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Seit Tagen hatte es sich angekündigt, jetzt ließ der schiefergraue Novemberhimmel die ersten dicken Schneeflocken dieses Winters auf Fahlenberg fallen. Noch hielt sich der Schnee nicht lange auf dem Asphalt, aber wenn der frostige Wind weiterhin anhielt, würde die Stadt bald unter Schneemassen begraben sein.
Jan hatte das Autoradio aufgedreht und genoss die laute Musik, die die Stille aus der Enge der Kabine vertrieb. Billy Idol verkündete gerade, er tanze mit sich selbst, als Jan auf der Schnellstraße den Stau sah und abbremste. Die Ursache für den Stau ließ sich nicht ausmachen. Vielleicht war ein leichtsinniger Fahrer den Winterbedingungen zum Trotz mit Sommerreifen unterwegs gewesen und ins Schleudern geraten. Erst vor ein paar Minuten hatte der Radiomoderator über die hohe Zahl solcher Unfälle berichtet, die sich mit erstaunlicher Regelmäßigkeit ereigneten, sobald der erste Schnee fiel.
Dann sah Jan einen dicken Mann, der mit wehendem Trenchcoat zwischen den wartenden Fahrzeugen hin und her lief und etwas rief. Jan stellte das Radio ab und ließ die Seitenscheibe herunter.
»Ein Arzt!«, hörte er den Dicken im Trenchcoat rufen, während er bei Jans Vordermann auf das Dach hämmerte. »Ist hier ein Arzt? Herrgott, wir brauchen einen Arzt!«
Nun sah Jan die Blutflecken auf den Schößen seines Mantels und stieg aus.
»Ich bin Arzt! Was ist los?«
Der Mann im Trenchcoat wirbelte zu Jan herum. Er schien völlig aus dem Häuschen und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Dann stürmte er auf Jan zu, packte seinen Jackenärmel und zog ihn mit sich.
»Kommen Sie! Mein Gott, kommen Sie schnell!«
Jan gelang es, seinen Arm aus dem Griff zu befreien, während er hinter dem Mann die Autoschlange entlangeilte. Mehrere Fahrer reckten neugierig die Köpfe aus ihren Fahrzeugen. Eine Männerstimme rief: »He, was ist denn da vorn los?«, ein anderer fluchte, wann es endlich weitergehe. Ein Stück weiter hinten wurde gehupt.
Der Unfallort befand sich wenige Meter hinter einer Fußgängerbrücke, die den Fahlenberger Stadtkern mit einer Neubausiedlung verband. Ein roter Seat stand dort quer auf der Straße. Als sie sich ihm näherten, stieß eine Frau wenige Meter vor ihnen einen entsetzten Schrei aus, wandte sich um und taumelte an ihnen vorbei.
Der Dicke im Trenchcoat blieb stehen, als traue er sich nicht weiter. Jan blieb ebenfalls stehen. Er sah die verbeulte Motorhaube des Unfallwagens. In der Windschutzscheibe klaffte ein Loch.
Steinewerfer, schoss es ihm durch den Kopf. Irgendein Idiot hat etwas von der Brücke geworfen!
Hinter dem Auto sah Jan einen jungen Mann im dunklen Anzug. Er stand vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und würgte Speichelfäden auf einen Haufen Erbrochenes. Der arme Kerl war ganz offensichtlich der Fahrer des Seats. Er war unverletzt, also traf Jans Theorie vom Steinewerfer nicht zu.
Jan ließ den Dicken stehen und ging um den Unfallwagen herum. Als er sah, was dort auf der Straße lag, erstarrte er. Er hatte während seines Studiums schon einige schlimme Dinge gesehen, aber bei diesem Anblick blieb ihm fast das Herz stehen. Kein Wunder, dass der Fahrer sich die Seele aus dem Leib kotzte. Jan spürte ebenfalls, wie es ihn würgte.
Ärzte sind auch nur Menschen, hatte einmal ein befreundeter Unfallchirurg zu ihm gesagt. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie gelernt haben, den kleinen Schalter in ihrem Kopf umzulegen, der sie zum Profi macht.
Jan riss sich zusammen und legte den Schalter um. Erst schien er etwas zu klemmen, aber dann klappte es.
»Haben Sie den Notarzt gerufen?«, fuhr er den Mann im Trenchcoat an, der ihn ansah, als hätte Jan ihn auf Japanisch angesprochen. Jan wandte sich an die Schaulustigen, die sich inzwischen versammelt hatten.
»Rufen Sie den Rettungsdienst! Eins, eins, zwei!«
Augenblicklich wurden etliche Handys gezückt, doch nicht alle wurden ans Ohr gehalten. Mit Entsetzen nahm Jan wahr, dass nicht jeder die Absicht hatte, zu telefonieren - zumindest nicht, ehe man nicht ein paar Fotos gemacht hatte.
