SIEBENUNDVIERZIG

ALS DHANNAM ERWACHTE, sah er als Erstes die vertraute Gestalt von Lisannon Seridien, der mit einer Tasse in den Händen auf dem schmalen Bett neben ihm saß. Sofort wusste er wieder, wo sie waren, und verspürte eine große Erleichterung, dass sie den Tempel der Finsternis erreicht und die Ritter sich in der vorangegangenen Nacht als so umgänglich und gastfreundlich erwiesen hatten. Er richtete sich auf und Lisannon teilte ihm mit, dass man drei Tassen mit Tee und einen großen Teller mit Keksen vor ihre Tür gestellt hatte – ein Zeichen, dass die Ritter ihnen wohl immer noch freundlich gesinnt waren.

»Die Kekse sind sogar ganz annehmbar«, ergänzte Ulf Ghandar, der gerade aus einem kleinen Nebenzimmer kam und sich genießerisch einen davon in den Mund schob. »Zumindest haben diese Ritter nicht die Absicht, uns verhungern zu lassen.«

»Ich finde sie sehr gastfreundlich«, sagte Dhannam. Dankbar griff er nach der Tasse Tee, die ihm Lisannon reichte. Er duftete nach Jasmin und weckte in ihm eine leise Erinnerung an die fernen Gärten seines geliebten Astu Thilia. »Der Ritter gestern Abend meinte, er würde uns dann am nächsten Morgen abholen. Ist er schon da gewesen?«

Ulf Ghandar schaute ihn schief an. »Die Kekse werden wohl kaum hierher geflogen sein«, bemerkte er. »Meiner bescheidenen Meinung nach beobachten sie uns heimlich.«

»Sie versuchen nur, höflich zu sein, Oberst Ghandar«, sagte Lisannon. »Man muss nicht überall Verschwörungen wittern.«

»Muss man nicht, aber das hat sich schon in vielen Fällen als sehr nützlich erwiesen«, grummelte der Zwerg.

Lisannon ließ die Sache auf sich beruhen. Dhannam stellte die Tasse ab und griff nach einigen Kleidungsstücken, die er am Vorabend abgelegt hatte.

»Ich glaube nicht, dass sie sich beleidigt fühlen, wenn wir ihnen in Reisekleidung gegenübertreten«, überlegte er laut. Er schlüpfte in seinen braunen Wams und begann, die Knöpfe über der Brust zu schließen. »Das Beste wäre, sofort zum Großmeister zu gehen oder herauszufinden, wie wir eine Audienz bei ihm bekommen können. Ich wüsste nicht, wer hier sonst Entscheidungen fällen könnte, außerdem heißt es, er wäre ein sehr weiser Mann. Vielleicht kann er viele unserer Fragen beantworten.«

Ghandar grunzte skeptisch auf und schnappte sich einen der letzten Kekse. »Ich hätte nur eine Frage: Wie viele tapfere, bewaffnete Männer könntet Ihr uns mitgeben und wie schnell? Alles andere überlasse ich Euch. Meine Artilleristen auf der Großen Mauer tüfteln gerade an einer neuen Technologie, sie testen, wie man die Bombarde mit Magie verbessern könnte, und was tue ich? Ich muss hier einen auf freundlichen Diplomat machen. Das ist doch völlig verrückt.«

Keiner der beiden Elben wagte, ihm etwas entgegenzusetzen, daher schimpfte Ghandar weiter vor sich hin, bis Dhannam sich schließlich den Umhang an der Schulter befestigte und der Teller mit den Keksen leer war.

»Wir können gehen«, sagte Dhannam laut und versuchte, so autoritär wie möglich zu klingen. Der Zwerg hörte auf, sich zu beklagen, und machte sich bereit, ihm zu folgen. Doch kaum waren die drei einen Schritt in Richtung Tür gegangen, öffnete sich die, und im Rahmen erschien die hohe, zurückhaltend wirkende Gestalt eines uniformierten Ritters.

