EINUNDSECHZIG

IM GOBLINREICH SAH der Wald anders aus. Hier strahlten die Nadelbäume, hochgewachsene dunkle Tannen, von denen jede mindestens hundert Jahre alt sein musste, eine düstere, altehrwürdige, feuchte Kälte aus. Trockene Blätter und Erdklumpen hingen an Thix Velinans Stiefeln fest und ein dunkles klebendes Zeug, von dem er nicht einmal wissen wollte, was es war. Die Kälte war jetzt deutlich zu spüren, was vielleicht auch daran lag, dass sie mit dem hereinbrechenden Winter immer weiter nach Norden gezogen waren. Nun lag der Undurchdringliche Hort nicht mehr wochenlange Märsche, sondern nur noch ein oder zwei Tage entfernt, jedenfalls nach dem, was Thix wusste. Vielleicht handelte es sich auch um Stunden. Sie hatten allerdings nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo sich die legendäre Festung befand. Allein der Magus kannte ihre Position, und der hatte nicht angedeutet, wie viel Strecke Weges sie noch von ihrem Ziel trennte. Und wenn sie den Undurchdringlichen Hort erreichten, mussten sie erst noch ein Mittel finden, um in sein Zentrum zu gelangen und den Weißen Stein zu zerstören, zwei mühevolle Aufgaben, die noch vor ihnen lagen. Thix wusste, dass ihm schon beim Anblick der schwarzen Festungsmauern ein Schauer den Rücken hinunterlaufen würde, ganz zu schweigen von den Prüfungen, die sie bei der großen Abrechnung Auge in Auge mit dem Schicksal erwarteten.

Verglichen mit den Schwierigkeiten, die ihre Reise seit der Heiligen Erde begleitet hatten, verliefen diese letzten Meilen durch den Wald hier im Norden ungewöhnlich ruhig. Ihr einziger Feind war jetzt die Kälte. Es hatte sogar aufgehört zu regnen und die Tropfen prasselte nicht mehr durch die Zweige der Tannen auf sie herunter. Die dunklen Flecke zwischen den Bäumen waren hier auch keine Gremlins, die auf sie lauerten, sondern nur Schatten. Und auch sie selbst stellten keine Gefahr mehr füreinander dar. Sie mussten sich nicht mehr vor Ardrachans Anfällen von Wahnsinn fürchten, und die Sorge, dass Shakas Magie die Oberhand gewinnen könnte oder Farik von jemandem besessen war, konnte man jetzt ausschließen. Jetzt mussten sie nur noch eines fürchten: die Zukunft. Und die stand unmittelbar bevor.

Thix’ Finger glitten über die Nadel, die Aldamir aus Nil’ Drasha ihm gegeben hatte und die immer noch auf seiner Weste steckte. Er wusste selbst nicht, warum er sie trug. Doch die Nadel erinnerte ihn daran, dass jemand auf das Ende des Krieges wartete, damit er in sein Heim und zu seiner Familie zurückkehren konnte, zwei Dinge, die er schon lange nicht mehr sein Eigen nannte. Und Thix stellte fest, dass er dem Unbekannten, der ihm Freundschaft und Anteilnahme entgegengebracht hatte, darum beneidete.

Er hatte immer daran geglaubt, das Leben eines Gesetzlosen sei die beste Wahl für ihn, doch nun ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er gern alles aufgeben und in seine Geburtsstadt Shir Valdya zurückkehren würde. Er erinnerte sich kaum noch an die Stadt am Meer. Voraussetzung war allerdings, dass sie das alles hier überlebten und die acht Reiche es schafften und er gemeinsam mit ihnen. Sich dorthin zurückzuziehen, wo niemand seine Vergangenheit und die Verbrechen, mit denen er sich befleckt hatte, kannte, einen anderen Namen anzunehmen, sich auszuruhen und zu leben wie jeder andere! Nicht mehr und nicht weniger würde er von Gavrilus fordern, falls er den Undurchdringlichen Hort lebend verließ. Er würde den alten König aus dem ewigen Versprechen entlassen, mit dem er die Zukunft seiner einzigen Tochter für das Wohl seines Volkes geopfert hätte.

Adilean Eletilla könnte dann heiraten, wen sie wollte, und er würde nicht mehr für sich fordern, als seinen Namen ändern zu dürfen, um die eigene Vergangenheit auszulöschen und noch einmal von vorn anfangen zu können. Danach würde er nie wieder fliehen müssen.