Jan näherte sich dem Unfallopfer, das mehrere Meter vom Seat entfernt lag. Eine Frau. Sie musste von der Fußgängerbrücke gesprungen und auf das Auto geprallt sein. Die Brücke war nur wenige Meter hoch, und der Sprung allein hätte ihr wahrscheinlich nur gebrochene Beine eingebracht, aber der Aufprall auf ein fahrendes Auto war verheerend. Daran änderte auch nichts, dass der Fahrer sofort in die Eisen gestiegen war, wie die tiefschwarzen Bremsspuren bezeugten.
Jan schätzte die Frau auf Mitte zwanzig. Sie musste einige Meter durch die Luft geschleudert worden sein. Ihr zerfetzter Anorak verriet, dass sie danach noch ein weiteres Stück rücklings über die raue Straßenfläche geschlittert war. Der linke Arm, beide Beine und das Rückgrat waren gebrochen, daran ließ ihre verkrümmte Lage keinen Zweifel. Das linke Bein lag verdreht auf dem Asphalt, das rechte stand angewinkelt auf dem Boden, wobei es zwischen Knie und Fuß einen Rechtsknick eingenommen hatte, als befände sich in der Mitte ihres Schienbeins ein weiteres Gelenk. Ihr Rumpf sah aus, als habe ihn eine gewaltige Kraft zu einem menschlichen S verbogen.
Jan trat näher heran. Noch hob und senkte sich der Brustkorb der jungen Frau. Doch als Jan jetzt ihr Gesicht zu sehen bekam, gab er ihr nur noch Minuten, und er hoffte für sie, dass es sehr wenige Minuten sein würden. Das linke Auge war durch das verschobene Jochbein ins Schädelinnere gequetscht worden, während das rechte hektisch umherzuckte. Die Frau schien bei vollem Bewusstsein zu sein.
Jan kniete sich neben die Sterbende und griff vorsichtig ihre rechte Hand. Augenblicklich krampften sich ihre Finger um die seinen. Jan sah auf all das Blut, das aus einer gewaltigen Platzwunde inmitten der Stirn und aus den Überresten der eingedrückten Nase und den Ohren quoll. Die Blutlache berührte bereits seine Schuhe, und das lange dunkle Haar der Frau glänzte wie Seetang in einem tiefroten Meer.
Dennoch war Leben in dieser Frau. Ihr Griff war noch immer fest, und das verbliebene Auge zuckte nach wie vor umher, als schien es nicht begreifen zu können, was es sah.
»Ruhig«, sagte Jan sanft. »Bleiben Sie ruhig, Hilfe ist unterwegs.«
Natürlich war das ausgemachter Blödsinn. Ebenso hätte er Alles wird gut oder Das wird schon wieder sagen können. Zwar konnte Jan in einiger Entfernung die Martinshörner von Polizei und Notarzt hören, aber er wusste, dass hier jede Hilfe zu spät kam.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sah die Frau ihn plötzlich mit ihrem unversehrten Auge starr an. Ein eiskalter Schauer durchfuhr Jan.
Wie sie mich ansieht! Wo bleibt nur der verdammte Rettungswagen?
Die Frau gab grässliche Laute von sich und schien mit ihrem Griff Jans Finger brechen zu wollen. Doch als er schon dachte, dies sei ein letztes Aufbäumen vor dem Ende, begannen ihre Arme zu zucken, als wollten sie sich von etwas befreien. Jan glaubte seinen Augen nicht zu trauen, aber die Frau versuchte tatsächlich, sich aufzurichten. Doch mehr als den Kopf anzuheben gelang ihr nicht.
»Nicht bewegen«, sagte er und strich ihr beruhigend über den Kopf. »Bleiben Sie liegen. Es ist gleich vorbei.«
Mit einem gurgelnden Geräusch ließ die Frau den Kopf zurückfallen, wandte sich aber sofort wieder Jan zu. Schneeflocken fielen auf ihr blutverschmiertes Gesicht, und das einzelne Auge stierte Jan mit einem flehentlichen Ausdruck an.
Sie will mir etwas sagen!
Es war unfassbar. Obwohl diese Frau Höllenqualen durchleiden musste und ihr der Unterkiefer wie ein Fremdkörper quer herabhing, so dass ihr das Sprechen unmöglich war, wollte sie ihm dennoch etwas mitteilen.
Jan hielt sein Ohr dicht an ihr Gesicht. Er spürte ihre warmen Atemstöße und konnte das Gurgeln in ihrer Kehle hören. Mehrmals musste sie ihr Blut schlucken, ehe ihr ein einzelner Laut glückte.
»Gäoh!«
Sie würgte einen weiteren Blutschwall hervor, schluckte und stieß dann noch einmal den seltsamen Laut aus, diesmal länger: »Gääääoooooh!«
Der Laut, der vielleicht ein Wort, vielleicht aber auch nur ein letzter Ausdruck ihrer Schmerzen war, ging in ein Hauchen über.
Jan sah die Frau an und zwang sich zu einem sanften Lächeln. Er wollte ihr etwas Gutes mit auf die letzte Reise geben.
Ihr Blick brach, der Griff um seine Hand erschlaffte, und dann war es endlich vorbei.
Kalte Stille - Kalte Stille
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