25
Als Jan fünf Jahre alt war und den Fahlenberger
Kindergarten besuchte, gab es dort einen Jungen, den alle nur
Spinner nannten. Alfred Wagner, wie der Spinner mit
richtigem Namen hieß, war ein stämmiger Junge, der die anderen
Kinder in seiner Gruppe um ein gutes Stück überragte. Sein Gesicht
war von Sommersprossen übersät, die auf der bleichen Haut wie
bösartiger Ausschlag aussahen, und kein Kamm der Welt schien sein
dichtes kupferrotes Haar bändigen zu können.
Am erstaunlichsten aber waren Alfreds Augen. Diese
Augen waren von einem derart blassen Blau, dass man glauben
konnte, zwei Wassertropfen hätten sich in die eng zusammenstehenden
Augenhöhlen verirrt. Es waren unheimliche Augen, und Jan hatte
zuweilen den Eindruck, Alfred könnte mit seinem Blick Löcher in
Papier brennen.
Wenn dieser sengende Blick in Alfreds Gesicht trat,
schien sich der Junge völlig zu verändern; er schien zu jemand
anderem zu werden. Dann gebrauchte er schlimme Schimpfwörter und
redete wirre Dinge, die niemand verstand. Deshalb nannten ihn alle
den Spinner.
Ein weiterer Grund für diesen Namen war die
Tatsache, dass auch Alfreds Vater »nicht ganz recht im
Oberstübchen« war. So zumindest drückten es die Erwachsenen in
Fahlenberg aus. Es war ein offenes Geheimnis, dass Hartmut Wagner -
der vom Alter her Alfreds Großvater hätte sein können - mehrfach in
die Waldklinik gebracht worden war. Unter den Fahlenberger Kindern
gab es einen Spottvers, mit dem sie Alfred neckten:
Die Klapse macht die Tore auf
und Hartmut kommt im Dauerlauf.
Ihm folgt sein Sohn mit Sommersprossen,
dann wird das Tor wieder geschlossen.
und Hartmut kommt im Dauerlauf.
Ihm folgt sein Sohn mit Sommersprossen,
dann wird das Tor wieder geschlossen.
Auch Jan sang den Vers mit - immerhin taten das
doch alle. Jans Vater hingegen versuchte seinem Sohn klarzumachen,
dass Wagner unter Schizophrenie litt und dass dies eine Krankheit
war, die viele Leute hatten. Sie sei aber gar nicht so schlimm,
solange die Leute nur ihre Medikamente nahmen und sich regelmäßig
von einem Psychiater untersuchen ließen.
Hartmut Wagner schien jedoch nicht viel auf
Psychiater und Medikamente zu geben, weshalb er recht häufig
»in die Klapse« musste, wie es dann unter den Kindern hieß.
Einmal wurde er sogar von der Polizei abgeführt,
weil er im Supermarkt einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, als ihm
eine Verkäuferin erklärte, dass die Dosen mit Schinkenwurst
ausgegangen seien und die nächste Lieferung erst in drei Tagen
eintreffen würde.
Ein anderes Mal beschwerten sich Passanten, dass
Wagner heulend über den Marktplatz laufe und jeden Vorbeikommenden
vor den Russen warnte, die in Kürze einmarschieren würden.
Jan hatte irgendwann Mitleid mit Alfred bekommen,
auch wenn der Junge mit den seltsamen Augen ihm nach wie vor etwas
unheimlich war. Natürlich hätte Jan nie gewagt, das vor seinen
Freunden zuzugeben, da er sonst schnell zum Spinnerfreund
erklärt worden wäre, und das wollte Jan auf keinen Fall.
Alfred hatte keine Freunde. Seine Mutter hatte die
Familie verlassen, als der Junge gerade mal drei Jahre alt gewesen
war, und so blieb ihm nur sein geisteskranker Vater. Dennoch
verhielt sich Jan wie alle anderen Kinder auch und mied den
merkwürdigen Jungen. Denn trotz allen Mitleids war Alfred das, was
die Erzieherinnen im Kindergarten als »verhaltensauffällig«
bezeichneten.