Wenn, ja, wenn er das letzte Kapitel dieser Geschichte überlebte.

»Ist es noch weit?«, fragte eine raue Stimme vom Ende des Zuges. Pelcus Vynmar natürlich, wer sonst? Thix war dem Zwerg langsam dankbar für seine Fähigkeit, auch die schlimmste Situation alltäglich erscheinen zu lassen. Der Magus drehte sich um. Verannon saß nicht mehr auf seiner Schulter, und Thix bemerkte, dass er sich wieder einmal eine Weile nicht hatte blicken lassen. Welche Aufgabe er jetzt wohl für seinen Herrn erfüllen musste? Zu wem war der Vogel ausgesandt worden? Vielleicht zu Allan Sirio, seinem verlängerten Arm an der Großen Mauer, oder zu Dan Ree, der von den hohen Wällen Adamantinas herab aufmerksam den Lauf der Welt um seine unerschütterliche Festung verfolgte?

Thix ließ die Hand über den Griff seines neuen Schwertes gleiten und dachte dabei daran, dass es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, dass Kentar, der Starke, mit seinem Hammer eine Waffe geschmiedet hatte, damit er, Thix Velinan, sie einmal schwänge.

»Ich sehe nicht, was so seltsam an dieser Frage ist«, erklärte Pelcus inzwischen und stützte seine großen Hände auf seinen Gurt. »Wenn wir alle dem Tod entgegengehen, können wir ebenso gut erfahren, wie viel bis dahin noch fehlt. Sonst bleibt mir vielleicht gar keine Zeit mehr, Reue zu heucheln, auf dass Sirdar mir gnädig sei.«

Seine witzige Bemerkung brachte Farik, Arinth, Morosilvo und Ametista zum Lachen – die beiden Letzteren verstummten allerdings sofort wieder, als sie merkten, dass sie gemeinsam lachten.

Doch das konnte den tiefen Ernst des Magus nicht erschüttern. Seine Antwort war knapp wie so oft: »Nicht viel«, sagte er schlicht. »Ich könnte auch sagen, nichts. Nur noch ein Dutzend Schritte.«

Diese Nachricht schlug ein wie eine der Sprengladungen, die Arinth an seinem Schulterriemen trug, und der Gnom wiederholte dann auch ziemlich fassungslos: »Ein Dutzend Schritte?«

Das war noch unglaublicher als der Moment, in dem die gewaltige Silhouette Adamantinas vor ihren Augen erschienen war. Jetzt lag ihr Schicksal so nah, dass Thix gleichsam seinen kalten Hauch im Nacken spürte. Er umklammerte Aldamirs Nadel, da ihm nichts anderes einfiel, woran er sich sonst festhalten konnte, und befürchtete, dass er, wenn er sich jetzt umdrehte, Sirdar erblicken könnte, der sich an einen der Tannenstämme lehnte und ihn mit seinen strengen Silberaugen ansehen würde.

Der Magus nickte nur. »Hinter diesen Bäumen dort«, sagte er und seine Hand deutete auf den Waldrand direkt vor ihnen. »Zwölf Schritte: Wollt ihr sie gehen?«

Niemand antwortete ihm. Aber Shaka nahm seinen Stab vom Rücken und schlug mit seiner Spitze auf den Boden, sodass Funken aufstoben. Ruhig und entschlossen, den Blick starr vor sich gerichtet, legte er die zwölf Schritte zurück und verschwand hinter den Bäumen, als hätte ihn das Nichts verschluckt. Thix bemerkte, dass er ihm folgte, ohne recht zu begreifen, wie: Waren es seine Füße, die ihn gegen seinen Willen vorwärtszogen, oder waren es vielleicht Sirdars Augen auf seinem Rücken, die ihn vorantrieben?

Jetzt, da der Dämon den letzten, dünnen Schleier zerrissen hatte, der sie noch vom Ziel ihrer Reise trennte, mussten alle ihm folgen.

