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Nichts bleibt, wie es ist. Diese alte Weisheit kam
Jan in den Sinn, als er mit seinem VW Golf - einem klapprigen
3er-Modell, das die nächste TÜV-Plakette wahrscheinlich nicht mehr
erleben würde - von der Schnellstraße abbog und in Richtung
Innenstadt fuhr.
Mit den Überbleibseln eines vergangenen Lebens auf
der Rückbank kehrte er nun in eine noch weiter hinter ihm liegende
Zeit zurück. An den Ort, an dem er ein unbeschwertes, glückliches
Leben begonnen und an dem dieses Leben die schlimmste nur denkbare
Wendung genommen hatte. An einen Ort, der ihm einst vertraut
gewesen war und der ihm nun vollkommen fremd erschien.
Fahlenberg hatte sich verändert. In den fast
zwanzig Jahren, seit Jan der Stadt den Rücken gekehrt hatte, war
sie um ein beachtliches Stück gewachsen. Die ausladenden
Grünflächen am Ortseingang, auf denen Jan und seine Freunde einst
Fußball gespielt und sich im Winter ausgelassene
Schneeballschlachten geliefert hatten, waren
nun mit einer Autowaschanlage und diversen Discountern zugebaut.
Die Schrebergartensiedlung mit den bunten Hütten hatte zwei
gewaltigen Baumärkten weichen müssen, und auf den Feldern hinter
dem Friedhof ragten jetzt mehrere Hochhäuser und Betonbauten
empor.
Als Jan an einer Ampel halten musste, sah er zu den
grauen Scheußlichkeiten hinüber und dachte an die erste und einzige
Zigarette seines Lebens, die er dort mit seinem Freund Dieter
heimlich geraucht hatte - verborgen von hohen Maisstauden, die in
der Herbstsonne auf die Ernte gewartet hatten. Fünfundzwanzig Jahre
musste das jetzt her sein, doch noch immer sah er alles genau vor
sich. Die beiden filterlosen Roth-Händle, die Dieter seinem Vater
geklaut hatte, das billige Plastikfeuerzeug, das zuerst nicht hatte
funktionieren wollen, und wie sie sich die Zigaretten angesteckt
und nach dem ersten Lungenzug sofort wieder ausgedrückt hatten,
weil ihnen schwindlig geworden war. Jan hatte einen Hustenanfall
bekommen und sich vorgenommen, nie wieder zu rauchen.
Nun stellte er fest, dass sich in einem der
Betonklötze eine Spielhalle befand. Der Bau daneben - Jan glaubte
seinen Augen nicht zu trauen - beherbergte ein Eros-Center namens
Love Palace. Einen unpassenderen Platz hätte man für dieses
zweistöckige Etablissement nicht finden können. Wer dort aus dem
Fenster schaute, sah direkt auf die Leichenhalle des Friedhofs
hinüber.
Daneben wies ein Schild auf das Industriegebiet
hin, das sich dort ausbreitete, wo es einst nur eine Ledergerberei
und eine Maschinenfabrik gegeben hatte.
Die ganze Stadt schien verändert. Markante Gebäude
hatten Straßenverbreiterungen weichen müssen. Der
Tante-Emma-Laden an der Hauptstraße und die alte Bäckerei daneben
waren zu einem Handyladen und einem Döner-Imbiss geworden. Mehrere
der ehemaligen kleinen Geschäfte standen leer. Ihre mit Tüchern
oder Karton verhängten Schaufenster kamen Jan wie blinde Augen vor,
als er sich seinen Weg durch den Vormittagsverkehr bahnte.
Nur hin und wieder sah er Altvertrautes. Natürlich
stand die Kirche noch. Auch der Schreibwarenladen, in dem er früher
seine Schulhefte gekauft hatte, war noch am selben Ort, und Jan
fiel wieder ein, dass er von dem Geld, das ihm seine Mutter
mitgegeben hatte, immer ein bisschen abgezweigt hatte, um sich
Comic-Hefte kaufen zu können. Und den Fotografen, bei dem er einst
für seine Kommunions- und Schultütenbilder posiert hatte, gab es
ebenfalls noch. Bestimmt hat inzwischen der Sohn das Geschäft
übernommen, dachte Jan.
