ZWEIUNDSECHZIG

DAS TOR IST kein Problem. Es gibt kein Schloss, das Pelcus Vynmar standhalten kann«, hatte der Zwerg erklärt und war entschieden auf den Eingang zum Undurchdringlichen Hort zugegangen.

Auf dem Weg zum Tor hatte Pelcus aus seiner Tasche eine kleine Kiste aus kostbarem Holz geholt, die seine Einbruchswerkzeuge enthielt, und alle sahen ihn schon die Schlösser knacken – wie lange dies auch dauern mochte. Dann allerdings stellte sich eine überraschende Wendung ein: Ein scheinbar unüberwindliches Hindernis stellte sich dem Zwerg und seiner Einbruchskunst in den Weg.

Das hohe schwarze Tor hatte überhaupt keine Schlösser.

Pelcus wollte sich davon nicht beeindrucken lassen. »Alle Tore haben Schlösser, selbst wenn man sie nicht sieht«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sorgfältig suchte er die gesamte Oberfläche ab, klopfte den Stein ab, jede Handbreit, um einen doppelten Boden zu finden, einen geheimen Riegel, einen Mechanismus, irgendetwas. Farik nahm ihn sogar auf seine Schultern, damit er auch den oberen Teil überprüfen konnte. Am Ende dieser peinlich genauen Kontrolle musste auch Pelcus den Schluss ziehen, dass es wirklich so war, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hatte: Dieses Tor hatte keine Schlösser.

Die beiden Statuen links und rechts des Tores schienen ihre Anstrengungen mit höhnischem Grinsen zu beobachten. Der Zwerg war von Fariks Schultern geglitten, hatte danach finster die Hände in die Hüften gestützt und erklärt: »Na gut. Ich sehe sehr wohl, wann mein Spezialsprengstoff gebraucht wird.«

Morosilvo wandte ein, dass es vielleicht nicht klug war, das Tor in die Luft zu jagen. Bestimmt war der Stein mit einem Zauber belegt und er wollte nicht, dass der ausgelöst würde. Aber der Magus, der ihre Versuche beobachtete, schwieg selbst jetzt. Morosilvo beschloss, dass der Druide sie bestimmt gewarnt hätte, falls sie ihre Mission irgendwie gefährdet hätten. Vielleicht war die Idee mit dem Sprengstoff ja wirklich gut. Morosilvo hatte sich nie die Mühe gemacht, sich mit Geschichte zu beschäftigen, und deshalb wusste er nicht, ob die Zwerge den Sprengstoff bereits erfunden hatten, als die Festung gebaut wurde.Vielleicht konnte die Technik hier tatsächliche eine wirksame Waffe sein: Hatte sie der Magus nicht gemahnt, sie sollten flexibel sein und sich etwas einfallen lassen?

Trotz allem wirkten die meisten der Gefährten besorgt, während Pelcus sorgsam ein Dutzend Sprengladungen über die gesamte Höhe des Tores verteilte und sie mit einer Lunte verband. Diesmal nahm er eine von den kurzen, und das mit Absicht. Jetzt ging es nicht darum, dass seine Finger unverletzt blieben, sondern um das Schicksal der acht Völker. Da konnte man nicht noch drei Minuten warten.

»Alle weg hier!«, befahl er. Dann zündete er die Lunte an und wich selbst hastig zurück.

Die acht beobachteten, wie der Funke die Zündschnur entlanglief, während sie sich außer Reichweite brachten. Er leuchtete auf, erreichte die erste Sprengladung und Morosilvo hielt instinktiv den Atem an. Dann gab es einen Knall, und zwar den lautesten Knall seines Lebens, wenn Morosilvo es recht bedachte. Die Sprengladungen explodierten krachend nacheinander, es erhob sich eine Stichflamme, eine Staubwolke und eine Welle heißer Luft, die die acht Gefährten und den Magus überrollte, sodass Steine und Erdschollen nach allen Seiten spritzten.