Der Mann hatte ein langes, ernstes Gesicht, das man bestimmt nicht als schön bezeichnen konnte: Es war grob und kantig, als wäre es direkt aus einem Holzblock herausgeschnitzt, und die bronzefarbene Haut verstärkte diesen Eindruck noch. Helle, aufmerksame graue Augen zeugten von einer starken Persönlichkeit. Lange glatte Haare – kastanienbraun mit einem leichten Kupferstich – fielen ihm offen über die Schultern, was für einen Ritter der Finsternis sehr ungewöhnlich war. Auf dem rechten Jochbein hatte er eine Tätowierung, die eine stilisierte Sonne darstellte, und über der Schulter trug er einen hellen Holzstab, was Dhannam darauf schließen ließ, dass er ein Zauberer war.

»Ich hatte es ja gesagt, sie beobachten uns«, sagte Ulf Ghandar leise.

»Euch allen einen guten Morgen«, grüßte der Ritter gesetzt und neigte dazu ehrerbietig den Kopf. »Ich bin Araneus Calassar von der sechsten Kompanie, der oberste Zaubermeister des Tempels der Finsternis. Der Großmeister erwartet euch, ebenso der oberste Kampfmeister. Wenn ihr bitte mir folgen wollt.«

Sein Ton war höflich, aber distanziert. Den dreien blieb nichts anderes übrig, als hinter ihm herzulaufen. Der Ritter, der im Marschtempo den Korridor hinunter, und dann über verschiedene Treppen ging, blickte nicht einmal zurück, um zu kontrollieren, ob sie ihm noch folgten, und er sagte kein einziges Wort. Dhannam war überrascht.

Er wusste, dass der oberste Zaubermeister eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im Ritterorden war: Er war das Oberhaupt der dort lebenden Zauberer, und Dhannam konnte sich schwer vorstellen, dass eine so wichtige Person dazu abkommandiert wurde, ganz unbedeutende Reisende durch den Tempel zu geleiten. So wie es auch unwahrscheinlich war, dass jeder unbekannte Neuankömmling vom Großmeister, dem Oberhaupt des gesamten Ritterordens, und dem obersten Kampfmeister empfangen wurde, der an der Spitze der auf das Kämpfen spezialisierten Kompanien stand. Einschließlich ihres Führers waren dies die ranghöchsten Mitglieder des Tempels der Finsternis, und dass alle drei nun ihre Gesandtschaft begrüßen würden, konnte nur eines bedeuten: Die Wachen, die sie gestern Nacht eingelassen hatten, mussten ihre Namen und Titel weitergegeben haben. Denn für einen Königssohn und zwei Offiziere des vereinten Heeres der Völker war dieser Empfang durchaus angemessen.

Nach unzähligen Treppen gelangten sie wieder in die Vorhalle, in die sie der Pförtnerbruder letzte Nacht gebeten hatte, doch Araneus Calassar führte sie durch den Raum hindurch und dann über weitere Treppen nach unten. Der Beratungssaal musste sich also in einem unterirdischen Geschoss befinden, was Ghandar bestimmt gefiel, Dhannam jedoch gar nicht begeisterte. Er fühlte sich unter der Erde unwohl, selbst in einer so luxuriösen und freundlichen Umgebung wie dem Tempel.

Purpurne Vorhänge und bunte Teppiche bedeckten die Wände, von der Decke hingen kunstvoll verzierte Lampen und verströmten ein warmes Licht, das die goldenen Stuckarbeiten aufleuchten ließ. Ihr Führer blieb schließlich an einer Tür mit einem mächtigen Türklopfer und einem großen Schloss stehen, allerdings zog er keinen Schlüssel hervor und machte auch keine Anstalten, anzuklopfen. Er drückte einfach gegen die Tür und schon ging sie auf. Dann verharrte er, doch seine Haltung verriet, dass sie als Erste eintreten sollten. Das taten sie, und während Araneus Calassar hinter ihnen die schwere Tür wieder schloss, bewunderte Dhannam mit offenem Mund den riesigen Saal, der sich vor ihm erstreckte.