Doch trotz dieser kleinen Vertrautheiten empfing
ihn Fahlenberg kalt und gleichgültig. Zwar hatte Jan nicht
unbedingt erwartet, mit offenen Armen empfangen zu werden - dafür
war einfach zu viel Zeit ins Land gegangen -, aber er hatte
zumindest gehofft, etwas zu empfinden, was bei einem Menschen einem
erkennenden Kopfnicken gleichgekommen wäre.
Der Eindruck der Fremdartigkeit wich erst, als Jan
die Abzweigung zum Stadtpark nahm, die in ihrem weiteren Verlauf zu
seiner alten Heimat führte. Je näher Jan seinem ehemaligen
Elternhaus kam, desto vertrauter wurde alles. Hier sah noch vieles
wie früher aus. Noch immer wirkte der Stadtpark groß und
weitläufig. Durch das Geäst der kahlen Bäume schimmerte die
novembergraue Fläche des Fahlenberger Weihers.
Jan versuchte, nicht in diese Richtung zu sehen und
sich nur an die angenehmen Dinge zu erinnern, die er mit Park und
Weiher in Verbindung brachte. Er versuchte, sich den Kiosk vor
Augen zu rufen, an dem er und seine Freunde im Sommer Eis und
Limonade gekauft hatten, wenn sie an den Weiher zum Baden gekommen
waren.
Dennoch spürte er eine Gänsehaut, denn da waren
noch andere, stärkere Erinnerungen.
Als Jan schließlich sein Ziel erreicht hatte und
aus dem Wagen stieg, kam er sich vor wie der Zeitreisende in H. G.
Wells’ Roman. Er hatte das surreale Gefühl, diesen Ort nie wirklich
verlassen zu haben, sondern lediglich ein Stück in die Zukunft
gereist zu sein.
Der Eindruck, sich in einem seltsamen Traum zu
bewegen, hielt noch an, als er an Rudolf Marenburgs Gartentor
angekommen war. Gleich gegenüber befand sich das Haus der
Forstners, in dem bis vor kurzem ein altes Ehepaar zur Miete
gewohnt hatte. Vor wenigen Monaten war der Mann gestorben,
woraufhin die Frau in ein Seniorenheim gezogen war. Das Haus befand
sich noch immer in tadellosem Zustand, stellte Jan fest. Hin und
wieder hatte er geträumt, es wäre irgendeiner Katastrophe oder
einem Brand zum Opfer gefallen, und jedes Mal, wenn er danach
erwacht war, hatte er eine morbide Form der Erleichterung
verspürt.
Dieses Haus hatte so viel Leid gesehen, dass Jan
davon überzeugt war, es müsse einen Teil davon für alle Zeiten in
seinen Mauern gespeichert haben. Jan würde sein Elternhaus nie
wieder betreten können, das stand für ihn fest. Aber jetzt, wo er
ihm zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder gegenüberstand, fragte
er sich trotzdem, wie sehr es sich wohl im Inneren verändert haben
mochte. Ob es noch immer so roch wie in seiner Kindheit - nach
getoastetem Brot, nach dem Putzmittel mit Zitronenduft,
das seine Mutter stets großzügig verwendet hatte, und nach der
Holzpolitur des Treppengeländers? Jene Gerüche, die Jan so vertraut
gewesen waren, dass er diesen anderen, fremdartigen Geruch nicht
wahrgenommen hatte - damals, in jenem Sommer, als er übers
Wochenende nach Hause gekommen und die Treppe hinaufgelaufen war.
Als er …
»Jan?«
Die Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen. Jan
wusste, dass es der alte Marenburg war, noch ehe er sich nach ihm
umgedreht hatte. Die kehlige und ungewöhnlich hohe Stimme war
unverkennbar. Rudolf Marenburg litt unter einer angeborenen
Anomalie der Stimmbänder, weshalb sich die Kinder im Ort über ihn
lustig gemacht hatten. Sie hatten ihn Kermit genannt, weil
er klang wie der Frosch in der Muppet Show.
