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Freitag, II. Januar 1985
Es war noch dunkel, als Jan durch das Klingeln des Telefons im Erdgeschoss geweckt wurde. Er hatte einen merkwürdigen Traum gehabt - von Blättern, aus denen man Stücke herausgeschnitten hatte, und von Kirlianfotografien, auf denen diese Blätter von einer geheimnisvollen Korona umgeben waren, die sie wieder unversehrt erscheinen ließ. Darüber hatte er in einem Buch über rätselhafte Phänomene gelesen, das er sich zu Weihnachten gewünscht hatte. Einem Buch voller spannender Themen für einen fantasiebegabten Zwölfjährigen: Spukerscheinungen, UFOs, Kornkreise und noch vieles mehr.
Es war ein interessanter Traum gewesen. Umso mehr ärgerte sich Jan über das permanente Klingeln auf dem Flur.
Der Wecker zeigte 4:48 Uhr an, als Jan gähnend aus dem Bett kletterte und auf den Gang hinausschlurfte. Wie immer musste er über Rufus steigen, der vor seiner Tür am Boden lag. Der alte Golden Retriever öffnete zuerst nur ein Auge, als wolle er abschätzen, ob es sich lohnte, auch das zweite zu öffnen, dann schien er neugierig geworden und trottete Jan hinterher.
Gerade als Jan die Treppe erreicht hatte, huschte sein Vater aus dem Schlafzimmer. Bernhard Forstner trug einen blauen Pyjama mit dunklen Streifen - ebenfalls ein Weihnachtsgeschenk -, über sein Gesicht zog sich eine rote Schlaffalte, und das Haar stand ihm wild vom Kopf ab.
»Geh wieder ins Bett«, flüsterte er und eilte an Jan vorbei. »Wird ohnehin für mich sein.«
»Kannst du denen in der Klinik nicht mal sagen, dass wir in den Ferien ausschlafen wollen?«, maulte Jan ihm hinterher, doch sein Vater hatte bereits den Hörer abgenommen.
Längst hatte sich Jan mit den nächtlichen Rufbereitschaften seines Vaters abgefunden. Sie gehörten eben zu seinem Beruf. Nur eines nervte ihn nach wie vor: Wenn er erst einmal wach war, war er wach. Einfach wieder zurück ins Bett gehen und weiterschlafen funktionierte bei ihm nicht.
Jan beneidete seine Mutter, die das ohne Probleme konnte, und sein kleiner Bruder Sven ebenso. Sven brachte es sogar fertig, im Wohnzimmersessel einzupennen, wenn ein spannender Film im Ferienprogramm gezeigt wurde.
»Du bist eben ein nervöses Hemd«, pflegte seine Mutter zu sagen, und Jan hasste diesen Satz. Es hörte sich so schreckhaft an, so als ob er sich beim kleinsten »Buh!« in die Hosen machen würde. Dabei hatte er doch nur eine lebhafte Fantasie, wie es sein Klassenlehrer einmal ausgedrückt hatte. Eine lebhafte Fantasie, um die ihn manch einer beneiden würde, und Jan hatte gedacht: Mag ja sein, aber für den Rest bin ich das nervöse Hemd - der, den man leicht erschrecken kann, was ja immer sooo komisch ist, ha-ha.
Nun stand das nervöse Hemd am Treppenabsatz, streichelte Rufus’ Kopf und sah seinem Vater beim Telefonieren zu.
Es musste sich um etwas Ernstes handeln, das stand Bernhard Forstner deutlich ins Gesicht geschrieben. Oft genügte nur eine kurze Anordnung an das Pflegepersonal, dann war die Sache bis zum Morgen erledigt und Forstner konnte in sein Bett zurückkehren. Doch diesmal war es anders.
Statt dem obligatorischen »Dann verabreichen Sie am besten den Bedarf« oder einem »Notfalls müssen Sie fixieren« stieß Bernhard Forstner ein »Komme sofort« aus, knallte den Hörer auf die Gabel und eilte zurück ins Schlafzimmer.
»Was ist denn los?«, fragte eine verschlafene Stimme hinter Jan.
Sven lugte aus seinem Zimmer. Er trug seinen heißgeliebten He-Man-Schlafanzug und rieb sich die Augen.
»Paps muss zur Arbeit«, erklärte Jan. »Schlaf weiter.«
Sven nickte nur und verschwand wieder hinter der Tür.
Auch Jan ging wieder in sein Zimmer, ließ sich aufs Bett plumpsen und starrte missmutig auf das Duran-Duran-Poster an seinem Kleiderschrank.