Ein langer, schmuckloser Tisch aus poliertem Ebenholz stand in der Mitte, aber er war ja auch nicht als Blickfang gedacht. An allen Wänden waren schwere dunkelrote und goldverbrämte Vorhänge drapiert, in den Stuckverzierungen der Decken zogen kleine Gestalten wilde Fratzen, von denen keine der anderen glich. Wo die Mauern nicht von Vorhängen verdeckt waren, hingen große Gobelins, die Szenen aus legendären Kämpfen der Ordensritter darstellten, auf einem war der Gott Kentar abgebildet, wie er, groß und blond, in seinem Kettenhemd dem ersten Großmeister einen Ring übergab. Im Hintergrund des Saales führten drei Stufen aus geschecktem Marmor zu einem erhöhten Podest, das teilweise hinter roten Vorhängen versteckt war. Dort loderte in einem großen dreifüßigen Bronzebecken ein Feuer. Rechts und links davon standen zwei riesige Statuen von Kentar und Darni, ebenfalls aus Bronze, die in Kleider aus Stoff gehüllt waren, zu ihren Füßen befanden sich zahlreiche Opfergaben und Wasserschalen, in denen brennende Kerzen schwammen. Die Luft war erfüllt von einem stechenden Weihrauchgeruch, der aus dem Dreifuß aufstieg. Ein Mann in der Uniform der Ritter kniete zu Füßen von Kentars Statue, offensichtlich ins Gebet vertieft.

Er war groß und kräftig, hatte bronzefarbene Haut, ein Zopf glänzender schwarzer Haare, der von einem goldenen Ring zusammengehalten wurde, hing ihm den Rücken hinab, am Gürtel trug er ein langes Schwert. Auch der zweite Mann im Saal musste einmal groß und stattlich gewesen sein, aber jeder konnte sehen, dass er nun schon sehr alt war. Seine Schultern waren gebeugt, seine Haare schlohweiß und die Zeit hatte unzählige Falten in sein Gesicht eingegraben. Er wandte sich ihnen mit einem freundlichen Lächeln zu, seine kleinen schwarzen Augen waren klar und zeugten von einem wachen Verstand. Trotz seines fortgeschrittenen Alters trug er die gleiche Uniform wie die anderen beiden und hatte eine Tätowierung auf der Wange, die ein Auge darstellen sollte. Als sie weiter in den Saal hineingingen, stand der Ritter, der ihnen zunächst den Rücken zugewandt hatte, auf und ging zu seinem älteren Ordensbruder, der bereits am Tisch saß. Er hatte ein markantes Gesicht und violette Augen und wirkte ausgesprochen ernst. Seine Tätowierung bestand aus drei waagrechten übereinanderliegenden Linien, die wie Kratzer aussahen.

»Setzt euch!«, forderte er sie mit befehlsgewohnter Stimme auf. Er selbst nahm als Erster Platz, und Araneus Calassar, der sich hinter ihnen gehalten hatte, eilte nun an ihnen vorbei und setzte sich zu seinen Ordensbrüdern. Dhannam fiel auf, dass die Ritter etwas Unverständliches murmelten, bevor sie sich niederließen. Etwas ratlos gingen die drei Gäste ebenfalls an den Tisch und nahmen Platz. Dhannam hatte sich die ganze Zeit unwohl gefühlt, weil man ihnen nichts erklärt hatte, doch jetzt beruhigte ihn allein die Gegenwart des alten Ritters, warum, konnte er sich auch nicht erklären. Diese ehrwürdige Persönlichkeit konnte nur der Großmeister des Tempels der Finsternis sein, das Oberhaupt des Ordens, dessen Name nie, nicht einmal von seinen Ordensbrüdern, ausgesprochen wurde. Seine Autorität wurde innerhalb dieser Mauern unter keinen Umständen infrage gestellt. Nun ergriff er das Wort und seine Stimme klang immer noch voll, das Alter hatte ihr nichts anhaben können.

»Seid mir willkommen«, sagte er. »Ihr braucht mir nichts zu erklären, ich weiß, wer ihr seid und was euer Begehr ist. In meiner Jugend kämpfte ich in der siebten Kompanie, der Kompanie der Wahrsager, und ich habe noch nicht vergessen, was ich damals alles erlebt habe. Auch jetzt noch lerne ich mit jedem Tag, den ich älter werde, etwas dazu, und Talon hat mir viele Visionen geschickt von dem, was dieser Tage in den acht Reichen geschieht. Wärt ihr jetzt nicht zu uns gekommen, wären wir sicher bald aus eigenem Antrieb aufgebrochen. Unsere Krieger, unsere Zauberer und unserer Handwerker machen sich schon bereit, denn alle werden gebraucht.«

