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Es war bereits dunkel, als Jan den Wagen vor
Marenburgs Haus parkte. In der Küche brannte Licht, und durch das
Fenster konnte Jan den Alten am Tisch sitzen sehen.
Jan beschloss, noch einen kleinen Spaziergang zu
machen. Im Moment war ihm nicht nach einer Unterhaltung zumute. Er
fühlte sich müde und abgespannt, all die neuen Eindrücke und die
zahlreichen Erinnerungen machten ihm zu schaffen. Er sog die kalte
Luft ein und sah zum Himmel empor, an dem kein einziger Stern zu
erkennen war. Nur ein trüber Lichtfleck ließ den Mond hinter fetten
Wolken erahnen.
Rauhs Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen.
Die Vergangenheit loslassen. In der Gegenwart leben. Konnte
man wirklich beides voneinander trennen? War die Gegenwart denn
nicht das Resultat vergangener Ereignisse, und konnte man die
Gegenwart nicht erst dann verstehen, wenn man auch die
Vergangenheit verstand?
Seufzend schlug er den Fußweg zum Park ein. Jan
verspürte einen inneren Widerstand, der jedoch mit jedem
Schritt nachließ. Irgendwann musste er diesen Weg wieder
entlanggehen, sagte er sich. Jeder Zentimeter dieser Stadt war mit
Erinnerungen gepflastert, mit guten und mit schlechten, das galt
nicht nur für den Park. Es war an der Zeit, dies nicht länger zu
verdrängen.
Wie oft war er in Gedanken diesen Weg gegangen,
hatte sich jeden einzelnen Schritt vorgestellt und gefragt, wie es
ihm dabei ergehen würde. Nun aber spürte er nur den kalten Wind,
der ihm ins Gesicht wehte.
Im Park angekommen, ging Jan Richtung Weiher.
Unzählige Male hatte er hier Rufus ausgeführt, und jedes Mal waren
sie bis zur Bank am Ufer gegangen. Diese Parkbank gab es noch,
wenngleich sie inzwischen erneuert worden war. Jan erkannte ein
Messingschild an der Rückenlehne. Als er las, was dort eingraviert
stand, durchfuhr ihn ein Schauer.
Gestiftet von Rudolf Marenburg.
Im Gedenken an Alexandra.
Jan ließ sich auf die Bank sinken. Möglich, dass
jeder Quadratzentimeter Fahlenbergs mit Erinnerungen gepflastert
war, aber hier an diesem Flecken war ihre Dichte am höchsten. Nicht
nur wegen Alexandra.
Jan griff in seine Jackentasche und holte seinen
ständigen Wegbegleiter hervor. Die Tasten des kleinen Diktiergeräts
waren längst abgegriffen, ihre Beschriftungen kaum noch lesbar und
das Gehäuse voller Schrammen, aber es funktionierte noch. Behutsam
entfernte Jan einen Wollfussel, der sich in der Öffnung des
Kassettenfachs verfangen hatte, ehe er die Starttaste
drückte.
Klickend setzten sich die Spulen der Mikrokassette
in Bewegung. Jan hielt sich das Gerät ans Ohr. Zunächst
war nur ein Rauschen zu hören. Man hätte meinen können, das Band
sei leer. Doch bei genauerem Hinhören vernahm man das leise
Rascheln, das der Wind in den Rillen des Mikrofons erzeugte.
Nach Svens Verschwinden hatten Kriminaltechniker
die Aufnahme eingehend überprüft. Man hatte sämtliche Geräusche
herausgefiltert, verstärkt und analysiert, doch keines davon war
stark genug gewesen, um einen Anhaltspunkt zu liefern, was in jener
Nacht geschehen war.
Was auch immer passiert war, es war in aller Stille
passiert. Einer Stille, die für Jan unerträglich war und die ihn
dennoch immer wieder zwang, sie sich anzuhören.
Als das Band mit einem metallischen Schnappen
endete, nahm Jan die Kassette heraus, drehte sie um und schaltete
das Gerät wieder ein. Nun lief die A-Seite ab. Die Seite, auf der
Jan und Sven noch zusammen gewesen waren. Mehr als ein ungeduldiges
»Pssst!« von Jan war nicht zu hören, aber wie jedes Mal genügte es,
um Bilder in ihm wachzurufen. Doch anders als sonst befand sich Jan
jetzt am Ort des Geschehens. Hier, an der Stelle, an der er jetzt
saß, war es passiert. Hier hatten sie das Diktiergerät auf der Bank
abgestellt und mucksmäuschenstill darauf gewartet, dass etwas
geschehen würde. Etwas absolut Verrücktes, an das nur ein
Zwölfjähriger hatte glauben können, während sein frierender kleiner
Bruder neben ihm stand.
Und dann, ganz am Ende des Bands, sprach Sven. Es
war nur ein Satz, aber er genügte, um Jan die Tränen in die Augen
zu treiben.
»Wann gehen wir endlich wieder heim?«
Gleich darauf schaltete sich das Gerät ab, und
diesmal ließ das schnappende Geräusch Jan zusammenzucken.
Nun konnte Jan sich nicht mehr beherrschen. Heulend
umklammerte er das Diktiergerät, strich über die aufgeprägten
Buchstaben des GRUNDIG-Schriftzugs und steckte es dann zurück in
seine Jacke.
Erst in diesem Moment bemerkte er, dass er nicht
allein war. Marenburg musste ihn gesehen haben und ihm gefolgt
sein.
»Ist für uns beide ein schlimmer Ort«, sagte er.