»Toll«, sagte er zu Rufus, der ihm hechelnd gefolgt war, »jetzt bin ich wach, und es ist noch nicht mal fünf.«
Keine zwei Minuten später war Bernhard Forstner aus dem Haus. Jan hörte noch das Brummen des Motors, als sein Vater aus der Hofeinfahrt fuhr.
»Und was mache ich jetzt?«
Wie um Jan diese Frage zu beantworten, setzte sich Rufus vor ihn und sah ihn mit erwartungsvollem Gassi-Blick an.
Jan hob kapitulierend die Hände. Also gut, dachte er. Dann würde er jetzt eben mit Rufus Gassi gehen. Vielleicht war er danach wieder müde genug, um noch einmal ins Bett zu fallen und bis zum Mittagessen durchzuschlafen. Immerhin war dies der vorletzte Ferientag, und den wollte er auskosten. Dafür waren die Ferien schließlich da.
Das Haus der Familie Forstner lag am östlichen Stadtrand, und bis zum Fahlenberger Park waren es nur ein paar Gehminuten.
Rufus zerrte erwartungsvoll an der Leine, und Jan stapfte ihm durch den Schnee hinterher. Die letzten Tage waren sonnig gewesen, und es war kaum Neuschnee gefallen, doch die Nächte fielen eisig aus. Das Thermometer neben dem Hauseingang hatte neun Grad unter null angezeigt, aber der frostige Nachtwind erweckte den Eindruck, als sei es noch wesentlich kälter.
Einsam und verlassen empfing sie der Park im orangefarbenen Licht der Natriumdampflampen. Bäume und Büsche warfen lange Schatten auf den gefrorenen Boden, und über allem lag winterliche Stille.
Im Gegensatz zu Jan, der sich in einen dicken Steppanorak eingemummelt hatte, schien Rufus die Kälte nichts auszumachen. Schwanzwedelnd schnupperte er an den Hinterlassenschaften seiner Artgenossen, setzte seine eigenen Duftmarken an Schneehaufen und jagte einer vorbeiwehenden Plastiktüte hinterher, wobei Jan Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten, ohne auf dem glatten Weg der Nase lang hinzufallen.
Wenig später erreichten sie das Ufer des Fahlenberger Weihers. Jan ließ Rufus von der Leine, der daraufhin zu einer hoch aufragenden Tanne trottete und dort sein Geschäft verrichtete.
Jan fühlte sich ein wenig unbehaglich, und das lag nicht nur an der Kälte. Die Stille im Park war unheimlich, fand er. Der Schnee schien alle Geräusche zu schlucken. Nur das leise Pfeifen des Winterwinds, das Hecheln des Hundes und das Knirschen von Jans Schritten waren zu hören.
Als er so lauschte, durchbrach plötzlich das entfernte Heulen von Polizeisirenen die Stille. Wahrscheinlich waren sie auf der Schnellstraße am anderen Ortsrand unterwegs. Bald konnte Jan mehrere verschiedene Sirenen ausmachen. Zwei oder drei Polizeifahrzeuge und mindestens einen Rettungswagen. Bestimmt ein Autounfall.
Jan schnappte sich das Ende der Leine und befestigte den Karabiner an Rufus’ Halsband.
»Komm, wir gehen jetzt.«
Doch Rufus machte keinerlei Anstalten, auf sein frierendes Herrchen zu hören. Er hatte etwas Hochinteressantes neben dem Mülleimer an einer Parkbank entdeckt: allem Anschein nach eine leere Hamburgerverpackung, die ausgiebig beschnüffelt werden wollte.
»O Mann, jetzt komm schon«, fuhr Jan ihn an. »Mir ist sauka…«
Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Erschrocken starrte Jan auf die weiße Gestalt, die urplötzlich durch den Park auf ihn zugelaufen kam.
Ein Gespenst!, schoss es ihm durch den Kopf.
Ja, das konnte nur ein Gespenst sein! Es sah aus wie die weiße Frau, die laut seinem Buch im Berliner Stadtschloss umging, oder wie eine Banshee, die durch irische Moore geisterte und verirrte Wanderer ins Verderben lockte. Ein richtiger Mensch würde nie und nimmer in dieser Aufmachung durch den Stadtpark laufen - weder um diese Zeit noch bei dieser Affenkälte.
Jan wollte schreien und davonlaufen, doch vor Schreck war weder das eine noch das andere möglich. Wie festgefroren stand er da und starrte auf den unheimlichen Spuk, der durch die Ulmen und Ahornbäume auf ihn zueilte. Als die Gestalt nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, gesellte sich ein neuer und nicht weniger schlimmer Schrecken hinzu - denn nun erkannte Jan, wer es war. Kein Gespenst, weder eine Banshee noch die weiße Frau. Die weiß gekleidete Erscheinung, die mit wehenden Haaren auf ihn zurannte, war Alexandra Marenburg.
