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Das »Spinnrad« befand sich in einer kleinen
Seitenstraße zum Fahlenberger Marktplatz. Es war die Art von
Eckkneipe, die Jan unter anderen Umständen sicherlich nicht
betreten hätte. Das hätte schon das Schild am Eingang verhindert:
WIR SIND EIN RAUCHERCLUB stand dort zu lesen.
Drinnen war es laut, voll und stickig. Kaum ein
Sitzplatz war noch frei. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft, in
die sich die Gerüche nach schalem Bier, Holzpolitur und Schweiß
mischten. Aus den Lautsprechern über der Theke plärrte
Schlagermusik, Spielautomaten tuteten an den Wänden, und aus einem
Flachbildfernseher dröhnte lautstark die Übertragung eines
Fußballspiels.
Hieronymus Liebwerk erwartete sie an einem
Nischentisch. Als er Jan erkannte, winkte er ihm zu und bedeutete
den beiden Männern, bei ihm Platz zu nehmen.
Der alte Archivar schien sich in dieser Umgebung
wohlzufühlen. Er saß in einem Holzstuhl, vor sich ein Halbliterglas
dunkles Bier und einen bereits gut gefüllten Aschenbecher.
»Meine Stammkneipe«, meinte er zur Begrüßung. »Hier
sind wir unter uns.«
Jan machte Liebwerk und Marenburg miteinander
bekannt.
Liebwerk grinste. »Marenburg«, wiederholte er. »Das
ist also das private Interesse an der Akte.«
»Privates Interesse?« Marenburg sah Jan fragend an,
aber der ging nicht darauf ein.
»Erst einmal sollte uns Herr Liebwerk sagen, was
denn nun so brisant ist, dass man es nicht am Telefon besprechen
kann.«
Noch bevor Liebwerk antworten konnte, erschien ein
bulliger Kerl - ganz offensichtlich der Wirt - an ihrem Tisch und
fragte nach ihren Bestellungen. Marenburg entschied sich für ein
Altbier, und Jan orderte eine Cola, für die er einen mitleidigen
Blick vom Wirt erntete.
Er knallte ihnen ein abgegriffenes Notizbuch auf
den Tisch und stampfte davon.
»Sie müssen sich eintragen«, erklärte Liebwerk und
steckte sich eine neue Zigarette an. »Hier ist Zutritt nur für
Mitglieder.«
Jan schlug das Buch auf und las verwundert, wer
laut dieser Liste Mitglied im »Spinnrad-Raucherclub« war. Dann
schrieb er zwei Namen dazu. Nun zählten nicht nur Oliver Kahn,
Dieter Bohlen, Harald Schmidt und Günther Jauch zu den Stammgästen
dieser Kneipe, sondern auch Ulla Schmidt und Horst Seehofer.
»Muss sein«, sagte der Wirt, als er ihnen ihre
Getränke brachte, und nahm das Buch wieder an sich. »Ich mach die
Gesetze ja nicht.«
Die drei Männer erhoben ihre Gläser und tranken,
dann wandte Jan sich wieder Hieronymus Liebwerk zu, der mit
zitternden Händen das Zellophanpapier von einem neuen
Zigarettenpäckchen entfernte.
»Also, kommen wir zur Sache. Was haben Sie denn so
Wichtiges entdeckt?«
Liebwerk rückte seinen Stuhl näher an den Tisch und
beugte sich zu ihnen vor. »Etwas in meinem Archiv ist nicht ganz
koscher, Doktor. Durch Sie bin ich gewissermaßen darauf aufmerksam
geworden.«
»Durch mich?«
Liebwerk leckte sich die Lippen und ließ den Blick
durch den Raum schweifen, ehe er weitersprach. Bei ihren
bisherigen Begegnungen hatte Jan den Archivar stets selbstsicher
und etwas zynisch erlebt, doch nun schien er unruhig und
nervös.
»Kurz nachdem Sie heute gegangen waren, bekam ich
etwas Neues für die Ablage herein. Ein Polizeiprotokoll, das einer
Akte beigelegt werden sollte. Diese Akte befand sich im Stapel mit
den Neuzugängen, den ich noch einsortieren musste.«
»Und?«
Liebwerk zog an seiner Zigarette, inhalierte tief,
und als er weiterredete, wurde jedes seiner Worte von einer kleinen
Rauchwolke begleitet.
