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»Ah, der Neue!«
Hieronymus Liebwerk saß an seinem Schreibtisch und
kaute an einem Stück Vollkornbrot. Als er Jan angrinste, waren
seine nikotingelben Zähne mit Senf, Leberwurst und Brotkrümeln
verschmiert.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte Jan und
legte eine Plastiktüte auf den Tisch. »Zwei Stangen, wie
vereinbart.«
Liebwerks Grinsen wurde noch breiter. Er spähte in
die Tüte und nickte zufrieden.
»Die Vereinbarung war, dass ich die Akte
suche, nicht wahr? Nun, dann haben wir jetzt beide unseren
Teil erfüllt.«
»Wie meinen Sie das?«
Liebwerk ließ die Zigaretten in einer der
Schubladen verschwinden. »Die Patientin hieß Alexandra Marenburg,
richtig? Das Jahr war 1985?«
»Ja. Und?«
»Ich bin sämtliche Kartons dieses Jahrgangs
durchgegangen, aber eine Alexandra Marenburg war nicht
dabei.«
Jan schüttelte verwundert den Kopf. »Das kann nicht
sein. Sie war 1985 Patientin in dieser Klinik, das weiß ich
sicher.«
»Trotzdem gibt es keine Akte«, sagte Liebwerk und
griff mit seinen dürren Fingern nach dem Zigarettenpäckchen, das
auf dem Tisch lag. »Entweder wurde damals keine Akte angelegt, oder
sie hat nie den Weg ins Archiv gefunden. Das heißt …«, er ließ sein
Feuerzeug aufschnappen, »in der langen Zeit kann natürlich mal
etwas abhandenkommen.«
Jan stieß einen enttäuschten Seufzer aus. In der
Tat konnte es passieren, dass ein Arzt vergaß, eine Akte ins Archiv
zu schicken, aber es erschien ihm doch ziemlich seltsam, dass es
ausgerechnet Alexandras Akte war, die fehlte.
»Könnte es nicht sein, dass die Akte, nun ja,
einfach falsch abgelegt worden ist?« Jan versuchte, es nicht wie
einen Vorwurf klingen zu lassen.
Liebwerk legte den Kopf schief. »Hören Sie, junger
Mann, es sieht vielleicht nicht danach aus, aber ich habe den Laden
hier im Griff. Hier wird nichts falsch abgelegt.«
»Nein, so war das nicht gemeint«, wehrte Jan ab.
»Aber jeder kann mal Fehler machen.«
Liebwerk sog an seiner Zigarette und sah dabei aus,
als wolle er sie mit einem Zug bis zum Filter niederrauchen.
»Man lässt mich hier unten zwar versauern, aber
eins wird Ihnen jeder Klinikmitarbeiter bestätigen: Wenn ein
Hieronymus Liebwerk etwas anpackt, dann macht er das
gewissenhaft.«
»Falls ich Sie beleidigt haben sollte, tut es mir
leid«, sagte Jan und meinte es auch so. »Es erscheint mir nur
merkwürdig, dass ausgerechnet diese Akte verschwunden sein soll.
Gibt es irgendeine Möglichkeit herauszufinden, was aus der Akte
geworden ist?«
»Nein«, entgegnete Liebwerk. »Heutzutage kann ich
in meinen schlauen Computer schauen und sehen, ob eine Akte
angelegt wurde und wo sie sich befindet, aber diese alten Fälle
wurden nie erfasst. Wie gesagt, wenn der Aktenvernichter
funktionieren würde, gäbe es den Kartonberg nebenan längst nicht
mehr.«
Er brach in einen Hustenanfall aus, ehe er
hinzufügte: »Die beiden Stangen werde ich trotzdem behalten. Hat
mich fast drei Stunden gekostet, diese staubigen Schachteln
durchzusehen. Aber dafür haben Sie etwas bei mir gut.« Wieder brach
er in Husten aus.
»Sie sollten das Rauchen aufgeben«, konnte Jan sich
nicht verkneifen anzumerken. »Man hört das Rasseln Ihrer Lunge
schon ohne Stethoskop.«
»Ach was«, Liebwerk grinste wieder. »Rauchfleisch
hält länger. Nicht gewusst?«
Auf dem Rückweg zur Station musste Jan an einen
Reim aus seiner Jugend denken.
Siehst du die Leichen unten im Tal?
Das waren die Raucher von Reval.
Siehst du die Leichen am Wegesrand?
Das waren die Raucher von Stuyvesant.
Siehst du die Leiche dort im See …
Die Leiche im See.
Alexandra.
Warum war ausgerechnet ihre Akte nicht mehr
vorhanden? War das auch nur so ein merkwürdiger Zufall, so wie die
verblüffende Ähnlichkeit zwischen Alexandra und der jungen Frau von
der Brücke? Für Jans Gefühl waren das eindeutig ein paar Zufälle zu
viel.