Dhannam nickte und versuchte, seine Begeisterung nicht allzu offen zu zeigen. Bei den Worten des Großmeisters war ihm ein riesiger Stein vom Herzen gefallen, er schaute sich nach Lisannon und Ulf Ghandar um und stellte fest, dass sogar der Zwerg zufrieden aussah. »Ich danke Euch«, antwortete er schließlich und neigte demütig den Kopf. »Wir hofften, bei Euch auf Verständnis und auch auf Hilfe zu stoßen, aber das übertrifft unsere kühnsten Erwartungen. Mir fehlen die Worte, um die Dankbarkeit aller acht Völker auszudrücken.«

»Es braucht auch keine Worte«, beruhigte ihn der Großmeister. »Seit Gründung dieses Tempels ist es unsere Aufgabe, den Völkern beizustehen. Immer wachsam sein, das ist der Befehl, den Kentar uns hinterlassen hat. Eigentlich müssten die Völker uns tadeln, weil wir erst so spät eingreifen.«

»Wir hatten zunächst auch gedacht, dass wir ohne eure Unterstützung auskommen könnten«, warf Dhannam so höflich ein, wie er konnte. »Vielleicht hätten wir nicht so lange auf unserem Stolz beharren sollen.«

»Dann steht es unentschieden zwischen uns«, sagte der Großmeister abschließend. Er klang jetzt wohlwollend und beinahe fröhlich. »Wir benötigen noch ein paar Tage, bis unsere Vorbereitungen abgeschlossen sind, dann können wir gemeinsam aufbrechen. Darf ich euch unseren tapferen Kommandanten vorstellen? « Er wies auf den schwarzhaarigen Mann neben sich. »Vaskas Rannaril von der elften Kompanie, der oberste Kampfmeister des Tempels der Finsternis und ein verdienstvoller Krieger. Er und Meister Calassar werden die Abordnung anführen, die euch folgen wird. Ich bin mittlerweile zu alt für Kriege und Schlachten.«

Dhannam hielt Vaskas Rannarils stolzem Blick stand und ergriff die Hand, die dieser ihm darbot. Man konnte dem obersten Kampfmeister ansehen, dass er einen unbeugsamen, untadeligen Charakter besaß und unerbittlich gegen Freund wie Feind war. Dhannam war froh, dass sie auf derselben Seite kämpfen würden. Und er hatte natürlich bemerkt, dass auch Ulf Ghandar bereits die Hand des Kampfmeisters geschüttelt hatte, nur sehr selten zeigte der Zwerg mit dieser Geste, dass er jemanden schätzte und er diesen seines Respekts für würdig erachtete. Weder Dhannam noch Lisannon war diese Ehre zuteilgeworden, wie auch kaum einem Einwohner der acht Reiche, der nicht zum Volk der Zwerge gehörte.

»Ich bin sehr glücklich, so großartige Menschen zu meinen Verbündeten zählen zu dürfen«, erklärte Dhannam. Er erinnerte sich nicht, sich jemals so höflich und diplomatisch ausgedrückt zu haben, aber zum einen fühlte er sich in Gegenwart der Ritter der Finsternis befangen, zum anderen hatte er wirklich das Verlangen, seine große Dankbarkeit für ihre prompte Hilfsbereitschaft auszudrücken.

Er bedauerte es allerdings, so schnell an die Front zurückzumüssen, ein Gedanke, für den er sich schämte, doch alles ging wesentlich rascher, als er es erwartet hatte. Was Ghandar und wahrscheinlich auch Lisannon nur recht war, empfand er als große Belastung. Er schaute in das ernste Gesicht von Vaskas Rannaril und dachte, dass sich der oberste Kampfmeister bestimmt gut mit General Asduvarlun verstehen würde. Wenn ihn sein erster Eindruck nicht trog, waren sich die beiden charakterlich sehr ähnlich. Den obersten Zaubermeister konnte er nicht so leicht einschätzen, einerseits wirkte er offen und herzlich, andererseits auch irgendwie bedrohlich.

Alles in diesem großen Saal kam Dhannam ein wenig verzerrt vor, vielleicht lag es an der spärlichen Beleuchtung und daran, dass das Feuer aus dem Dreifuß zuckende Reflexe auf die goldenen Stuckverzierungen warf, oder an diesem strengen Weihrauchgeruch. Er konnte sich gut vorstellen, dass die Ritter der Finsternis tatsächlich Hüter vieler Geheimnisse waren, ganz wie es die alten Legenden besagten.