Verdammt, das ist ja wirklich in die Luft gegangen, dachte Morosilvo und gegen seinen Willen fühlte er ein Hochgefühl in sich aufsteigen. Dann war es also doch nicht so schwierig, die Schutzzauber des Undurchdringlichen Hortes zu überwinden! Er wandte sich Pelcus zu. Selbst durch den dichten Rauch konnte er erkennen, dass auch der Zwerg begeistert war.

Dann löste sich die Staubwolke auf. Und Pelcus’ Enthusiasmus verflog.

Das Tor war unversehrt geblieben. Der Sprengstoff hatte im Umkreis von einigen Metern ziemlich viel Schaden angerichtet, aber auf dem schwarzen Stein war nicht einmal ein Kratzer zu sehen. Auch die beiden Statuen waren inmitten dieses Durcheinanders aus Steinen und Erdschollen heil geblieben – und sie schienen noch spöttischer zu lächeln. Pelcus starrte ungläubig auf die Szene und auch die anderen waren wie gelähmt. Sicher, sie hatten nicht gedacht, dass es leicht würde, aber als die Sprengladungen explodiert waren, waren sie einen Moment lang überzeugt gewesen, sie hätten es geschafft. Enttäuschung mischte sich in ihre Ungläubigkeit.

»Das ist doch nicht möglich!«, rief Pelcus aus und warf den Zündstein auf den Boden. »Es gibt keine bessere Technik als die der Zwerge und ganz bestimmt war sie noch unbekannt, als diese verdammte Festung gebaut wurde! Mit diesem Zeug hätte man einen ganzen Mauerwall in die Luft jagen können!«

Die beiden Wächterstatuen mit den leeren Augen schienen sich über seine Verärgerung und ihre allgemeine Niederlage nur zu amüsieren. »Verdammte Statuen«, fluchte Morosilvo unterdrückt.

Ametista drehte ihren Kopf kaum merklich in seine Richtung und etwas durchzuckte ihre violetten Augen. Morosilvo hörte ihre Stimme wie aus unendlicher Entfernung. »Aber natürlich, die Statuen!«

Und bevor sie jemand um eine Erklärung bitten konnte, sahen alle, wie sich die Faunin mit langen festen Schritten zielstrebig mitten in das durch die Explosion verursachte Chaos bewegte, so entschlossen, dass niemand wagte, sie aufzuhalten. Sie schritt bis zu dem Tor, doch sie blieb nicht etwa davor stehen, sondern ging zu einer der Statuen – und zwar zu der männlichen. Dann pflanzte sie sich unerschrocken vor ihr auf und starrte in ihre muschelweißen Augen.

Plötzlich begriff Morosilvo. Konnte es so einfach sein? Hatten sie so dumm sein können, nicht daran zu denken?

»Bei Talon und Sirdar«, flüsterte Arinth neben ihm. Der Gnom hatte denselben Gedanken gehabt. Morosilvo warf ihm einen fragenden Blick zu und Arinths schwarze Augen suchten bei ihm eine stumme Bestätigung seiner Vermutung.

»Wenn sie versucht, eine Statue zu hypnotisieren«, sagte Morosilvo leise, »ist sie entweder übergeschnappt oder sie hat tatsächlich alles begriffen.«

Und Ametista versuchte wirklich, die Statue zu hypnotisieren. Sogar aus der Entfernung konnte Morosilvo wahrnehmen, wie stark die Macht war, die sie einsetzte. Und er wurde sich bewusst, dass die Faunin nur einen verschwindend kleinen Teil ihrer ungeheuren Fähigkeiten gebraucht hatte, um seinen eigenen Widerstand zu brechen. Jetzt setzte sie ihre Kraft zur Gänze ein, und Morosilvo hätte gewettet, dass auch seine Gefährten instinktiv den starken Sog verspürten, geradewegs zu diesem Tor zu gehen und es zu öffnen, hätten sie nur gewusst, wie. Er jedenfalls zweifelte nicht, dass eine solche Beschwörungskunst sogar Steine bewegen konnte.

Die anderen beobachteten die Faunin verblüfft, nur der Magus blickte unerschütterlich wie immer, und unterhalb der monumental aufragenden Festung herrschte gespannte Stille.

