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Im wirklichen Leben hieß sie Dunja Koslowski, doch
wenn sie ihrem Job im Love Palace nachging, nannte sie sich
Mandy. Als angehende Schauspielerin brauchte sie schließlich einen
guten Künstlernamen, der sich nicht nach dem einfachen
Bauernmädchen aus der Ukraine anhörte, das sie einmal gewesen war.
Und schon damals hatte für sie festgestanden, dass sie einmal Mandy
heißen würde - so wie das Mädchen, das Barry Manilow vor vielen
Jahren besungen hatte.
Was den Nachnamen betraf, war sie sich noch nicht
sicher, aber sie würde sich zu gegebener Zeit von einem Profi
beraten lassen - jemandem, der wusste, wie man ein wirklicher Star
wurde. Bis dahin würde sie Mandy sein, einfach nur Mandy.
Fast alle ihre Freier nannten sie bei diesem Namen.
Nur einer sagte Carmen zu ihr. Der große Unbekannte, der ihr
seinen Namen nicht verraten wollte. Er war einer ihrer wenigen
Stammfreier.
»Carmen« war die zweite große Hauptrolle ihres
Lebens. Die erste hatte sie in einem Pornostreifen gespielt, für
den acht Montagearbeiter aus Düsseldorf sie bezahlt hatten. Sie war
die Hauptdarstellerin bei einem Gangbang in einem schäbigen
Hotelzimmer gewesen. Auch wenn dazu aus ihrer Sicht keine großen
schauspielerischen Qualitäten gehörten, fand sie dennoch, dass sie
überzeugend gewesen war.
Die Rolle der Carmen war da weit anspruchsvoller.
Der große Unbekannte hatte nicht einfach ein Flittchen gesucht, das
er bumsen konnte, so wie diese Kerle damals. Er hatte sie sich
gezielt ausgesucht - sie gecastet, wie man das nannte. Zwar
hatte er Dunja nie seine Auswahlkriterien
verraten - wie er überhaupt nicht viel mit ihr sprach -, aber sie
war sich immer noch sicher, dass es um mehr als nur ihren Körper
gegangen war. Er musste ihr Talent erahnt haben.
Letztlich ausschlaggebend dürften allerdings ihre
Haare gewesen sein, da wäre sie jede Wette eingegangen. Natürlich
legte sie viel Wert auf ihr Äußeres, und ihr Körper war makellos:
lange schlanke Beine, ein straffer Po und feste Brüste - nicht
allzu groß, aber groß genug, dass sie auf Männeraugen magnetisch
wirkten. Selbstverständlich fanden sich an ihr keinerlei
Fettpölsterchen. Sie ernährte sich streng nach einer Star-Diät, von
der sie gelesen hatte. Madonna schwor darauf, ebenso wie Penélope
Cruz und Cameron Diaz. Aber es waren vor allem ihre langen
kastanienbraunen Haare, die das Besondere an ihr ausmachten. Sie
waren, wenn man so wollte, ihr Markenzeichen. So wie die
wasserstoffblonde Frisur der Monroe oder die Lockenmähne von Julia
Roberts.
Dunja pflegte ihr Haar mit teuren Shampoos und
Glanzpackungen und hoffte, dass sich das kleine Vermögen, das sie
in ihre Frisur investierte, irgendwann auszahlen würde. Der große
Unbekannte war der Erste, der dieses Haar wirklich zu schätzen
wusste. Deshalb war sie seine Carmen geworden.
Ihre Rolle bestand darin, sich mit weit gespreizten
Beinen auf das große Bett in ihrem kleinen Studio zu legen, den
linken Arm von sich gestreckt. Mit der rechten Hand hielt sie sich
eine Pappmaske vors Gesicht, die er ihr jedes Mal mitbrachte.
Die Maske war handgemacht, das konnte man sehen,
und er hatte viel Sorgfalt darauf verwendet. Sie war mit dem Foto
einer hübschen jungen Frau überzogen, und Dunja zweifelte keinen
Augenblick daran, dass diese
Frau die wahre Carmen war - die Frau, deren Rolle sie zu
spielen hatte.
Gleich beim ersten Mal hatte sie ihn gefragt, wie
diese Carmen denn sei, in welcher Tonlage sie sprach und wie sie
sich bewegte. Gerade bei der Darstellung realer Persönlichkeiten
war solches Wissen enorm wichtig, sagte Dunjas Leitfaden der
Schauspielkunst, den sie in- und auswendig kannte. Doch er
hatte sich bedeckt gehalten.
»Du machst das schon richtig«, hatte er gesagt,
woraufhin Dunja beschlossen hatte, sich auf ihr Einfühlungsvermögen
zu verlassen und, so gut es ihr möglich war, zu
improvisieren.