Doch selbst wenn er viele Jahre im Tempel der Finsternis verweilte, er würde niemals herausfinden, wie viele davon der Wahrheit entsprachen, und Dhannam hatte nur wenige Tage zur Verfügung, um Antworten auf seine Fragen zu bekommen.



Den Nachmittag verbrachten Dhannam, Lisannon und Oberst Ghandar in einem kleinen Saal irgendwo in den verwinkelten Tiefen des Tempels damit, sich mit den beiden Anführern vertraut zu machen, die sie auf ihrer Mission begleiten sollten. Dhannam war es noch nicht vollkommen gelungen, seine leichte Befangenheit zu überwinden, die er in Gegenwart der beiden Ritter in Uniform verspürte, aber er hatte zumindest schon herausgefunden, dass Araneus Calassar ein begnadeter Erzähler war, der viele Geschichten und Anekdoten kannte, die er auch mit sichtlichem Gefallen weitergab. Anschaulich unterstrich er seine Worte mit lebhaften Gesten und beantwortete geduldig alle Fragen, die sie ihm stellten. Er hatte ihnen erklärt, dass ihre Unterredung mit dem Großmeister wegen dessen fortgeschrittenen Alters so kurz ausgefallen war, und ein ehrfürchtiger Schauder war Dhannam über den Rücken gelaufen, als er hörte, dass dieser vor Kurzem vierhundert Jahre alt geworden war. Menschen wurden für gewöhnlich höchstens dreihundert Jahre alt, vierhundert waren wirklich eine große Ausnahme, doch Calassar hatte diese bemerkenswerte Tatsache fast beiläufig erwähnt.

Sein Stab war aus dem Holz der Steineiche, einem Baum, der für Anpassung und Beständigkeit stand. Dhannam fand, dass diese Eigenschaften auf den obersten Zaubermeister voll und ganz zutrafen. Die größte Überraschung, die Calassar für sie bereithielt, war wohl sein fetter Kater, der irgendwann ganz lässig ins Zimmer spaziert kam und sich auf seinen Knien zusammenrollte.

»Hiermit stelle ich euch Rufus vor«, sagte Calassar lachend. Er streichelte den Kater, der sofort zu schnurren anfing. »Mein treuer Gefährte und zuverlässiger Freund.«

»Besitzt er ebenfalls magische Kräfte?«, fragte Dhannam und beugte sich neugierig vor. Der Kater starrte ihn aus großen grünen Augen an.

Calassar schüttelte nachsichtig den Kopf. »Nein, das kann ich nicht behaupten«, meinte er. »Rufus verfügt über keine besonderen Eigenschaften, er beherrscht weder unsere Sprache, und obwohl ich glaube, dass er mich besser versteht als die meisten Leute, hat er bis jetzt noch nicht zu erkennen gegeben, dass er irgendwie zaubern kann. Er ist einfach nur mein Kater. Aber ich kann euch versichern, dass er ein ausgezeichneter Gesellschafter ist.«

Dhannam hatte daran keinerlei Zweifel, aber dennoch war er ein wenig enttäuscht. Er hatte erwartet, dass das Haustier eines so mächtigen Magiers ebenfalls eine geheimnisvolle Aura umgeben musste, und er hätte sich überhaupt nicht gewundert, wenn Rufus sich als sprechender Kater erwiesen oder seine Gestalt verändert hätte. Allerdings hatte sich der Kater von ihm hinter den Ohren kraulen lassen, und Dhannam hatte beschlossen, ihn nett zu finden.

Ulf Ghandar dagegen teilte seine freundschaftlichen Gefühle für den Kater überhaupt nicht, wie sie bald merkten. Der Zwerg hielt es ganz allgemein für eine Schwäche, wenn man sich mit Haustieren, Zierpflanzen oder anderen lebendigen Dingen umgab, nur um deren Gesellschaft zu genießen. Rufus dagegen schien sich gleich auf den ersten Blick in den Zwerg verliebt zu haben, und momentan lag er auf Ghandars Knien, der nicht so genau wusste, ob er darüber mehr bestürzt oder eher verärgert sein sollte, und schien sich überhaupt nicht mehr von dort fortbewegen zu wollen.