Irgendwo im Süden wurde vielleicht der letzte Teil der großen Schlacht geschlagen, möglicherweise standen die acht Völker gerade jetzt kurz vor der endgültigen Niederlage. Und das Tor öffnete sich nicht. Man konnte Ametistas schönem Gesicht die Anstrengung ansehen, sie legte zweifellos ihre ganze Kraft in diesen Versuch. Morosilvo ertappte sich bei dem Gedanken, dass er noch nie einer so begabten Hypnotiseurin begegnet war wie ihr, und dennoch fragte er sich, ob ihre Kraft genügen würde. Ametista biss die Zähne zusammen, ihre Kiefer zitterten und trotz der Kälte lief ihr ein Schweißtropfen von der Stirn.

»Los, öffne es!«, schien sie zu sagen.

Vielleicht war es Einbildung: Der Ort und ihre Situation waren eindrucksvoll genug, um jedem die Sinne zu verwirren. Plötzlich aber schien es Morosilvo, als sei ein Aufleuchten durch die pupillenlosen Augen der Statue gezuckt, als hätten sie sich plötzlich belebt. Für einen winzigen Augenblick wirkte die reglose Steinfigur wie ein lebendiges Wesen. Ametista bewegte sich nicht von der Stelle und hielt ihre Augen starr auf die Statue gerichtet. »Öffne es!«, wiederholte sie und diesmal vernahm jeder ihre tiefe, einschmeichelnde Stimme.Wieder zuckte das seltsame Aufleuchten durch die Augen der Statue. Ein rascher Blick zwischen ihm und Thix Velinan bestätigte Morosilvo, dass er es nicht als Einziger bemerkt hatte.

Dann hörten sie ein Knirschen und ein qualvolles Stöhnen wie von einem Untier, das aus langem Schlaf erwacht und überhaupt nicht glücklich darüber ist. Morosilvo und Thix brauchten einige Sekunden, bis sie merkten, dass es sich um die Angeln des großen schwarzen Tores handelte, welches sich erst zum zweiten Mal seit seinem Bestehen ganz langsam öffnete und den Blick auf einen ebenfalls schwarzen und leeren Innenraum freigab. Wie der Magen einer riesigen Kreatur sah dieser Innenraum aus. Ametista blieb stehen und ließ die Statue nicht aus den Augen, bis sich die Türflügel ganz geöffnet hatten und mit einem letzten dumpfen Schlag innehielten. Dann erst wich sie einen Schritt zurück und schwankte, als hätte sie das, was sie gerade getan hatte, zu viel Kraft gekostet. Farik eilte ihr zu Hilfe. Die Faunin schien verärgert darüber zu sein, dass sie seine Unterstützung brauchte, richtete sich hastig auf und sammelte sich selbstbewusst.

»Danke«, sagte sie knapp zu Farik und der Goblin entfernte sich wortlos.

Alle Blicke waren auf sie gerichtet, aber Ametista gelang es, nicht allzu müde oder selbstzufrieden zu wirken. »Ich habe meine Zweifel, dass das Tor lange geöffnet bleibt«, bemerkte sie. »Und ich bin fast sicher, dass es mir nicht noch einmal gelänge, es zu öffnen.«

Der Magus nickte. Sie hatten keine Zeit für Gespräche. Der Schlund des Undurchdringlichen Horts hatte sich weit geöffnet, und ihnen blieb nun nichts anderes übrig, als hineinzustürzen.

Der erste Schutzzauber war anscheinend nicht der von Zwergen geschaffene gewesen, wie alle anfangs geglaubt hatten, sondern der der Faune. Die erste Prüfung war bestanden. Doch drinnen warteten noch sieben weitere auf sie und außerdem ein verschlungenes Labyrinth aus Räumen und Fluren, aus denen niemand wieder herausfinden sollte. Doch ihre Welt erwartete ein noch viel schlimmeres Schicksal, wenn sie diesen Schritt nicht taten.

Sie gingen schweigend vorwärts.



