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Begleitet von den dumpfen Schlägen der
Fahlenberger Christopherus-Kirche ging Jan auf Marenburgs Haus zu.
Halb neun, aber Jan kam es vor, als sei es mitten in der
Nacht. Frostiger Wind fegte durch die Straßen und trieb
Eiskristalle vor sich her. Den ganzen Tag hatte es geschneit, und
überall türmten sich die Schneehügel an den Straßen. Auch der
Bürgersteig vor dem Haus und der Zugang zur Tür waren freigeräumt.
Marenburg war fleißig gewesen.
Noch bevor Jan mit klammen Fingern die Haustür
aufsperren konnte, wurde ihm geöffnet.
»Da bist du ja«, sagte Marenburg und schloss die
Tür hinter ihm. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
Im Haus war es wohlig warm. Marenburg hatte den
Kachelofen im Wohnzimmer angeheizt, und Jan spürte, wie sein
Gesicht zu glühen begann. In Hubert Amstners Hinterhof war es zugig
und kalt gewesen, und Jan war trotz seiner warmen Jacke bis auf die
Knochen durchgefroren. Er setzte sich auf die Ofenbank.
»Hast du auf mich gewartet?«
Marenburg nahm in einem Sessel Platz und nickte.
»In der Klinik haben sie mir gesagt, du seist gleich nach
Feierabend losgefahren.«
»Du hast in der Klinik angerufen?« Jans Stimme
verriet einen gewissen Unmut. Übertrieb der gute Rudi es nicht ein
wenig mit seiner Fürsorge?
Marenburg machte eine abwehrende Geste. »Nimm’s mir
nicht übel. Es ist nur, dass jemand schon seit über einer Stunde
versucht, dich zu erreichen, und es hört sich ziemlich dringend
an.«
»Jemand hat für mich angerufen?«
»Ja, schon dreimal.«
Jan runzelte die Stirn. Wer sollte ihn hier zu
erreichen versuchen? Die Einzige, die ihm einfiel, war Martina.
Aber sie konnte es nicht gewesen sein. Weder wusste sie, dass er
jetzt bei Rudolf Marenburg wohnte, noch hätte
sie sich bei ihm gemeldet, selbst wenn sie es gewusst
hätte.
»Wer war es?«
»Keine Ahnung. Ein Mann. Ich hab ihn nach seinem
Namen gefragt und ob ich dir eine Nachricht hinterlassen soll, aber
er meinte nur, er würde später wieder anrufen. Als du dann nicht
kamst, habe ich es auf deiner Station versucht. Der Pfleger meinte,
du wärst schon seit einer ganzen Weile weg. Na ja, und weil die
Straßen ziemlich eisig sind, hatte ich schon befürchtet, du hättest
deine alte Kiste in den Straßengraben gesetzt.«
»Danke, Rudi. Entschuldige, wenn ich …«
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, sagte
Marenburg und lächelte verständnisvoll.
»Ich war bei Amstner«, erklärte Jan, wie um etwas
gutzumachen.
»Bei Hubert?« Marenburg war sichtlich
überrascht.
»Ja, ich wollte mit ihm über Sven reden.«
»Und er hat mit dir gesprochen?«
Jan nickte. »Amstner hat damals etwas gesehen.
Einen Wagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Wald
fuhr. Ich vermute, es war mein Vater, kurz vor dem Unfall. Zeit und
Strecke würden passen. Und das macht mich fertig, Rudi. Das ist
einer meiner Dämonen, von denen du gesprochen hast. Ich würde
wirklich viel geben, wenn ich nur wüsste, wohin Vater in dieser
Nacht unterwegs gewesen sein könnte.«
Rudolf Marenburg stieß einen tiefen Seufzer aus und
kratzte sich am Kopf. »Tja, darüber habe ich mir auch schon oft den
Kopf zermartert. Keine Ahnung, was ihn dazu getrieben hat, mitten
in der Nacht und noch dazu bei diesem Schneetreiben in den Wald zu
fahren.«
»Es kann doch nur mit Sven zu tun gehabt haben«,
sagte Jan. »Andernfalls wäre er nie aus dem Haus gegangen. Er wäre
bei Mutter geblieben und hätte auf eine Meldung der
Suchmannschaften gewartet.«
»Sehe ich genauso«, pflichtete Marenburg ihm bei.
»Das war ja auch der Grund, weshalb man anfänglich an eine
Entführung geglaubt hatte. Zuerst der Anruf und dann Bernhards
überstürzter Aufbruch.«
»Weißt du, Rudi, an die Theorie der Entführung
konnte ich nie so recht glauben. Wer hätte schon auf die Idee
kommen sollen, Sven zu entführen, und vor allem warum? Wir waren
doch nicht reich. Klar, es ging uns gut, aber Vater war
Alleinverdiener, hatte ein Haus abzuzahlen, und Großvater hatte ihm
nicht gerade ein Vermögen hinterlassen. Jeder Kidnapper, der
einigermaßen klar im Kopf ist, hätte vorher die
Vermögensverhältnisse seines potenziellen Opfers recherchiert und
festgestellt, dass es bei uns nicht viel zu holen gab. Aber selbst
wenn es tatsächlich eine Entführung gewesen wäre und Vater
losgefahren ist, um Sven freizubekommen, hätte er das Lösegeld bei
sich haben müssen. Dazu hätte er aber auch warten müssen, bis die
Bank öffnet. Und dann gibt es ja auch noch das, was man später von
Sven gefunden hat. Seine …«
Jan brachte das Wort nicht über die Lippen.