Thix brauchte sich nicht umzudrehen, er wusste auch so, dass die anderen genau wie er in einer Mischung aus Trance und innerem Drang, das Ende zu erreichen, diesen Weg zurücklegten. Zwischen den hohen Tannenstämmen öffnete sich ein Durchgang. Die Kälte grub sich wie eine Kralle unter seinen Umhang, ein beißender Geruch drang in seine Nasenlöcher, und er begriff, dass diesmal kein Gremlin in ihrer Nähe war, sondern dass es der Ursprung von allem war. Die Quelle war die Magie selbst, die das Schwarze Idol am Anbeginn der Zeit in die Luft der Reiche verströmt hatte. Die schwarze Magie, die die Völker unter großen Opfern gebannt hatten und die Tharkarún in sich aufgenommen hatte und die sie jetzt zur Rettung aller freisetzen mussten.

Hinter den Bäumen erhob sich tatsächlich der Undurchdringliche Hort, daran glaubte er, noch bevor er den letzten Schritt getan hatte.

Als er ihn schließlich tat, verwandelte sich sein Glaube in Gewissheit.

Kein anderer Wald endete so abrupt, Thix hatte genug in seinem Leben gesehen, um dies zu wissen. Kein Wald endete in einer gerade gezogenen Linie, einer hohen Mauer aus Bäumen unter einem bleiernen Himmel. Bäume, die aufrecht und stolz dastanden wie Wachen am Rand einer basaltgrauen kahlen Fläche. Doch genau dieses Bild sahen sie jetzt vor sich: Bäume, die unter dem fahlen Himmel einen weiten Ring um diese Einöde bildeten, in der kein Grasbüschel wuchs. Die schwarze Magie hatte wohl jeden Stein hier durchdrungen,Thix konnte sie unter seinen Füßen spüren. Und vor ihren erstaunten Augen lag nun der Undurchdringliche Hort.

Shaka, der Erste ihres Zuges, betrachtete ihn mit einem seltsamen Blick, wie jemand, der weiß, dass er sein Ziel erreicht hat. Vielleicht war er der Einzige, dem dies wirklich bewusst war. Sie waren die Straße, die hinab in den Schatten führte, bis zum Ende gegangen und hatten nun das Herz der Dunkelheit selbst erreicht. Denn nun stand die Festung vor ihnen, die als ewiges Bollwerk zur Rettung der Völker errichtet worden war und sich dann in das unbesiegbare Ungeheuer verwandelt hatte, das sie mit Tod und Zerstörung bedrohte.

Der Undurchdringliche Hort musste auf seine Schöpfer wie ein Wunder gewirkt haben, als sie ihn zum ersten Mal betrachten konnten und wussten, dass das Böse, welches die Welt bedroht hatte, nun dort drinnen eingeschlossen war. Doch jetzt hatte die gewaltige Festung mit den dunklen Mauern in den Augen der acht Verbrecher, die man dorthin gesandt hatte, nichts Wunderbares mehr.

Sie war nur noch schrecklich. Ein formloses Etwas, jenseits jeder Vernunft, kein riesiges friedliches Raubtier wie Adamantina, sondern abweisend, finster und eigentümlich verkehrt. Die schwarze Magie musste in jeden einzelnen Stein eingedrungen sein und war nun untrennbar mit der Festung verbunden. Sie hatte ihre Form verändert und sie in etwas Grauenerregendes verwandelt. Bei dem Gedanken, dass sie in den gewaltigen Bauch dieses Monsters schlüpfen mussten, um einen Dolch in sein Herz zu rammen, hielt Thix den Atem an.

Der Undurchdringliche Hort schraubte sich senkrecht mit um einen Mittelpunkt angeordneten Mauern aus schwarzem Vulkanstein nach oben. Seine Türme bohrten sich wie zerbrochene Zähne oder ausgefahrene Krallen in den Himmel. Er war fensterlos, es gab nicht einmal eine Schießscharte. Die Festung war nicht erbaut worden, damit hier jemand leben konnte, wohl eher, um darin zu sterben. Vor ihnen erhob sich das große verschlossene Haupttor, und Thix fragte sich, warum es der Baumeister überhaupt entworfen hatte, wenn doch niemand die Festung je betreten sollte.Vielleicht, um sich selbst eine – vollkommen aussichtslose – Möglichkeit zur Flucht zu lassen? Oder um den, der sein Genie auf die Probe stellen wollte, herauszufordern?