Schlagartig war ihm klar, weshalb die Klinik bei seinem Vater angerufen hatte und was die Polizeisirenen bedeuteten: Man suchte nach der entlaufenen Patientin.
Alexandra trug nur ein Nachthemd mit kurzen Ärmeln und dazu dünne Leggins. Ihre Füße steckten in Wollsocken, die von Schnee und Matsch vollgesogen waren. Die nackten Arme und das Gesicht hatten vor Kälte eine blau-violette Färbung angenommen. Jan musste an die Gestalten in einem Horrorfilm denken, den er sich - ohne Erlaubnis der Eltern, versteht sich - mit seinen Freunden bei einem Videoabend angesehen hatte. Tanz der Teufel. Danach hatte er nächtelang nicht schlafen können, obwohl er sich immer wieder eingeredet hatte, dass es sich nur um maskierte Schauspieler gehandelt hatte. Doch Alexandra trug kein Make-up. Dieses durchgefrorene und vor Schmerz und Angst verzerrte Gesicht war echt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund stand offen, und der Atem quoll stoßweise wie heißer Dampf heraus.
Als sie wenige Schritte vor Jan stehen blieb, konnte er die gefrorenen Speichelfäden sehen, die rechts und links wie winzige Eiszapfen von den Mundwinkeln hinabführten.
Alexandra starrte ihn an, als sei er der Schwarze Mann höchstpersönlich, dann schrie sie.
Es war ein Schrei, der Jan durch Mark und Bein ging. Dieser Schrei hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme, vielmehr hörte sich Alexandra an wie ein vor Angst verrückt gewordenes Tier. Nichts an ihr erinnerte mehr an die hübsche Achtzehnjährige im Fenster, die er hin und wieder heimlich von seinem Zimmer aus beobachtet hatte.
Jan dachte an seinen Vater, der Tag für Tag mit Verrückten zu tun hatte und der ihm einmal gesagt hatte, es gäbe keinerlei Grund, sich vor ihnen zu fürchten. Das sind Menschen wie du und ich, die unsere besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchen.
Jan rief sich dies in Erinnerung und nahm sich vor, keine Angst zu haben. Leicht fiel ihm das nicht, aber dass Alexandra vor allem jetzt besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchte, war deutlich zu erkennen.
»He«, flüsterte er und hob beschwichtigend die behandschuhten Hände. »Ich bin’s doch nur. Jan. Jan Forstner.«
In diesem Moment begann Rufus zu bellen. Wie die meisten Hunde seiner Rasse gehörte er nicht gerade zu den Mutigsten und nahm schon bei den geringsten Anzeichen einer Gefahr Reißaus, doch nun schien er beschlossen zu haben, wenigstens aus gebührender Entfernung seiner Hundepflicht nachzukommen.
Alexandras Blick zuckte zu Rufus, dann wieder zu Jan, und dann rannte sie davon. Als Jan sah, wohin sie lief, war alle Angst endgültig vergessen.
»Nein!«, schrie er ihr hinterher. »Nicht!«
Doch Alexandra lief weiter - hinaus auf die Eisfläche des Weihers.
»O Scheiße!«
Jan lief ihr bis zum Ufer hinterher, dann hielt er inne. Noch am Nachmittag, als er hier mit Rufus unterwegs gewesen war, hatte er das Eis in der Sonne knacken gehört - es hatte gesungen, wie sein Vater es nannte -, und die Parkverwaltung hatte ein Schild EISLAUFEN VERBOTEN! LEBENSGEFAHR! aufgestellt.
Gut möglich, dass das Eis zur Mitte des Weihers hin noch trug, aber er hätte keine Wette darauf abschließen wollen.
»Bleib stehen!«, kreischte er, und seine Stimme klang in seinen Ohren schrill wie eine Trillerpfeife.
Diesmal schien Alexandra ihn gehört zu haben. Sie schlitterte noch ein paar Meter übers Eis und fiel dann auf die Knie.
»Du musst zurückkommen«, rief Jan ihr zu und betonte dabei jedes einzelne Wort, damit sie ihn auch ja verstand. »Bleib auf allen vieren und komm ganz langsam wieder her.«
Fernab der Parkbeleuchtung war Alexandra nur ein buckliger Schatten auf der Eisfläche. Jan konnte sie weinen hören. Sie rührte sich nicht.