Die magischen Bombarden überzogen oben von der Mauer die fernsten und noch geschlossenen Reihen der Feinde gnadenlos mit einem Kugelhagel, im Wechsel mit Salven von in Sprengstoff getränkten Pfeilen. Im unmittelbaren Schutz der Mauer hatte sich das Heer der acht Völker schon mit dem der Toten und den Gremlins vermischt und die Heftigkeit der Schlacht riss die Reihen immer mehr auseinander.

Man sah Krieger gegeneinander kämpfen, die dem Anschein nach die gleichen Uniformen trugen. Aber die Augen der einen waren leer und nahmen nicht wahr, dass sie denen gegenüberstanden, die einst ihre Freunde gewesen waren. Nie zuvor hatte man eine offene Schlacht ausgetragen und nun kam es endlich dazu.

General Asduvarlun, Lay Shannon und die Zauberer beobachteten das Schlachtfeld von oben und warteten auf den Moment, da auch sie sich in das Getümmel begeben würden. Aber Asduvarlun glaubte nicht recht daran, dass dieser Augenblick für ihn noch kommen sollte.

Die Shardari waren wie schwarze Blitze, genauso schnell und tödlich wie die Gremlins selbst. Vaskas Rannaril führte die Ritter der Finsternis an wie eine rächende Furie und der schwere Krummsäbel in seinen Händen leuchtete hell durch die Dunkelheit. Doch nicht alles stand günstig für die Verteidiger und man hatte schon die ersten schweren Verluste hinnehmen müssen: König Gavrilus war mit einer schweren Wunde an der Seite eilig hinter die schützende Mauer zurückgebracht worden und hatte seinem Sohn, unterstützt von Oberst Seridien, den weiteren Kampf überlassen müssen. Dhannam nahm in diesem Moment nicht wahr, was um ihn geschah, er wusste nur, dass er den Griff von Synfora immer festhalten und parieren und treffen musste, parieren und treffen, bevor jemand oder etwas ihm zuvorkam und ihn traf. Ab und zu konnte er kurz durchatmen und sich nach dem unheimlichen Tharkarún umschauen, aber der geheimnisvolle Fremde schien sich, wenigstens für den Augenblick, nicht zeigen zu wollen.

Elirion war ebenfalls dort unten und es war ihm gerade erst gelungen, sich umzudrehen und ihm kurz zuzuwinken, als wolle er damit mitteilen, er habe ihn bemerkt und würde ihm wenn nötig zu Hilfe eilen. Dann hatte er wieder seinen neuen Zauberstab erheben müssen, um damit drei im Sturzflug auf ihn zukommende Gremlins zu zerschmettern. Huninn und Herg deckten ihm in altbekannter Geschicklichkeit den Rücken.

Ganz in der Nähe war Brennus in einen Nahkampf mit zwei Gremlins gleichzeitig verwickelt. Die Shardari in ihren schwarzen Gewändern waren zwar schwer auseinanderzuhalten, aber Dhannam glaubte dennoch, Naime, ihre Schwester Vàna, Chatran Ballaschain und Janden Sirio in seiner Nähe gemeinsam kämpfen zu sehen.

Dhannam legte sich den Griff seines Schwertes Synfora besser in die Hand, gerade noch rechtzeitig, um einem Toten entgegenzutreten, der direkt auf ihn zugestürmt kam. Seine Gedanken eilten zurück zu der Zeit, als er im Hof des Königspalastes von Astu Thilia mit Alfargus gefochten hatte, zu all den Malen, wenn er den kalten Stahl von dessen stumpf gemachter Klinge auf seiner eigenen Haut gefühlt und dazu Alfargus’ lachende Stimme gehört hatte: »Du bist tot, kleiner Bruder!«

Er erinnerte sich an Alfargus’ Geste, während er den Schlag führte, und blinde Wut drückte ihm die Kehle zu. Er ließ brutal das Schwert niedersausen und der Kopf des Toten rollte glatt vom Hals getrennt fort. Es floss kein Blut, der Unglückselige hatte davon wohl nicht einen Tropfen mehr im Körper. Dhannam fiel plötzlich auf, dass es bisher undenkbar für ihn gewesen war, eine so grausame Tat zu begehen, aber ihm fehlte jetzt die Zeit, über solche Dinge nachzudenken, er durfte sich nicht einmal um seinen Vater sorgen, der verwundet war.