Zu beiden Seiten des Tors befanden sich die einzigen schmückenden Elemente der Festung: zwei große Statuen aus dem gleichen dunklen Stein, die dort aufgestellt waren wie Wachen. Sie hatten muschelweiße pupillenlose Augen und stellten einen Mann und eine Frau dar. Welchem Volk sie entstammten, ließ sich nicht erkennen. Auf Thix wirkten sie mindestens genauso bedrohlich wie alles Übrige, vielleicht sogar noch bedrohlicher. Als er endlich die Kraft fand, den Blick von den beiden abzuwenden, und sich umdrehte, sah er, dass die anderen ebenfalls stehen geblieben waren und mit dem gleichen verlorenen Gesichtsausdruck wie er auf das schreckliche Bild starrten. Der Magus, der hinter ihnen ging, hatte endlich den Wald verlassen und wirkte jetzt so furchtbar gealtert wie nie zuvor. Er stützte sich schwer auf seine verzierte Lanze, doch diesmal nicht, weil ihm die Kraft fehlte, denn in seinen Augen brannte noch das alte Feuer.

»Kommt her«, rief er, aber nicht mit dröhnender Stimme wie sonst, sondern tief und grollend, dass es sich in der Stille wie der Vorbote eines näher kommenden Gewitters anhörte. Alle sammelten sich um ihn, keiner erhob Einwände oder stellte Fragen.

In ihrem Tun lag etwas Feierliches, als führten sie seit Langem vorbestimmte Rituale aus, und vielleicht war das ja auch der Fall. Schließlich hatten die Götter ihre Waffen im Dunkel der Zeiten geschmiedet und hatten vielleicht schon damals das Ende dieser Geschichte vorausgesehen.

»Bevor wir weitergehen, muss ich euch einiges erklären«, sagte der Magus. »Von jetzt an werde ich euch nicht mehr helfen können, ihr müsst alles selbst tun, selbst verstehen und selbst entscheiden. Es ist eure Mission, so hat es die Prophetin vorausgesagt. Ich weiß, dass ihr gegen euren Willen bis hierher gekommen seid, aber ich weiß auch, dass ihr jetzt genau wisst, worum es geht. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Genau in diesem Augenblick bricht über der Großen Mauer die Nacht herein und Tharkarún weiß sehr gut, dass wir hier sind. Inzwischen haben es ihm die Gremlins angekündigt; ich kann selbst auf große Entfernung ihre gespannte Energie spüren. Zum ersten Mal seit seinem Angriff muss er etwas fürchten, und er wird versuchen, uns zuvorzukommen. Warum ist er dann nicht hier? Weil er nicht glaubt, dass es euch gelingen könnte, sämtliche Schutzzauber zu brechen und tatsächlich in den Hauptsaal zu gelangen. Das ist Tharkarúns erster Fehler: Er empfindet den Undurchdringlichen Hort so sehr als sein Eigentum und ist so von der Macht des Steins durchsetzt, dass er nicht mehr fähig ist, sich tatsächlich vorzustellen, jemand könnte ihn zerstören. Er ist selbstherrlich und spielt gern Katz und Maus. Er glaubt, er könne die Völker vernichten, bevor ihr den Stein erreicht, und ist überzeugt, dass er rechtzeitig hier sein wird, um euch zu zerquetschen. Das ist vielleicht sein zweiter Fehler. Aber alles hängt von euch ab. Jeden Augenblick können die Schalen der Waage nach der einen oder anderen Seite ausschlagen. Was auch immer ihr tut, es gibt kein Zurück. Doch ihr sollt eins wissen: Es ist möglich, in den Undurchdringlichen Hort einzudringen. Es war anmaßend von den Völkern zu glauben, sie könnten einen Felsblock hervorbringen, den niemand zerstören kann. Diese Festung zu bauen und den Stein zu erschaffen, war eine Lösung, aber keineswegs die richtige. Erinnert euch, was daraus entstanden ist. Man hätte sie niemals in Betracht ziehen dürfen und ihr muss endlich ein Ende gemacht werden. Doch ihr habt Glück. Genauso absurd wie die Tatsache, dass unser Feind gerade aus unserem Wunsch nach Frieden entstanden ist, ist es, dass euch Tharkarún eure Aufgabe geradezu erleichtert. Größte Macht ist nicht gleichbedeutend mit größter Weisheit. Auf seinem Weg aus der Festung hat er nicht bemerkt, dass er dabei die meisten der zweihundert Schutzzauber gebrochen hat, die unbedeutenderen auf den Fluren, die wem auch immer den Durchgang verwehren sollten, und das ist sein dritter Fehler. Aber manche Zauber hat er nicht zerstört, weil man sie nur überwinden kann wie Prüfungen. Es sind acht, einer für jedes Volk. Die größten Zauberer aus alter Zeit haben sie geschaffen, aber ihr könnt sie überwinden, denn Tharkarúns vierter Fehler ist es, dass er euch unterschätzt. Erinnert euch dagegen an das, was ich euch vor langer Zeit über eure Stärken gesagt habe. Denkt daran, dass ihr Kinder aller Völker seid und euch gegen sie auflehnt. Die Prophetin hat gesagt, nur ihr könnt es schaffen. Und wie immer hat sie sich nicht geirrt.«