So eine dreimal verfluchte Scheiße, dachte er, als sie keinerlei Anstalten machte, zum Ufer zurückzukommen. Wahrscheinlich hatte sie jetzt begriffen, in welche Gefahr sie sich gebracht hatte.
Jan biss sich auf die Unterlippe. Was sollte er nur machen? Heimlaufen und Hilfe holen oder hierbleiben und womöglich versuchen, sie vom Eis zu holen?
Rufus, der sich hechelnd neben ihn gesetzt hatte, war ihm auch keine Hilfe.
Noch während Jan überlegte, ob er wirklich das Risiko eingehen sollte, aufs Eis zu gehen und Alexandra zurückzuholen, nahm sie ihm die Entscheidung ab. Als habe sich ihre Verrücktheit zu einer kleinen Pause entschieden und ihr Verstand wieder Oberhand gewonnen, hielt sie sich an Jans Instruktionen. Sie blieb auf allen vieren und kam vorsichtig auf ihn zu.
Ihr Schluchzen war bis zu Jan zu hören - und Jan hörte noch etwas. Ein leises Knacken, das ihn zusammenfahren ließ. Es waren noch knapp hundert Meter, die sie zurücklegen musste, und Jan betete, dass das Eis halten würde. Bald waren es noch etwa achtzig Meter, dann siebzig, dann sechzig. Je näher Alexandra dem Ufer kam, desto schneller wurden ihre Bewegungen.
Wieder das Knacken, diesmal ganz in Jans Nähe. Jan starrte auf das Eis und sah die Risse, die dicht am Ufer entstanden. Als ob sie ein hektischer Zeichner auf die glasähnliche Fläche kritzelte.
»Halt!«, rief er ihr zu. »Nicht hierher! Kriech weiter nach dort drü…«
Ein lautes Krachen schnitt ihm das Wort ab. Risse schossen über das Eis, schneller, als dass man ihnen mit den Augen hätte folgen können.
Alexandra geriet in Panik. Sie sprang auf und lief los. Direkt auf Jan und das rettende Ufer zu. Doch sie war kaum vier Schritte weit gekommen, als das Eis brach.
Jan schrie und Rufus bellte.
Alexandra stürzte in das eisige Wasser. Sie tauchte kurz unter und kam strampelnd und um sich schlagend wieder an die Oberfläche.
Jan packte Rufus am Halsband und wollte den Karabiner der Hundeleine lösen, doch mit seinen Fäustlingen war das nicht so leicht möglich. Er hörte Alexandras gurgelnde Schreie und ihr Prusten, streifte in Windeseile die Handschuhe ab und riss die Hundeleine los.
Bis zu dem Loch im Eis waren es nur noch wenige Meter, aber die Leine war viel zu kurz.
Jan überwand alle Bedenken. Auf Knien und Händen ließ er sich aufs Eis gleiten, ignorierte die Knackgeräusche und kroch auf Alexandra zu. Ihre Bewegungen waren steif, panisch und unbeholfen. Sie musste schon während ihres Laufs durch den Park völlig durchgefroren gewesen sein, und nun gab ihr das eisige Wasser den Rest.
Jan warf ihr die Leine zu, aber es wirkte geradezu lächerlich. Er war noch viel zu weit von ihr entfernt.
Und dann ging sie unter und tauchte nicht wieder auf.
Fassungslos starrte Jan auf das unruhige Wasser des Eislochs. Er glaubte kurz einen weißen Umriss zu sehen, der unter ihm mit der Strömung zum Ufer getrieben wurde. Aber gleich darauf war die Erscheinung auch schon wieder verschwunden.
 
Mehr als dreiundzwanzig Jahre waren seither vergangen. Jahre, in denen Jan immer wieder von dieser Nacht geträumt hatte. In seinen Träumen sah er das Eisloch, die weiße Erscheinung unter sich, und die dunkle Fläche des Weihers.
Gelegentlich veränderten sich diese Träume. Manchmal war Jan näher am Loch, dann wieder weiter entfernt. Mal hielt sich Alexandra noch länger über Wasser und versuchte vergeblich, das nasse Eis zu greifen, oder sie tauchte erst gar kein zweites Mal auf. Doch nie war die Leine lang genug, um Alexandra retten zu können - wenigstens in der Traumwelt.
Und es gab noch eine Variante. Dann nahm der Traum noch eine letzte Wendung: Jan sprang dem Mädchen hinterher und tauchte mit ihr in die eisige Schwärze des Weihers hinab, um vor all den Schrecken zu fliehen, die ihn nach jener schicksalhaften Nacht erwarten sollten.
Kalte Stille - Kalte Stille
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