Noch einmal sah er sich suchend nach Elirion um, doch der war aus seinem Gesichtsfeld verschwunden, fortgerissen von irgendeinem Zweikampf. Wieder donnerte die Bombarde und zugleich hörte man Ulf Ghandars dröhnende Stimme. Dhannam schaute auf und betrachtete den fernen Horizont. Und da sah er ihn.

Eine skelettartige, hochgewachsene Gestalt, in ein violettes Gewand gehüllt, tintenschwarze Haare, die ihm über die Schultern hingen, ein breitkrempiger Hut, der ihm das Gesicht verdeckte. Er stand am Rande des Schlachtfelds; Dhannam fragte sich, ob ihn noch jemand außer ihm sehen konnte. Doch da war er, plötzlich irgendwo aus dem Nichts aufgetaucht.

Tharkarún, dachte Dhannam wütend.Tharkarún.

Eine andere Stimme ertönte hinter ihm. Dieses Mal war es nicht Ulf Ghandar, obwohl die Bombarde immer noch feuerte und gerade noch ein Geschoss am Rand des Totenheeres explodiert war, nein, es war Allan Sirio gewesen. Dhannam hätte nie geglaubt, dass der freundliche Druide so schreien könnte. Seine Stimme durchschnitt all den Lärm wie ein Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht, und jagte Dhannam einen Schauer über den Rücken.

Der Elbenprinz wandte sich der Großen Mauer zu, obwohl er wusste, dass es gefährlich war und er es besser nicht tun sollte. Dort stand Sirio, doch der wirkte überhaupt nicht wie der Druide, den er kannte. Er stand aufrecht auf der Mauer und sah auf einmal viel größer und schöner aus. Sein Umhang war nun nicht mehr grün, sondern weiß, und seine Haare, die er sonst immer zusammengenommen trug, fielen ihm jetzt offen über die Schultern und flatterten um seinen Kopf. Er umfasste seinen Birkenstab, hatte die Arme hoch zum Himmel erhoben, und Dhannam hätte es nicht verwundert, wenn Anman selbst ihm einen Blitz in die Hand gegeben hätte.

Als Dhannam sich wieder Tharkarún zuwandte, sah er, dass der den Kopf gehoben hatte, und obwohl der Hut immer noch sein Gesicht verbarg, war offensichtlich, dass auch er die überraschende Erscheinung Sirios anstarrte: Ob erstaunt, neugierig oder sogar ängstlich, konnte Dhannam nicht sagen.

»Die Zauberer mit mir«, schrie Sirio wieder und im Handumdrehen stand er nicht mehr auf der Mauer, sondern unterhalb, ohne dass Dhannam begriff, wie er dahin gekommen war. Inzwischen hatte man das große Tor geöffnet und nun strömten die Magier hinaus und schleuderten Zauber wie bunte Blitze auf die Feinde. Da war Araneus Calassar und auch er wirkte nun viel furchterregender, als Dhannam ihn kannte. Nur Lay Shannon führte seine Schwarzen Hexer nicht an, er stand immer noch mit General Asduvarlun auf der Mauer. Dhannam blieb keine Zeit mehr, die Lage eingehender zu studieren, denn etwas stürzte sich auf ihn, in der eindeutigen Absicht, ihn zu töten, und diesmal war es kein Toter, sondern ein Gremlin. Alles um ihn herum verlor an Bedeutung. Jetzt ging es um sein Leben.

Elirion Fudrigus senkte den Stab und beobachtete keuchend die Wirkung des zischenden gelben Lichtpfeils, den er gerade gegen den Gremlin vor ihm geschleudert hatte. Zu seinem Glück schien der Angriff dem Wesen schweren Schaden zugefügt zu haben. Das war wirklich sein Glück, denn fünf weitere Gremlins umringten ihn, und er hatte Herg und Huninn vollkommen aus den Augen verloren.