Stattdessen starrte er betrübt auf den Teppichläufer zu seinen
Füßen.
Marenburg schürzte nachdenklich die Lippen. »Ich
habe keinen blassen Schimmer, was er dort wollte, Jan. Wenn man die
Straße weiterfährt, kommt man irgendwann nach Kössingen. Ich glaube
aber kaum, dass Bernhard in dieses Kuhdorf wollte. Warum auch? In
Kössingen könnte selbst der Papst noch lernen, was ein
strenggläubiger Katholik ist. Da entführt doch keiner
einen kleinen Jungen.« Wie um seine Aussage zu bekräftigen,
schüttelte er den Kopf. »Ansonsten gibt es auf halber Strecke nur
den Waldparkplatz. Und da war nichts zu finden. Die Polizei hatte
die ganze Umgebung abgesucht. Weiter drinnen im Fahlenberger Forst
gibt es zwar ein paar Jagdhütten, die auch von den Waldarbeitern
genutzt werden, aber dort hat man ebenfalls keine Spuren entdeckt.
Im Winter ist da so gut wie nie jemand. Ich war damals dabei, als
man den Wald durchkämmt hat.
Einige von uns hatten geglaubt, der Entführer hätte
deinen Vater zum Parkplatz bestellt, und Bernhard sei auf dem Weg
dorthin verunglückt. Hätte ja auch sein können. Bei dem heftigen
Schneefall hätte man dort keine verwertbaren Spuren finden
können.
Aber selbst wenn, der ganze Parkplatz ist da stets
voller Reifenspuren. Ist noch immer ein beliebter Ort bei jungen
Pärchen. Böse Zungen behaupten, mindestens die Hälfte aller
Fahlenberger sei dort oben gezeugt worden. Wenn du da tagsüber
spazieren gehst, findest du mehr Kondome als Pilze. Und wenn die
Leidenschaft groß genug ist, ist selbst der kälteste Winter nie zu
kalt.
Andererseits sind mir deine Argumente auch schon
durch den Kopf gegangen. Nein, ich glaube ebenfalls nicht an eine
Entführung. Und was deinen Vater betrifft, nun, da denke ich, was
immer Bernhard dort oben wollte, die Antwort darauf hat er mit ins
Grab genommen.«
»Ich fürchte, da hast du Recht«, musste Jan
eingestehen. Wieder einmal kam er sich vor, als irrte er durch ein
Labyrinth, in dem es nur Sackgassen gab.
Das Telefon klingelte. Marenburg machte eine
Kopfbewegung zum Apparat. »Wird für dich sein.«
Jan stand auf, ging in den Flur und nahm den Hörer
ab. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein vertrautes
Husten, gefolgt von einem »Na endlich«.
Am Telefon klang Hieronymus Liebwerks Stimme wie
eine Kaffeemühle, die sehr lange nicht mehr in Betrieb gewesen war.
»Dachte schon, Sie kommen heute gar nicht mehr heim.«
»Herr Liebwerk?«, fragte Jan. »Das ist eine
Überraschung. Was gibt es denn so Dringendes?«
»Ich muss mit Ihnen reden. Aber nicht am Telefon.
Können wir uns heute noch treffen?«
»In der Klinik?«
»Gott bewahre, nein«, kam es aus dem Hörer, gefolgt
von einem bellenden Husten. »Kennen Sie das ›Spinnrad‹? Ist eine
kleine Kneipe in der Innenstadt.«
Jan verzog das Gesicht zu einer missmutigen
Grimasse. Er war müde und brauchte ein warmes Bad.
»Herr Liebwerk, was soll die Geheimniskrämerei?
Sagen Sie mir einfach, was Sie auf dem Herzen haben.«
Wieder ein Husten, dann: »Es geht um das, worum Sie
mich gebeten haben. Ich glaube, ich habe da etwas entdeckt. Also,
was ist? Kommen Sie?«
Hatte er die Akte von Alexandra Marenburg nun doch
gefunden? Warum tat er dann so geheimnisvoll?
»He, Doktor«, quäkte die Kaffeemühlenstimme aus dem
Hörer. »Sind Sie noch dran?«
»Gut, ich komme.«
Ohne ein weiteres Wort legte Liebwerk auf.
Konsterniert sah Jan den Hörer an. Was sollte das
bedeuten?
»Alles in Ordnung?« Marenburg kam mit besorgter
Miene in den Flur. »Ist was passiert?«
»Ich weiß nicht recht, Rudi. Hast du Lust auf ein
Bier? Ich glaube, das dürfte dich interessieren.«