Keiner nickte, doch das mussten sie auch nicht, er wusste auch so, dass sie begriffen hatten.

»Gehen wir«, sagte Shaka.

Die Nacht hatte sich wie ein Laken über die Große Mauer gelegt. Alle Truppen hatten sich mit dem Mut der Verzweiflung außerhalb des Schutzes dieses Bollwerks aufgestellt. Nach langer Zeit Seite an Seite, alle Völker vereint. König Gavrilus Sulpicius mit seinem Sohn Dhannam. Elirion Fudrigus, der erste König der Menschen, der einen Zauberstab trug wie ein Magier, hinter ihm der schweigsame Herg und neben ihm der getreue Huninn. Brennus Astair, Befehlshaber über die Shardari, kalt und vernünftig wie immer, das freundliche Jungengesicht mit den braun geschminkten Augen von dem üblichen schwarzen Tuch verhüllt, zwischen seinen Schwestern Naime und Vàna, die heimlich die Hand ihres Verlobten Chatran hielt. Die kampfbereiten Ritter der Finsternis in ihren rot-schwarzen Uniformen: Vaskas Rannaril fuhr mit dem Daumen über die Rillen am Griff seines Krummsäbels und seine violetten Augen blickten gleichmütig, weil er schon viele Schlachten erlebt hatte. Und dann die Oberhäupter der Völker: die beiden Feenköniginnen in zwei identischen silbernen Rüstungen,Viyyan Lise in einem mit Saphiren verzierten goldenen Panzer, der oberste General der Goblins in seiner Paradeuniform, der Präsident der Gnomenrepublik mit den vielen Rangabzeichen auf den Schultern, der Große Bergwerker mit der Spitzhacke in der Faust.

Alle waren sie dort und andere schauten wachsam von den Mauern herab, jederzeit bereit einzugreifen, falls das notwendig wurde. Ulf Ghandar drängte sich mit einem Haufen Kanoniere und zwei Ingenieuren vom Tempel der Finsternis um eine neue Bombarde. Lisannon Seridien hielt mit einiger Mühe eine endlose Schar von Bogenschützen zusammen. Und hinter der Mauer verborgen warteten Zauberer, den Stab schon in der Hand. Lay Shannon lief im Hof auf und ab. Er war von der Taille aufwärts nackt, und die schwarzen Linien, die er sich selbst aus Gier nach Wissen und Macht beigebracht hatte, hoben sich nur zu deutlich von seiner bleichen Haut ab. Araneus Calassar las in einem Büchlein, das er aus seiner unverzichtbaren Tasche gezogen hatte. Allan Sirio lächelte unbeirrbar wie immer, als erwartete ihn nicht mehr als eine Partie Khandan.

Alle warteten schweigend.

Selbst wenn er gewollt hätte, hätte es General Amorannon Asduvarlun nicht in seinem Zimmer im Bett gehalten, während sich dort draußen das abspielte, was das letzte Kapitel der Geschichte sein konnte. In den vergangenen beiden Tagen hatten die Wundschmerzen langsam nachgelassen. Möglicherweise hatte er sich auch einfach so sehr an die Qualen gewöhnt, dass er sie weniger spürte. Shannon hatte versucht, ihm zu verbieten, auch nur einen Finger zu rühren, aber es war ihm nicht gelungen, und angesichts einer solchen Starrköpfigkeit hatte er dem General seinen Willen lassen müssen. Eigentlich hätte Asduvarlun seinen Posten auf der Mauer auf seinen eigenen Beinen erreichen wollen, aber darüber hatte Shannon nicht mit sich reden lassen. Zwei Wachen hatten ihn auf einer Trage hinbringen müssen.

