seinem Blick eine gewisse Härte und bemerkenswerte Zähigkeit feststellen. Trotz seines unscheinbaren Äußeren zählte Brennus der Schreckliche ganz gewiss zu den Personen, die man nicht zum Feind haben wollte.

»Mein Sohn Brennus«, stellte ihn Girvan vor, obwohl jeder wusste, wer gerade hereingekommen war. »Brennus, du kennst doch Allan Sirio, nicht wahr? Und das hier ist Elirion Fudrigus, König im Reich der Menschen.«

»Es ist mir eine Ehre«, sagte Brennus leise und neigte den Kopf. Er klang ehrlich, aber kühl, und Elirion meinte, eine unterschwellige Feindschaft herauszuhören. Girvan setzte sich wieder, Brennus blieb neben ihm stehen. Er hielt sich absolut aufrecht und machte den Eindruck, als könne er noch Stunden in dieser Position verharren.

»Ihr habt also eine Botschaft für uns, König Elirion«, begann Girvan. Er kam ohne Umschweife gleich auf den Punkt, und das gefiel Elirion. »Ich bitte Euch, uns diese mitzuteilen, denn wir sind bereit, Euch anzuhören.«

»Das freut mich«, erwiderte Elirion. Neben ihm neigte Sirio fast unmerklich den Kopf. Elirion holte tief Luft. »Ihr habt sicher von dem Bösen gehört, das in letzter Zeit über die acht Reiche und deren Bewohner gekommen ist«, begann er und merkte, dass der Knoten in seinem Hals sich allmählich löste, je länger er sprach.

»Ja«, antwortete Girvan. »Leider hatten auch einige von unseren Leuten in letzter Zeit unangenehme Begegnungen.«

»Jetzt haben die Völker ein gemeinsames Heer aufgestellt, um dieser Bedrohung entgegenzutreten. Aber der Krieg ist sehr schwierig, in vielen Fällen hat sich erwiesen, dass es ein ungleicher Kampf ist: Ohne Magie, die Ihr beherrscht, können wir dem Feind nicht standhalten. Wir haben bedeutende Festungen verloren, oft den Rückzug antreten und viele Verluste hinnehmen müssen. Mein Vater, König Zarak, wurde getötet und ebenso der Kronprinz des Elbenreiches Alfargus Sulpicius. Wir brauchen die Shardari – die Geschicklichkeit Eurer Krieger, die Fähigkeiten Eurer Zauberer und die Kunstfertigkeit Eurer Schmiede. Herr, ich käme nicht zu Euch und würde Euch bitten, Euer Volk in einen Krieg zu schicken, wenn ich es vermeiden könnte. Mir ist bekannt, dass die Shardari keine Söldner sind. Aber auch wenn Ihr nicht dem Befehl eines der Völker untersteht, so lebt Ihr doch in derselben Welt, und unsere gemeinsame Welt ist nun vom Bösen bedroht. Wir haben Euch niemals Schwierigkeiten bereitet oder Euch davon abgehalten, innerhalb unserer Grenzen nach Euren Gesetzen und Regeln zu leben. Jetzt bitten wir Euch um Eure Hilfe.« Er biss sich auf die Lippen, holte tief Luft und beendete seine Rede mit einer leichten Verbeugung, die er möglichst respektvoll aussehen ließ.

Zu viel hing von dem ab, was Girvan ihm nun antworten würde. Elirion schaute unsicher zu dem alten Krieger auf und sah, wie dieser zweimal bedächtig nickte, er schien seine Worte oder zumindest die Art und Weise, wie sie vorgebracht wurden, zu schätzen. Brennus hingegen starrte ihn immer noch kühl und keineswegs freundlich an. Elirion sah, wie er sich zu seinem Vater hinüberbeugte und ihm etwas zuflüsterte. Girvan antwortete ihm mit einer Handbewegung und wandte sich dann wieder Elirion zu.

»Deine Rede ist die eines ehrlichen Mannes«, sagte Girvan und war plötzlich zum Du gewechselt. »Ich hatte befürchtet, Hochmut bei dir zu finden. Oft ist uns dieser bei denen begegnet, die vor dir König waren. Nicht immer war es meinem Volk vergönnt, ungestört zu leben, und mancher von ihnen hat versucht, ihm seinen Willen aufzuzwingen, auch die Herrscher anderer Völker hatten nicht immer Respekt vor uns. Aber du kommst hierher, um von uns Hilfe wie unter Verbündeten zu erbitten, und nicht, um deinen Untertanen zu befehlen, dich zu begleiten. Das rechne ich dir hoch an. Du hast ganz richtig gesagt, die Welt, in der wir leben, ist bedroht, da ist es nur recht und billig, wenn wir sie gemeinsam verteidigen.«

Elirion musste einen Jubelschrei unterdrücken. Es war geschafft, anders konnte es gar nicht sein. In wenigen Tagen würden die Truppen auf der Großen Mauer in der Ebene ihn an der Spitze einer Abordnung von Shardarikriegern empfangen können. Vielleicht würde ja unterwegs Dhannam zu ihnen stoßen, der von einer Abordnung von Rittern der Finsternis begleitet wurde. Der junge König der Menschen blieb allerdings nach außen hin gefasst, Girvan hatte seine Rede noch nicht beendet.