Dhannam und Araneus Calassar unterhielten sich über verschiedene Themen, unter anderem über die Geschichte der Ritter der Finsternis und ihre vergangenen Bündnisse mit den Elben. Am Nebentisch hatte Lisannon Seridien den ernsten Vaskas Rannaril zu einer Partie Khandan herausgefordert und dieser entpuppte sich als zäher Gegner, der mindestens ebenso schwer in Bedrängnis zu bringen war wie Allan Sirio. Auch beim Spielen zeigte er kaum Gefühle, sodass man seine Züge kaum vorhersehen konnte, was Dhannams ersten Eindruck von ihm nur bestätigte: Vaskas Rannaril war ein zupackender Mann, der nicht viele Worte machte. Trotz allem schien Lisannon das Spiel zu gewinnen, wahrscheinlich zum ersten Mal, seit er die Spielregeln erlernt hatte, und darüber war er so aufgeregt wie ein kleiner Junge.

»Der fällt gleich in Ohnmacht«, grummelte Ghandar abfällig, während er gleichzeitig versuchte, Rufus zu ignorieren, der mit halb geschlossenen Augen zufrieden auf seinen Knien schnurrte. »Was dieser Sirio Euch nur alles in den Kopf setzt. Ich habe diesem Druiden ja schon immer misstraut.«

»Ach, Druiden sind immer etwas merkwürdig«, pflichtete Calassar ihm bei. »Ist Sirio nicht ein Familienname der Shardari? Ich würde ihn gerne einmal kennenlernen, denn Ihr kommt ständig auf ihn zu sprechen.«

»Er ist unbestritten eine bemerkenswerte Persönlichkeit«, räumte Ghandar ein. »Auf seine Art. Aber wenn Ihr mich fragt, wirkt er doch nicht so vertrauenswürdig. Eure Haltung ist mir lieber: weniger Scherze und mehr Fakten. Ich habe die jungen Männer gesehen, die sich im Hof üben. Das nenne ich gesunde Anstrengung!«

Calassar nickte erfreut. »Das sind unsere Novizen«, erklärte er. »Hier im Tempel glauben wir, dass man die eigenen Ziele nur erreichen kann, wenn man sich anstrengt. Und wir glauben auch an Treue. Wenn jemand hierherkommt und darum bittet, in den Orden aufgenommen zu werden, dann interessiert uns seine Vergangenheit überhaupt nicht, für uns zählt nur, wie er sich in der Zukunft verhält. Viele unserer Ordensbrüder haben schon nicht mehr an eine zweite Chance geglaubt. Nehmt Vaskas hier.« Damit wies er kurz nach hinten zum obersten Kampfmeister, der Lisannons Strategie doch noch Einhalt geboten hatte und dessen Begeisterung damit einen Dämpfer versetzte. »Als er hier ankam, war es ein Wunder, dass man ihn nicht gefangen und getötet hatte.«

»Warum?«, fragte Dhannam neugierig. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Frage vielleicht etwas indiskret war. »Falls Ihr darüber reden wollt«, fügte er schnell an und schaute beunruhigt zu Vaskas, der ihm den Rücken zukehrte. Calassar blieb allerdings ganz ruhig.

»Er hatte immer nur Pech«, sagte er. »Er war früher ein Räuber, ganz wie sein Vater, danach ein Söldner, der sich hier in der Umgebung von irgendwelchen Großgrundbesitzern anheuern ließ. Aber er hatte seinen Arbeitgeber betrogen, ich weiß nicht mehr, ob es um Geld ging oder um einen Gefallen für einen alten Freund, der nicht ganz mit dem Gesetz vereinbar war. Der forderte daraufhin seinen Kopf und hetzte ihm dann all seine Schergen auf den Hals. Als Vaskas hier ankam, war er völlig erschöpft, die Jäger waren ihm auf den Fersen und er flehte uns an, wir mögen ihm doch Unterschlupf gewähren. Er kannte uns nicht und hatte nicht im Traum daran gedacht, eines Tages ein Ritter zu werden, ihm ging es nur darum, seine Haut zu retten. Wir versteckten ihn und er blieb. Er erkannte, dass er noch einmal ganz von vorne beginnen konnte, und jetzt ist er der oberste Kampfmeister. Er ist sehr geschickt im Umgang mit Waffen und nur wenige sind so entschlossen wie er.«