Bei jedem seiner Besuche brachte er ihr neben der
Maske auch einen Zettel mit. Auf ihm fand sich Dunjas Text. Er war
mit der Hand geschrieben, in großen, gleichmäßigen
Druckbuchstaben.
Dunjas Aufgabe bestand darin, den Text auswendig zu
lernen, während sie beide sich entkleideten. Danach musste sie ihm
den Zettel zurückgeben und sich auf das Bett legen. Dann kam er zu
ihr, drapierte ihr Haar über den blauen Satin des Spannbetttuchs
und bedeckte ihren Bauch mit einem Zipfel der Bettdecke.
Letzteres war der Teil, bei dem er
improvisieren musste. Er mochte das glitzernde Piercing in ihrem
Bauchnabel nicht - das wusste sie, da er sie bei ihrem ersten
Treffen gefragt hatte, ob sie es herausnehmen könne, was sie hatte
verneinen müssen.
Sobald er mit ihrer Position zufrieden war und vor
sie trat, schlüpfte sie in ihre Rolle. Dann spielte sie nicht nur
Carmen, sie wurde zu Carmen und zeigte all ihr Können. Die
Maske vors Gesicht haltend wie eine moretta im
venezianischen Karneval, begann sie, ihren Text zu sprechen. Dabei
legte sie in jedes ihrer Worte Gefühl
und Betonung, so dass es keinesfalls wie bloßes Aufsagen
klang.
»Ich bin jetzt bei dir«, hauchte sie. »Wir gehören
für immer zusammen. Nichts kann uns trennen. Alles, was geschehen
ist, sei dir verziehen. Alles ist verziehen.«
Sie spürte, wie er in sie eindrang und sich in ihr
bewegte. Zuerst sanft und zögernd, dann schneller und
heftiger.
»Ich liebe dich«, keuchte er. »Ich liebe dich, ich
liebe dich, ich liebe dich.«
»Ja, mein Geliebter«, flüsterte sie. »Liebe deine
Königin.« Das war frei improvisiert, und sie fand, dass es toll
klang. »Alles sei dir vergeben.«
»Ich wollte … es … nicht«, schluchzte er.
Dann kam er, und wie so oft begann er zu weinen.
Doch dieses Mal schien es Dunja verzweifelter als sonst. Sie
spürte, wie er aus ihr glitt, und legte die Maske beiseite.
Er stand vor ihr, das Gesicht in den Händen
vergraben, und schluchzte.
Einen Mann weinen zu sehen hatte für Dunja etwas
Herzzerreißendes. Normalerweise neigten die Männer eher zu
Gewalttätigkeiten, tobten oder schrien oder schlugen. Wenn Männer
weinten, litten sie unter besonders schlimmen Qualen. Erst recht,
wenn sie vor einer Frau in Tränen ausbrachen.
Ihn so zu sehen, machte ihr das Herz schwer. Sie
mochte ihn. Er war anders als die anderen. Er beschimpfte sie nicht
oder bezeichnete sie als »Fickstück« oder »geiles Luder« wie die
meisten anderen Kerle. Im Gegenteil, er machte Dunja zu jemand
Besonderem - in erster Linie natürlich für sich selbst, aber auf
eine gewisse Weise auch für sie.
»Willst du mir von ihr erzählen?«
Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Sie beobachtete ihn, wie er sich wieder anzog. Es
war so ein trauriger Anblick. Er legte sein Geld auf ihren
Schminktisch und dazu ein Beutelchen Koks. Seine übliche Dreingabe,
damit sie auch wirklich niemandem von ihm erzählte. Dabei wusste
sie beim besten Willen nicht, wem sie von dem großen Unbekannten
hätte erzählen sollen.
»Man kann mit mir auch reden, nicht nur ficken«,
versuchte sie ihn zu ermuntern. »Ich kann zuhören, und wir haben
noch Zeit.«
»Halt den Mund!«
Er packte einen ihrer Parfümflakons, wirbelte zu
ihr herum und schmetterte das Fläschchen hinter ihr an die Wand.
Süßlich schwerer Blumengeruch erfüllte den Raum.
Dann ging er und knallte hinter sich die Tür ins
Schloss.
Dunja sah ihm verwundert nach. So hatte sie ihn
noch nie erlebt.
»Dann eben nicht.«
Seufzend betrachtete sie die Scherben. Sie war ihm
zu nahe gekommen, und das mochte er wohl nicht. Auch gut. Mehr als
sich anbieten konnte sie nicht. Das Parfüm konnte sie verschmerzen.
Allein sein Stoff war mehr wert als das Fläschchen.
Und wer weiß, dachte sie, vielleicht
spricht er ja beim nächsten Mal von ihr.
Irgendwann erzählten sie alle ihre Geheimnisse.
Früher oder später.