»Ich habe etwas sehr Seltsames entdeckt. Wissen
Sie, wenn Sie erfolgreich ein Archiv betreiben wollen, brauchen Sie
vor allem zwei Dinge: ein gutes Namensgedächtnis und strikte
Arbeitsabläufe. Wenn man kein zuverlässiges Ablagesystem
entwickelt, kommt man schnell ins Schleudern. Deshalb sortiere ich
die eingehenden Akten immer gleich nach Namen vor, ehe ich sie in
die Registerkästen packe. Meist warte ich, bis ein kleiner Stapel
zusammengekommen ist, dadurch spare ich Zeit und Arbeit, weil ich
nicht wegen jeder einzelnen Akte auf der Regalleiter herumturnen
muss. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.«
»Das ist ja alles hochinteressant«, unterbrach ihn
Jan, »aber wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie auf den Punkt kommen
würden.«
»Gemach, gemach«, sagte Liebwerk und drückte seine
Kippe aus. »Das mit dem Stapel müssen Sie wissen, sonst verstehen
Sie nicht, was ich mit seltsam meine. Als ich nun heute
Nachmittag dieses Polizeiprotokoll bekommen habe und es in die Akte
legen wollte, fiel mir
auf, dass der Stapel durcheinander war. Das Alphabet stimmte nicht
mehr. Die Akte, nach der ich suchte, lag ganz zuunterst, dabei
hätte sie eigentlich an eine höhere Stelle gehört. Und ich bin mir
absolut sicher, dass ich sie richtig einsortiert hatte. Also, wer
sollte diesen Stapel durcheinandergebracht haben? Immerhin bekomme
ich dort unten so gut wie nie Besuch. Jeder schickt mir sein Zeug
nur mit der Hauspost, und nach Feierabend ist das Archiv
geschlossen.«
Ein Hustenanfall schüttelte Liebwerk. Er lief
tiefrot an. Jan und Marenburg wechselten schon besorgte Blicke, als
der Archivar schließlich fortfuhr: »Also habe ich mich ein wenig
genauer in meinem Archiv umgesehen. Zunächst fand ich keine
weiteren Spuren eines möglichen Eindringlings. Wie auch, das Archiv
ist groß. Doch dann entdeckte ich doch noch etwas. Die Tür zum
großen Archivkeller war nur einmal abgesperrt. Ich drehe den
Schlüssel aber immer zweimal im Schloss.«
»Und das soll ein Beweis sein?«, fragte Marenburg
mit verwunderter Miene.
»Natürlich«, nickte Liebwerk. »Rein rechtlich
gesehen muss eine Versicherung nur dann für Diebstahlschäden
aufkommen, wenn das Schloss bestmöglich abgeschlossen wird. Wenn
man den Schlüssel also zweimal umdrehen kann, muss man das auch
tun. Abgesehen davon, dass besagtes Schloss noch aus der Steinzeit
stammt. Ein rostiges, altes Mistding. Sparmaßnahmen eben. Aber das
ist noch nicht alles.« Liebwerk sah zu Jan. »Ich hab Ihnen doch die
Kartonstapel gezeigt. Sind zwar alle für den Aktenvernichter
bestimmt, aber dennoch halte ich auch hier akribisch Ordnung. Für
alle Fälle. Und als ich jetzt genauer nachsah, ist mir aufgefallen,
dass einer der Kartons fehlte. Ein Karton, von
dem ich mit Sicherheit weiß, dass er da sein müsste, weil ich ihn
am Vortag noch durchsucht hatte. Schätze, Sie werden sich denken
können, von welchem Karton ich rede?«
»Ich tippe mal auf den mit den M-Namen aus dem Jahr
1985«, sagte Jan. »Der Karton, in dem sich Alexandra Marenburgs
Akte hätte befinden müssen, die aber nicht da war.«
Liebwerk nickte. »Genau der.«
»Moment mal«, meldete sich Marenburg zu Wort. »Ihr
habt nach Alexandras Akte gesucht? Davon hast du mir nichts
erzählt.«
Jan sah Marenburg schuldbewusst an. »Na ja, als ich
gesehen hatte, dass die alten Akten dort noch alle gelagert wurden,
wollte ich einen Blick hineinwerfen. Ich dachte, vielleicht finde
ich darin einen Hinweis, der dich überzeugt hätte, dass Alexandra …
nun ja, dass sie damals eben sehr durcheinander war. Also hat Herr
Liebwerk für mich nach der Akte gesucht. Dabei hat er festgestellt,
dass ausgerechnet Alexandras Akte fehlte.«
Jan wandte sich wieder an Liebwerk: »Und jetzt ist
der ganze Karton verschwunden? Das ist tatsächlich mehr als nur
seltsam. Sind Sie sich denn wirklich sicher?«
»So wahr ich Hieronymus Pankraz Liebwerk
heiße.«
»Wer außer Ihnen hat sonst noch Zugang zum
Archiv?«
Liebwerk leerte sein Glas und steckte sich eine
weitere Zigarette an. »Einige. Der Wachdienst, die
Betriebsfeuerwehr, die Chefsekretärin … ach ja, und dann gibt es
noch einen Ersatzschlüssel in der Poststelle. Aber das muss nichts
heißen, denn es gibt auch noch meinen Zweitschlüssel. Den
habe ich in einem Spalt über dem
Türrahmen versteckt, falls ich mal meinen Schlüssel vergesse. Ist
zwar noch nie vorgekommen, aber sicher ist sicher.«
»Sie meinen also, jemand könnte von Ihrem
Zweitschlüssel gewusst haben und so ins Archiv gelangt sein?«
Liebwerk nickte. »Stimmt genau, Doktor.«
Nachdenklich drehte Jan sein Cola-Glas auf dem
Bierdeckel und verwischte die Kondenswasserperlen mit dem Daumen.