»Und doch«, sagte der Sharda weiter und jedes Wort traf Elirion nun wie ein Stein, »ist das, was du von uns erbittest, nicht so einfach. Außerdem fälle ich hier nicht allein die Entscheidungen, vor allem dann nicht, wenn es um so wichtige Fragen geht. Wie ich bereits gesagt habe, waren unsere Beziehungen zu den Völkern nicht immer freundschaftlich. Und es ginge auf jeden Fall um das Leben unserer Kinder. Du wirst mir daher verzeihen, wenn ich dir nicht gleich eine Antwort gebe. Ich werde den Rat der Familienoberhäupter einberufen und dann werden wir das gemeinsam besprechen. Sobald wir zu einer Entscheidung gekommen sind, wirst du deine Antwort erhalten.«

Sein Ton war endgültig, und Elirion begriff, dass es unhöflich gewesen wäre, noch einmal nachzufragen. Mühsam hielt er seine Enttäuschung zurück, verbeugte sich wieder und versuchte, bei seinen abschließenden Sätze neutral zu klingen: »Ich danke dir, dass du mich angehört hast. Dann erwarte ich eure Entscheidung.«

Wieder blickte er fragend zu Sirio hinüber und der nickte zustimmend. Es gab nicht mehr zu tun, zumindest vorerst nicht. Er meinte, in Brennus’ Mundwinkeln ein leichtes Lächeln zu sehen, aber das war nicht mehr als ein Zucken.

»Wir werden uns jetzt verabschieden«, sagte Sirio neben ihm auf seine gewohnt höfliche Art.

Girvan nickte. »Ich habe erfahren, dass ihr gestern Abend unsere Gastfreundschaft genossen habt«, sagte er noch. »Ich hoffe, dass ihr sie weiter genießt.«

Sirio stand auf und stützte sich dabei auf seinen Birkenstab. »Das werden wir ganz bestimmt«, versicherte er. »Elirion, würde es dir etwas ausmachen, wenn du schon einmal vorgingst? Ich müsste noch etwas mit Girvan besprechen, und zwar unter vier Augen.«

Elirion gehorchte ihm. Er wollte mit Sirio keine Diskussionen anfangen, und obwohl er nur zu gern erfahren hätte, was der Druide und das Oberhaupt der Shardari zu besprechen hatten, war er überzeugt, dass Sirio immer die beste Entscheidung traf.

Er schob den Vorhang am Eingang des Zeltes beiseite und trat in die helle Morgensonne hinaus. Sofort fuhr ihm ein frischer Windstoß unter den Umhang. Er ging ein paar Schritte und war froh, als er von einigen jungen Shardari gegrüßt wurde, die genau in diesem Moment vorbeikamen, und erwiderte den Gruß, denn die Unterredung mit Girvan hatte bei aller Kürze viele Fragen offengelassen. Am besten kehrte er zu seinem Zelt zurück und besprach die Ereignisse mit Herg, um zu erfahren was er darüber dachte. Er hatte sich gerade in diese Richtung gewandt, als sich plötzlich eine Hand von hinten auf seine Schulter legte und ihn mit einem erschreckend festen Griff festhielt. Ein wenig besorgt drehte er sich um und sah in das junge Gesicht von Brennus Astair. Er wirkte entschlossen, nein, eindeutig feindselig.

»Wir müssen reden, Elirion Fudrigus«, sagte der junge Sharda so entschieden, dass kein Widerspruch möglich war. »Darf ich ein wenig von deiner Zeit in Anspruch nehmen?«

Elirion wagte nicht, ihm das abzuschlagen, und folgte Brennus an einen abgeschiedeneren Ort. Erst, als sie sich deutlich von Girvans Zelt entfernt hatten, nahm Brennus die Hand von seiner Schulter.

»Ich will ganz offen zu dir sein«, sagte er. »Mir gefällt es nicht, dass ein Fremder hierherkommt und uns bittet, für ihn zu kämpfen, selbst wenn er ein Freund von Allan Sirio ist. Ja, du bist ein König, aber du bist der König deines Volkes, hier bei den Shardari kannst du keine Ansprüche geltend machen. Wenn mein Vater beschließt, deiner Bitte nachzukommen, dann werde ich dir folgen und dir gegenüber stets loyal sein. Aber eins sollte dir von vornherein klar sein: Du bist keiner von uns und wirst es auch niemals sein.«

Elirion musste schwer schlucken. Er hätte ihm gerne eine entsprechende Antwort gegeben, aber es erschien ihm keine gute Idee, es sich mit Girvans Sohn, der noch dazu ein Anführer der Krieger war, zu verderben. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte er und versuchte, so kühl wie möglich zu klingen. »Ich bin hierher mit allem Respekt für dein Volk gekommen und nicht, um mich von dir beleidigen zu lassen.«