Während der letzte Schein der Dämmerung am Horizont verblasste, suchten Asduvarluns graue Augen das Gelände unter ihnen nach einem Zeichen ab, dass nun alles beginnen würde. Er umklammerte fest den Griff von Ligiya, die kampfbereit an seiner Seite hing. Dieses magische Schwert konnte Tharkarún verwunden, es war vielleicht die mächtigste Waffe, die jemals geschmiedet wurde, doch jetzt lag sie kraftlos in den Händen seines Besitzers.

Ein Windhauch wirbelte zu Füßen der Großen Mauer hoch, streifte die roten Steine und erreichte den General, der tief Atem holte. Der Wind war kalt und trocken und angefüllt mit dem inzwischen unverwechselbaren stechenden Geruch. Asduvarlun wusste genau, dass auch die anderen auf der Mauer und dort unten in der Ebene ihn wahrgenommen und wiedererkannt hatten. Tausende Augen durchforschten die Dunkelheit, wo sie nach neuen dunklen Schatten suchten.

Jeder von ihnen nahm Bewegungen wahr, und sofort wurden Fackeln angezündet, um die Nacht zu erhellen und die Gremlins zu entdecken, bevor sie angriffen. Und da waren sie schon, einem Albtraum gleich, formlose dunkle Schatten, die sich plötzlich und blitzschnell bewegten. Jetzt versteckten sie sich nicht mehr und sie waren auch nicht allein. Direkt hinter ihnen folgte schweigend das Heer der Toten aus der Dunkelheit, in ihren zerrissenen, blutgetränkten Uniformen, die Brüder derer, die sich unterhalb der Mauern darauf vorbereiteten, so lange wie möglich standzuhalten.

Dhannam Sulpicius zückte sein Schwert Synfora und versuchte in den Gesichtern der Umstehenden Trost zu finden. Elirion Fudrigus’ blaue Augen waren voller Entschlossenheit, die von Brennus wirkten wachsam und klar wie stets. Dann schaute Dhannam suchend in die blauen Augen seines Vaters Gavrilus und sah darin nichts als Resignation.

Gavrilus glaubte nicht mehr an sie – und es bedeutete ihm auch nichts mehr. Der alte König hatte zu viele Schicksalsschläge erleben müssen, als dass er sich wieder davon erholen könnte. Für ihn bedeutete das Ende, wenn es nun käme, nichts als Erleichterung. Gavrilus Sulpicius würde in dieser Nacht unterhalb der Großen Mauer nicht mehr der König des Elbenreiches sein, nicht mehr der Anführer des Rates, sondern nur noch ein müder alter Mann, der eine Schlacht schlug, und das nur, weil er sich nicht zurückziehen und irgendwo in einem Zimmer, ganz allein mit seiner Trauer, auf das Ende warten durfte. Jemand anderer würde seine Aufgabe übernehmen müssen, und das konnte nur sein einzig verbliebener Sohn sein, der Erbe seines Thrones. Während der Feind mit dem Tod in seinem Gefolge einen Schritt weit entfernt war, spürte Dhannam, wie schwer die Krone des Elbenreiches auf ihm lastete. Vielleicht würde er sie nun einige Stunden lang vergessen, bis er starb und alles seine Bedeutung verlor. Aber er wollte sie sich verdienen, sie ehrenvoll annehmen. Sein Schwert trug den Namen Unheil und er würde es mit dem nötigen Mut in dieser unheilvollen Situation schwingen.

Dhannam presste die Zähne zusammen und schwor sich selbst, dass er sich wenigstens dieses eine Mal der Situation gewachsen zeigen würde.

»Achtung, zielt!«, brüllte Ulf Ghandar über ihren Köpfen.

Der Schuss ging los, es gab einen Schwall aus grünen Flammen, der Dhannam verblüffte. Die Technik der Zwerge hatte sich endlich mit der Magie der Dämonen vermischt und die Wucht des Aufpralls war so groß, dass sie einige Gremlins vernichtete und viele andere zurückwarf – mit ihnen die Toten.

Dhannam hörte, wie Ghandars wilder Kriegsruf den dunklen Himmel zerriss. »Genau so! Ich wusste, dass es funktionieren würde! So einfach bekommt man die freien Völker nicht klein!«

Die freien Völker.

Angesichts eines so unerbittlichen Feindes waren die Völker vielleicht zum letzten Mal frei.

THARKARÚN – Krieger der Nacht
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