Marenburg hatte es den Kindern nicht übelgenommen -
zumindest hatte er nie geschimpft oder sie zum Teufel gejagt. Im
Gegenteil, nach all den schlimmen Dingen, die Jan und seiner
Familie widerfahren waren, blieb Marenburg über die Jahre hinweg
sein zuverlässiger, väterlicher Freund. Er hatte ihm den Rücken
freigehalten, indem er sich um die Vermietung des Hauses und die
anfallenden Reparaturen kümmerte, weil er wusste, wie dringend Jan
den Abstand von seinem ehemaligen Zuhause gebraucht hatte. Mehrmals
hatte Marenburg versucht, das Haus zu verkaufen, es dann aber
wieder aufgegeben, immer mit der Begründung, bei den derzeitigen
Immobilienpreisen wäre es ein Verlustgeschäft.
Jan vermutete aber auch, dass Marenburg es
vielleicht nicht ganz so ernst mit seinen Verkaufsbemühungen
genommen hatte. Denn dadurch hätte er für Jan auch das letzte
Verbindungsstück nach Fahlenberg gekappt - und
somit zu sich. Umso mehr hatte er sich über Jans Anruf gefreut,
als dieser seine Rückkehr ankündigte, und es war für ihn eine
Ehrensache gewesen, dass Jan die erste Zeit bei ihm wohnen würde,
bis er etwas Geeignetes gefunden hatte.
Vielleicht verändert sich doch nicht alles mit
der Zeit, dachte Jan, als er seinen Freund auf sich zukommen
sah.
Natürlich war auch Marenburg älter geworden, hatte
deutlich mehr Falten als früher, und seine einstmals roten Haare
waren längst schlohweiß, aber seine äußerliche Aufmachung entsprach
noch immer dem Bild, das Jan von ihm in Erinnerung hatte: eine
ausgebeulte braune Cordhose, dazu ein helles Flanellhemd mit
hochgekrempelten Ärmeln und Filzpantoffeln.
Es war ein herzliches Willkommen, und als ihn
Marenburg an sich drückte, konnte Jan dasselbe strenge Rasierwasser
riechen, das ihn schon vor über zwanzig Jahren umhüllt hatte.
»Schön, dass du wieder da bist, Junge«, sagte
Marenburg und sah Jan prüfend an. Dann nickte er in Richtung des
Forstner-Hauses. »Ich habe beobachtet, wie du es dir angesehen
hast. Es war, glaube ich, der gute alte Cicero, der einmal gesagt
hat, es sei die sorgenfreie Erinnerung an vergangenen Schmerz, die
uns Frieden bringt.«
Jan sah noch einmal zum Haus, dann zuckte er mit
den Schultern. »Der hatte leicht reden. Er musste ja nicht
darin leben.«
Marenburg grinste. »Na komm, jetzt bringen wir erst
mal deine Sachen rein, und dann musst du mir alle Neuigkeiten
erzählen. Bis ins kleinste Detail.«
Das Gefühl, in die Zukunft gereist zu sein,
verflüchtigte sich schlagartig, als Jan das Haus betrat. Hier
herrschte noch immer der Einrichtungsstil von einst. Im
Flur empfingen ihn eine wuchtige Garderobe aus Kirschbaumholz,
daneben ein gerahmtes Bild, das einen röhrenden Hirsch vor einem
Bergsee zeigte, und zu allem Überfluss bewachte eine hölzerne
Nachtwächterstatue mit Laterne das Telefonkästchen, auf dem ein
uralter Wählscheibenapparat mit samtigem Schonbezug stand.
Jan folgte Marenburg über die teppichbezogenen
Stiegen in den ersten Stock, wo Marenburg ein Zimmer für ihn
vorbereitet hatte. Als Jan sah, in wessen Raum er in den nächsten
Wochen wohnen sollte, beschlich ihn ein beklemmendes Gefühl. Zwar
deuteten nur noch ein Regal voller Kinder- und Jugendbücher und ein
Poster an der Wand auf die ehemalige Bewohnerin hin, aber für einen
kurzen Moment hatte Jan den Eindruck, als sei Alexandras Geist noch
immer anwesend.