»Und trotzdem zieht es uns hierher.«
»Das muss endlich ein Ende haben«, sagte Jan und
rieb sich mit dem Jackenärmel die Tränen aus den Augen. Er schämte
sich, mit seinen fünfunddreißig Jahren hier herumzusitzen und zu
weinen wie ein Kind, aber er fühlte auch die Erleichterung, die es
ihm verschaffte.
»Ich kann so nicht mehr weitermachen, Rudi. Ich
habe meinen Job verloren, weil mich die Suche nach Erklärungen
zerfressen hat. Meine Frau hat sich von mir getrennt, weil sie es
nicht mehr mit mir ausgehalten hat, und ich kann es ihr nicht
verdenken. Ich halte es ja selbst nicht mehr mit mir aus.«
»Weißt du«, sagte Marenburg und ließ sich neben ihm
nieder, »es gibt Millionen von Binsenweisheiten in der Art von
die Zeit heilt alle Wunden und so weiter. Das ist alles
gequirlte Scheiße, Junge. Der Schmerz lässt nie nach. Genauso wenig
wie man aufhören wird, nach dem Grund für etwas zu suchen, das
einen quält.« Marenburg sah Jan in die Augen und lächelte
tröstlich. »Aber man muss aufpassen, dass man dabei noch seine fünf
Sinne beisammenhält. Wahrscheinlich wirst du nie erfahren, was aus
deinem Bruder geworden ist. Ebenso wie ich vielleicht nie den Grund
wissen werde, warum mein Mädchen hier sterben musste. Aber was man
lernen kann, ist, mit dem Schmerz zu leben. Das klappt nicht
immer, aber mit ein wenig Geduld wird es im Lauf der Jahre
einfacher.«
Jan ließ diese Worte auf sich wirken, dann sagte
er: »Ich werde eine Therapie machen. Allein pack ich es nicht
mehr.«
Marenburg rückte von ihm ab, dann stand er
auf.
»Eine Therapie«, wiederholte er, und in seine
quäkende Kermit-Stimme mischte sich gelinder Spott. »Junge, ich
will es dir nicht verderben, du wirst es dir bestimmt gut überlegt
haben. Vielleicht hilft es bei dir, aber ich habe da meine Zweifel.
Würden solche Therapien wirklich nützen, wäre meine Alexandra noch
am Leben. Auch sie hat eine Therapie gemacht«, er spie das
Wort fast aus, »ach, was sage ich, ein ganzes Dutzend. Und hat es
etwas geholfen?«
»Das war etwas anderes, Rudi. Alexandra war schwer
krank. Nach allem, was ich weiß, litt sie unter den Folgen einer
Hirnstoffwechselstörung. Das kann man nicht so einfach therapieren.
Die Medikamente können es allenfalls lindern.«
Marenburg trat nach einem kleinen Stein, der
daraufhin über den Betonweg schlitterte.
»Nimm es nicht persönlich, Jan, aber ich halte
verdammt wenig von diesem Psychiatrie-Hokuspokus. Ihr Psychiater
tappt doch bloß im Dunkeln, und wenn ihr nicht mehr weiterwisst,
dann ist es eben der Stoffwechsel im Gehirn oder so etwas. Nichts
gegen deinen Vater, aber wenn du mich fragst, dann haben die mein
Mädchen damals nur noch verrückter gemacht. Jedes Mal, wenn sie aus
dieser verfluchten Klinik entlassen worden ist, war sie noch
merkwürdiger, noch unnahbarer. Und dann läuft sie wie eine
Besessene hierher und stirbt.« Er sah sich zu Jan um, und nun
schimmerten auch in seinen
Augen Tränen. »Ich will dir deine Therapie nicht ausreden, aber
glaub einem alten Mann: Mit seinen Gespenstern muss jeder allein
zurechtkommen. Die kann kein anderer für dich vertreiben, und erst
recht helfen keine Pillen. Hab Geduld mit dir selbst, dann schaffst
du es. Du hast einen Neuanfang gemacht, und ich bin mir sicher,
dass es dafür keinen besseren Ort gibt, als den, an dem alles
angefangen hat.«
»Vielleicht hast du Recht«, sagte Jan und stocherte
mit der Schuhspitze im Boden. »Aber wenn man den richtigen Weg für
sich selbst finden will, sollte man nichts unversucht
lassen.«
»Amen«, sagte Marenburg und lächelte. »Was hältst
du jetzt von einem schönen kühlen Fahlenberger Schlossquellbier?
Wenn man genug davon intus hat, um den Namen nicht mehr aussprechen
zu können, lassen auch die Schmerzen in der Brust nach.«
Jan lehnte dankend ab. Alkohol würde seine
Niedergeschlagenheit nur verstärken. Marenburg zuckte mit den
Schultern. Er machte Anstalten, zurück zum Haus zu gehen, doch Jan
hielt ihn zurück: »Wie hast du das vorhin gemeint, man hätte
Alexandra in der Klinik nur noch verrückter gemacht?«
»So, wie ich es gesagt habe. Ich weiß nicht, was
die da drin mit ihr angestellt haben, aber irgendwas hat sie dazu
getrieben, mit kaum einem Fetzen am Leib in den Park zu rennen. Sie
hat eine Scheißangst gehabt, Jan. Das weißt du wahrscheinlich
besser als ich.«
Jan sagte nichts. Er sah nur Alexandras verzerrtes
Gesicht vor sich, die an ihren Wangen festgefrorenen Speichelfäden
und die weit aufgerissenen Augen.
Marenburg, der Jans Schweigen als Zustimmung
wertete, nickte bedeutungsvoll. »Irgendjemand in dieser
verfluchten Klinik ist schuld an ihrem Tod gewesen. Darauf gebe
ich dir Brief und Siegel, auch wenn ich es nicht beweisen
kann.«