Dhannam dachte schweigend über seine Worte nach und darüber, wie man diese Geschichte deuten konnte. Vaskas versuchte immer noch, die Partie Khandan doch noch zu seinen Gunsten zu wenden und nicht gegen Lisannon zu verlieren, er schien überhaupt nicht mitbekommen zu haben, dass sie über ihn gesprochen hatten. Dhannam schaute wieder in das offene, bronzefarbene Gesicht von Araneus Calassar. »Und Ihr? Wie seid Ihr zu den Rittern gekommen?«

Der oberste Zaubermeister machte eine knappe Handbewegung, als wolle er etwas Unwichtiges schnell beiseitewischen. »Über mich gibt es wenig zu erzählen«, antwortete er leichthin. »Ich habe schon immer hier gelebt. Wenn Mädchen unverheiratet schwanger werden, ist das eine große Schande bei den Menschen. Dann legen sie oft ihre Kinder hier vor den Toren des Tempels ab und ich bin so ein Findelkind. Meine ganze Kindheit und Jugend habe ich von nichts anderem geträumt, als ein Ritter zu werden, und ich habe so früh wie möglich mein Noviziat angetreten. Dann stellte sich heraus, dass ich das Zeug zum Zauberer hätte, und diese Fähigkeiten habe ich mit Begeisterung ausgebaut. Im Grunde bin ich meiner Mutter sogar dankbar dafür, dass sie mich ausgesetzt hat, außerhalb des Tempels hätte ich als Kind ohne Vater bestimmt kein schönes Leben gehabt. Und dann habe ich Rufus gefunden.« Als der Kater seinen Namen hörte, sprang er von Ghandars Knien herunter und ließ sich von seinem Herrn streicheln. Der Zwergenoberst wirkte sehr erleichtert. »Eines Tages trieb er sich in unserem Innenhof herum, wir haben niemals herausgefunden, woher er eigentlich gekommen war, noch so ein Streuner wie ich. Vielleicht verstehen wir uns deshalb so gut.«

Nachdenklich streichelte er weiter über das rötliche Fell des Tieres und einen Moment lang herrschte Schweigen im Raum, bis Lisannon begeistert jubelte, weil er seine erste Partie Khandan gewonnen hatte. Vaskas drehte sich um und musterte sie beide kritisch, Dhannam drehte sich sofort etwas zur Seite.

»Was erzählst du denn da für Geschichten, Araneus?«, rief der oberste Kampfmeister laut und versuchte, eine scherzhafte Note in seine Stimme zu legen, was sich bei ihm allerdings etwas seltsam ausnahm. »Doch nicht etwa die herzzerreißenden Geschichten unseres Lebens? Zwei Außenseiter, die durch die Uniform zu neuem Ansehen kamen?« Er sprang auf und klopfte auf den bronzenen Griff des großen Säbels an seiner Seite. »Ich habe gerade eine schmähliche Niederlage erlitten und dabei galt ich doch als unbesiegbar.«

»Man kann eben nie wissen«, sagte Calassar. »Warum begleitest du unseren Zwergenfreund hier nicht einmal in die große Waffenkammer? Ich bin mir sicher, er würde sich sehr darüber freuen.«

Ghandar hatte nur darauf gewartet. Er erhob sich flink von seinem Stuhl und verließ kurz darauf zusammen mit Vaskas das Zimmer, bereits in ein intensives Gespräch über Streitkolben und Morgensterne vertieft. Rufus trottete hinter ihnen her.

»Den wird Oberst Ghandar so schnell nicht wieder los«, sagte Calassar und seufzte ergeben, während er seinen Kater um die Ecke verschwinden sah. »Rufus ist sehr anhänglich, wenn er seine Zuneigung erst einmal verschenkt hat.«

Sie lachten beide und Dhannam bemerkte verwundert, dass es ihm völlig normal vorkam, mit diesem Unbekannten zusammen zu lachen. Wie gerne würde er noch länger im Tempel der Finsternis bleiben. Es war zwar nicht so wie zu Hause, aber doch ein sehr tröstlicher Ort.

Doch er zwang sich, die anderen beiden nicht merken zu lassen, wie traurig er war.

THARKARÚN – Krieger der Nacht
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