Brennus nickte, als ob er ein solche Antwort schon erwartet hätte. »Dann werde ich mich deutlicher ausdrücken, wenn du mich nicht verstehen willst«, erwiderte er. »Ich habe erfahren, dass du ein Auge auf meine Schwester geworfen hast. Es ist mir egal, was sie dir in den Kopf gesetzt hat, aber ich rate dir: Vergiss es lieber gleich wieder. Kein Höfling aus dem Reich der Menschen darf hierherkommen und mit uns und unseren Frauen sein Spiel treiben, selbst wenn er der Herrscher über alle acht Reiche wäre. Und wenn ich erfahren sollte, dass du etwas getan hast, was die Grenzen des Anstands überschreitet, dann werde ich dich zum Duell herausfordern und dich umbringen, wenn ich es schaffe. Und ich werde alles daransetzen, dass ich es schaffe. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Er hatte seine Stimme nicht angehoben, aber genau deswegen hatten seine Worte umso bedrohlicher geklungen. Elirion konnte nur mühsam Fassung bewahren. »Ich hege keinerlei Absichten gegenüber deiner Schwester«, stellte er mit aller Festigkeit klar. »Ich werde nichts tun, was sie beleidigen könnte, weder sie noch eine andere Frau der Shardari. Ich wiederhole, ich bin mit dem größten Respekt für dein Volk hierhergekommen.«

»Das hoffe ich«, meinte Brennus nur noch knapp. Dann wandte er sich abrupt ab und entfernte sich auf leisen Sohlen, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.

Elirion wartete etwas und beschloss dann, wieder zu Girvans Zelt zurückzugehen. Nach dieser kurzen Unterhaltung wirbelten ihm nur noch mehr Fragen durch den Kopf. Er war so damit beschäftigt, über das nachzudenken, was sich gerade zwischen Brennus und ihm abgespielt hatte, dass er sich überhaupt nicht wunderte, auf einmal Allan Sirio auf sich zukommen zu sehen.

»Ach, da bist du ja«, sagte der Druide lächelnd, als er ihn bemerkte. »Was hat Brennus zu dir gesagt? Du siehst verwirrt aus.«

Elirion seufzte. Es war alles so absurd, dass er gar nicht wusste, wie er anfangen sollte. »Ich glaube, ich habe mir einen Feind gemacht«, gestand er. »Und das Schlimme ist, ich habe ihm nicht einmal einen Grund gegeben.«

Sirio klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und Elirion empfand das – wie oft die Gegenwart des Druiden – als sehr tröstlich. Er mochte Sirio, der niemals Erklärungen verlangte, sondern immer alles zu begreifen schien.

»Du musst versuchen, Brennus zu verstehen«, erklärte Sirio geduldig. »Er ist ein Kind seines Volkes, und zwar im Guten wie im Schlechten. Er ist stolz und mag nichts, was für ihn wie die Einmischung von Fremden aussieht, auch wenn seine Ansichten manchmal ein wenig übertrieben sind. Und er liebt seine Schwester über alles. Er hat Angst, dass du ihr wehtun könntest, und das mit gutem Grund. Die Könige haben sich den Shardari gegenüber in solchen Angelegenheiten nicht immer musterhaft verhalten.«

»Ja, das stimmt.« Elirion fragte gar nicht nach, woher der Druide wusste, dass sie über Naime gesprochen hatten. »Aber ich habe ihm keinen Grund gegeben, an meiner Ehrenhaftigkeit zu zweifeln.«

Sirio lachte, und Elirion ärgerte sich nur deshalb nicht darüber, weil er sich mittlerweile an sein herzliches Lachen gewöhnt hatte und wusste, dass er ihn damit nie verspotten wollte. »O doch, und ob du ihm Grund gegeben hast«, widersprach ihm der Druide höflich. »Die Frauen der Shardari schenken nur Männern aus ihren Familien ihr Vertrauen, und du hast dich Naime gegenüber gestern überaus vertraulich verhalten. Das hat sogar Girvan bemerkt, und für dieses Volk kann so etwas schon eine Beleidigung sein. Ich verstehe ja, wie schön es ist, jung und sorglos zu sein, aber vielleicht hatte Brennus nicht ganz unrecht, selbst wenn er bestimmt etwas barsch war.«

»Er war sehr barsch«, sagte Elirion. »Wie auch immer, ich glaube, wir werden keine Freunde mehr.«

Sirio schüttelte den Kopf. »Das kann man nie wissen. Wenn du meine Meinung hören willst: Ich glaube, dass du einen würdigen Gegner suchst, jemanden, vor dem du Respekt haben kannst, so jemand wie Alfargus Sulpicius.Vielleicht hast du ihn ja gefunden. Ich habe den Verdacht, dass du Brennus weit besser gefällst, als er zugeben möchte.«

»Kann schon sein«, sagte Elirion leise, aber er musste wieder daran denken, wie Brennus ihn angesehen hatte. Und er konnte sich nur schwer vorstellen, dass er ihm auch nur ein bisschen gefallen könnte.

THARKARÚN – Krieger der Nacht
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