»Ich hoffe, das stört dich nicht.«
Marenburg deutete auf das Poster über dem Bett. Es
zeigte einen jungen David Bowie, dem ein roter Blitz übers Gesicht
gemalt war. Darunter standen die Worte Aladdin sane, und Jan
fiel das darin verborgene Wortspiel auf: A lad insane, ein
verrückter Kerl.
Marenburg machte eine hilflose Geste. »Weißt du,
sie war ganz vernarrt in diesen Kerl. Irgendwie habe ich es nicht
übers Herz gebracht, es abzuhängen. Na ja, ich beziehe auch jede
Woche ihr Bett neu, obwohl du seit vielen Jahren der Erste bist,
der darin schläft. Ihr Psychiater habt bestimmt eine Erklärung für
so etwas, oder?«
»Dazu muss man kein Psychiater sein, Rudi«, sagte
Jan und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nicht, wenn es um
Liebe geht.«
Marenburg wich Jans Blick aus und ging zur Tür.
»Schön, dich hierzuhaben, Junge. Jetzt komm erst einmal in Ruhe an,
und dann feiern wir deine neue Stelle
mit einem leckeren Essen. Ich hoffe, du magst noch gute alte
Hausmannskost?«
»Na klar.«
Marenburg verschwand auf dem Gang, und gleich
darauf knarrten die Treppenstufen, als er sich auf den Weg zur
Küche machte. Jan seufzte und nahm sich vor, gleich morgen mit der
Wohnungssuche zu beginnen. So gern er Rudi mochte, war dies hier
wirklich nur eine Übergangslösung und keinesfalls der richtige Ort
für einen Neuanfang.
Er besah sich noch einmal den verrückten Kerl auf
dem Poster, den Alexandra so vergöttert hatte, und trat dann ans
Fenster. Es war ein seltsames Gefühl, aus diesem Fenster auf sein
Elternhaus zu blicken.
Vor mehr als dreiundzwanzig Jahren hatte er häufig
und lange von seinem Zimmer aus zu diesem Fenster hinübergesehen.
Vor allem abends, wenn in dem Zimmer, in dem er nun stand, Licht
gebrannt hatte und der Rollladen noch nicht heruntergelassen war.
Dann hatte er Alexandra Marenburg beobachtet, die sechs Jahre älter
als er gewesen war. Er hatte ihr zugesehen, wie sie an ihrem Tisch
gesessen und gelesen oder gezeichnet hatte. Manchmal hatte sie
dabei Kopfhörer auf und starrte mit entrücktem Blick zur Decke.
Damals hatte er gerätselt, was sie sich anhörte, welche Art von
Musik sie mochte. Jetzt stellte er sich vor, wie sie sich von David
Bowie in die Welt des verrückten Kerls hatte entführen lassen -
eine Welt, in der Verrückte wie sie etwas ganz Normales
waren.
Jans Vater hatte den Ausdruck verrückt nicht
gemocht, für ihn waren diese Menschen psychisch krank
gewesen. Er hatte Alexandra mehrmals behandelt, das hatte Jan
gewusst. Doch für Jan war sie weder verrückt noch psychisch krank
gewesen. Für ihn war sie eine hübsche
junge Frau gewesen, mit langen dunklen Haaren, traurigen Augen und
einer geheimnisvollen Aura.
Die Faszination, die er für sie empfunden hatte,
ließe sich heute wahrscheinlich als eine Art frühpubertärer
Schwärmerei erklären. Er war nicht verliebt oder - wie man als
Teenager sagte - verknallt in sie gewesen, vielmehr hatten
ihn ihre unnahbare, fast schon mysteriöse Ausstrahlung und die
Anmut ihrer scheuen Bewegungen in ihren Bann gezogen, wenn er sie
heimlich durchs Fenster beobachtet hatte oder bei den seltenen
Gelegenheiten, wenn er ihr auf der Straße begegnet war.
Doch dann war jene Nacht gekommen, in der diese
Schwärmerei ein abruptes Ende genommen hatte.
Ihm wurde kalt, als er daran dachte. An jene Nacht,
in der das Unheil seinen Lauf genommen hatte.