»Irgendwie werde ich aus dem Ganzen nicht schlau. Warum sollte
jemand einen Karton mit alten Akten klauen? Und wenn es dieser
Jemand tatsächlich auf alte Akten abgesehen hatte, warum wühlt er
dann zuerst in den Neuzugängen?«
»Doktor«, entgegnete Liebwerk energisch, »ich hätte
Sie bestimmt nicht angerufen, wenn ich mir nicht hundertprozentig
sicher wäre, dass es so gewesen ist. Ich würde meine Katze drauf
verwetten, dass ich den Neuzugang richtig abgelegt habe. Und meine
Katze bedeutet mir verdammt viel.«
»So war das nicht gemeint«, versicherte ihm Jan.
»Ich glaube Ihnen jedes Wort. Nur verstehe ich den Zusammenhang
nicht.«
»Was wäre, wenn Alexandras Akte schon länger
verschwunden ist?«, sagte Marenburg mit gerunzelter Stirn. »Jemand
hat mitbekommen, dass ihr beiden danach gesucht habt, und hat nun
den ganzen Karton verschwinden lassen, damit ihr nicht belegen
könnt, dass nur diese eine Akte fehlt?«
»Durchaus denkbar«, stimmte Liebwerk zu.
»Aber was hat das mit den aktuellen Akten zu tun?«,
warf Jan ein. »Wenn sich diese Person tatsächlich im Archiv
auskennt, würde sie da nicht suchen. Außer, sie hätte dafür einen
Grund. Herr Liebwerk, wissen Sie zufällig,
wessen Akte bei den Neuzugängen falsch einsortiert war?«
»Natürlich weiß ich das.« Liebwerk warf einen
kurzen Seitenblick zu Marenburg. »Allerdings nehme ich den
Datenschutz ernst, wenn Sie verstehen.«
»Natürlich«, nickte Jan. »Aber da ich selbst
Mitarbeiter der Klinik bin und Herr Marenburg eigentlich gar nicht
hier ist … Nicht wahr, Rudi?«
»Ich vertrag Rauch ohnehin nicht«, bestätigte
Marenburg und fächelte sich mit einem Bierdeckel vor dem
Gesicht.
»Na gut.« Liebwerk stieß den Rauch durch die Nase
aus. »Es war die Akte von Nathalie Köppler. Sie wissen schon, die
Kleine von der Brücke. In dem Protokoll, das ich zum Einsortieren
bekommen habe, stand, es sei Selbstmord gewesen.«
Jan hatte das Gefühl, als habe ihm jemand einen
Kübel mit Eiswürfeln in den Hemdkragen geschüttet. »Nathalie
Köppler war Patientin der Waldklinik?«
»Ja, bis vor kurzem. Ist vor ein paar Wochen
entlassen worden.« Mit einem Ausdruck tiefsten Bedauerns
betrachtete Liebwerk die Zigarette zwischen seinen Fingern.
»Wirklich schade, war noch ein ganz junges Ding. Sie wäre wohl
besser noch eine Weile in der Klinik geblieben.«
Jan sah zu Marenburg. Ihre Blicke trafen sich.
Beide schienen dasselbe zu denken. So wie die Dinge standen, gab es
zwischen Alexandra und dieser Nathalie Köppler mehr Gemeinsamkeiten
als nur die verblüffende physische Ähnlichkeit.
»Was ist, Jan? Glaubst du noch immer an einen
Zufall?«