In diesem Durcheinander zusammenzubleiben, war ein Ding der Unmöglichkeit, und nun, da auch die Zauberer mitkämpften, war die Schlacht noch unübersichtlicher geworden. Die Bombarde feuerte nicht mehr, um die Truppen der Völker nicht zu treffen, und die Bogenschützen suchten sich seit einiger Zeit nur einzelne Ziele.

Herg und Huninn waren ihm für beachtliche Zeit wie zwei Schatten gefolgt, vor allem wenn man bedachte, wie schnell sich die anderen Kampfeinheiten verloren. Aber Elirion wusste, dass sie früher oder später unausweichlich getrennt werden würden, er hätte sich nur gewünscht, dass es nicht gerade in diesem Augenblick geschehen wäre. Er konnte zwar auf seine eigenen Fähigkeiten vertrauen, aber fünf Gremlins blieben fünf Gremlins. Zumindest war er in Gefahr, wenn ihm nicht jemand schnell zu Hilfe eilte oder besser gleich mehrere. Elirion wusste nur zu gut, dass er den Gremlins nicht standhalten konnte. Der magische Schutzschild, den er um sich beschworen hatte, begann unter ihren Hieben schon gefährlich nachzugeben. Sehr gut, dann würde er sie eben bis zum Letzten bekämpfen, solange er konnte, und dann sollte geschehen, was geschehen musste. So fällt der letzte König des Menschenreiches, dachte er. Er hätte sich lieber eine andere Zukunft vorgestellt, in der er weder König sein noch auf dem Schlachtfeld fallen musste, sondern Naime heiraten und nur Elirion, ein Zauberer wie jeder andere, sein durfte. Doch das Schicksal hatte es anders bestimmt und er würde dieses Urteil ehrenvoll annehmen.

Der Zauber aus seinem Stab traf den ersten Gremlin und dann einen zweiten, den er allerdings nur streifte. Ohne dass er wusste wie, rollte er sich weg und entging so dem Angriff der restlichen drei. Keiner der fünf schien gewillt aufzugeben. Elirion stand keuchend wieder auf und schleuderte noch einen Zauber, doch der war zu schwach und zu ungenau und verfehlte sein Ziel um einiges. Womit er nur erreichte, dass der Gremlin, auf den er es abgesehen hatte, sich auf ihn stürzte und er sich zur Seite werfen musste. Ihm blieb die Luft weg, während der Gremlin knapp über seiner Schulter vorbeischoss und den Stoff seines Hemdes zerriss.

Hinter ihm lauerte schon ein zweiter und Elirion schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich umzudrehen und ihn zu treffen. Dann sank er in sich zusammen. Ich bin außer Atem, dachte er wütend, während sein Herzschlag heftig in seinen Ohren hämmerte. Ich kann nicht mehr. Schon musste er sich wieder zu Boden werfen und diesmal fiel ihm das Aufstehen noch schwerer. Und jetzt waren es immer noch vier und er war schon am Ende seiner Kräfte.

Es war ihm, als sähe er undeutlich Sirdar, den Gott des Todes, vor sich, der ihn am Rand des Schlachtfelds erwartete, aber kurz darauf bemerkte er, dass es Tharkarún war. In diesem Augenblick wusste er, dass diese grausame Kreatur, die die Schuld am Tod von Alfargus trug, ihn jetzt ebenfalls sterben sehen wollte.

Zorn loderte in ihm auf und der nächste Zauberspruch von seinen Lippen war ein richtiger Wutschrei und richtete sich nicht gegen die Gremlins, sondern gegen Tharkarún selbst. Doch der war zu weit entfernt und der magische Pfeil verlor sich irgendwo auf halber Strecke. Die Anstrengung war zu groß gewesen, der Zauber saugte ihm seine ganze Kraft aus. Ein Gremlin kam immer näher auf ihn zu. Er legte den Stab auf den Boden und nahm blitzschnell seinen Bogen von der Schulter, spannte ihn … und hörte einen schrecklichen Knall. Er hätte beschworen, dass Tharkarúns Augen auf ihn gerichtet waren, während er fluchend merkte, dass die Bogenschnur gerissen war. Er schleuderte die nutzlose Waffe zur Seite, und da ihm nicht einmal die Zeit blieb, Alfargus’ Doppelaxt herauszuholen und fest in die Hand zu nehmen, musste er, da dieses Wesen schon über ihm war, den Pfeil wie einen Dolch benutzen und mit letzter Kraft zustoßen. Der Gremlin fiel zu Boden, aber er war nicht tot. Elirion war klar, dass er wieder und wieder angreifen würde. Dies war ein heldenhaftes Ende und er wusste das, aber es war nicht das Ende, das er sich wünschte. Ruhm interessierte ihn nicht, er wollte leben, nichts sonst, nur leben.

Mit letzter Kraft hob er den Eschenstab, wenn auch nur, um sich zu verteidigen. Doch er spürte, dass er keine Kraft mehr hatte, keine Hoffnung, die ihn dazu drängte, weiterzukämpfen, und dieses Mal kam sein Schlag zu spät. Der Gremlin traf ihn wie ein Geschoss mitten auf die Brust, er wurde nach hinten geschleudert. Elirion spürte, wie mehrere Rippen brachen, er schrie vor Schmerz und ließ den Stab fallen, der tanzende Funken verbreitete. Er schlug mit dem Kopf auf den Boden, der Gurt, an dem er die Axt über dem Rücken getragen hatte, rutschte von seiner ausgerenkten Schulter. Blut rann Elirion warm über die Stirn, er wusste, dass der Gremlin über ihm war, und bereitete sich auf einen schrecklichen Tod vor: darauf, aufgeschlitzt zu werden wie ein Tier.

»Du bist wirklich zu dumm!«

Die kräftige und gleichzeitig gedämpfte Stimme überraschte ihn. Er öffnete die Augen und sah, wie eine blasse Hand den Griff der magischen Doppelaxt packte, eine Hand, die aus dem Ärmel eines schwarzen Gewandes hervorkam. Und er konnte gerade noch rechtzeitig aufschauen, um den grauen Augen von Brennus Astair zu begegnen, bevor der Gremlin sich von oben auf sie warf. Brennus hob die Axt und schrie etwas hinter dem dunklen Tuch. Daraufhin lief Feuer an der Schneide entlang, aber nicht das schwache Flämmchen, das Elirion gesehen hatte, als Alfargus die Waffe geschwungen hatte, sondern eine gewaltige Flamme, als würde die gesamte Klinge auf einmal in Flammen stehen. Brennus’ Schrei war ohrenbetäubend.

Die Klinge der Axt bohrte sich mitten in die dunkle Gestalt. Der Gremlin wurde nach hinten geschleudert und brannte lichterloh wie eine Fackel. Drei, schoss es Elirion durch den Kopf. Drei und mindestens ein Verwundeter. Und dann: Kann es sein, dass die Axt für ihn bestimmt ist und ich es nur nicht begriffen habe? Er war wirklich blind gewesen, aber jetzt versagten ihm seine Augen tatsächlich den Dienst, Brennus war nur noch ein dunkler Schatten, nicht von den Gremlins zu unterscheiden, sein Herz hämmerte wie wahnsinnig und durchschlug ihm beinahe den Brustkorb, er röchelte und sein letzter Gedanke war: Das ist der Tod.

»Nun gut«, sagte Elirion zu sich selbst. »Ich werde ihn hinnehmen. «

Er schloss die Augen, während um ihn Lärm ertönte und Brennus schrie, während er einen der Menschen, die er in seinem ganzen Leben verachtet hatte, gegen die Gremlins verteidigte. Das Letzte, was Elirion hörte, bevor die Leere von ihm Besitz ergriff, war die Stimme des Anführers der Shardari.

»Du bist der Ehemann meiner Schwester!«

THARKARÚN – Krieger der Nacht
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