Als Jans Freund Marko einmal mit einem Holzlaster
gespielt hatte, war Alfred einfach zu ihm gegangen, hatte seinen
Hosenlatz geöffnet und dem am Boden knienden Marko auf den Kopf
gepinkelt. Marko hatte sich das nicht gefallen lassen, und es war
zu einer heftigen Prügelei gekommen. Bis es den Erzieherinnen
gelungen war, die beiden Streithähne zu trennen, hatte Alfred
Markos Nasenbein gebrochen und ihm zwei Schneidezähne
ausgeschlagen.
Danach wollte keiner mehr neben dem Spinner auch
nur sitzen, geschweige denn mit ihm spielen.
Kurze Zeit später sorgte Alfreds Vater für neues
Gerede im Ort. In Windeseile hatte sich herumgesprochen, dass
Hartmut Wagner in einem weiteren Wahnanfall Unmengen von
Konservendosen gekauft und sich bis zum Hals verschuldet hatte.
Daraufhin war er wieder in die »Klapse« gebracht worden, wo er nach
drei Tagen mit einem abgerissenen Stromkabel im Kleiderschrank des
Krankenzimmers seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Alfred war aus
dem Kindergarten genommen und in ein Heim gebracht worden. Danach
hatte Jan nichts mehr von ihm gehört.
Bis heute.
Jan erkannte Alfred sofort wieder. Auch wenn sie
sich zuletzt als Kinder gesehen hatten, waren das sommersprossige
Gesicht, der struppige rote Haarschopf und die eng stehenden
wasserblauen Augen unverkennbar. Und noch immer hatte er diesen
sengenden Blick.
In diesem Moment stand er im Stationszimmer der
geschlossenen Abteilung von Station 9, wo er Jans Kollegin Andrea
Kunert mit dem linken Arm an sich presste. Mit der rechten Hand
hielt er ihr eine Spritze an die Kehle.
»Er hat nach Ihnen verlangt«, keuchte Konni, der
mit seinen beiden Kollegen dem Pflegepersonal der geschlossenen
Abteilung zur Hilfe geeilt war.
Auf dem Flur drängten sich die Patienten um den
gläsernen Vorbau des Stationszimmers und beobachteten das Geschehen
hinter den Panzerglasscheiben. Zwar versuchten die Pfleger, die
Patienten auf ihre Zimmer zurückzubringen, doch die Neugier trieb
sie schnell wieder
auf den Flur zurück, kaum dass ihnen die Pfleger den Rücken
zugewandt hatten.
»Helfen Sie den anderen, und schicken Sie die Leute
in ihre Zimmer«, wies Jan den Pfleger an. »Und rufen Sie den
Sicherheitsdienst. Er soll vor dem Eingang warten, falls wir ihn
brauchen. Nur für den Notfall, verstanden?«
Konni nickte und holte sein Diensthandy aus der
Kitteltasche. Jan ging auf die verschlossene Glastür zu, hob seinen
Schlüssel, damit Alfred ihn sehen konnte, und sperrte auf.
Bisher hatte Jan mit Andrea Kunert nicht viele
Worte gewechselt. Zwar waren sie sich schon ein paarmal begegnet,
aber mehr als einen kurzen Gruß hatte es zwischen ihnen beiden
nicht gegeben. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie sich »nicht
ganz grün« waren, wie Jans Mutter es immer ausgedrückt hatte. Jan
mochte die überhebliche Art in Andrea Kunerts Blick nicht, und was
immer sie im umgekehrten Fall an ihm nicht leiden konnte, ihre
Ablehnung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch nun
sprach aus ihrem Blick nur noch eines: Todesangst.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie Jan an.
Hinter ihr ragte Alfred wie ein Hüne auf. Die Spitze der
Injektionsnadel hatte bereits die Haut über der Halsschlagader
aufgeritzt. Ein feines Rinnsal Blut lief am Hals der Ärztin hinab
und wurde vom Kragen ihres Kittels aufgesogen.
Die Spritze enthielt eine grellblaue Flüssigkeit.
Jan kannte kein Medikament, das eine solche Farbe gehabt hätte.
Aber er musste nicht lange raten, worum es sich dabei handelte. Der
beißende Geruch des Reinigungsmittels hatte sich längst in dem
kleinen Raum
ausgebreitet. Wenn Alfred seiner Geisel die hypochlorische Säure
in die Halsschlagader spritzte, würde es nur Sekundenbruchteile
dauern, ehe sie das Gehirn erreichte.
»Hallo, Alfred.« Jan bemühte sich um einen ruhigen
Tonfall. Durch seinen jahrelangen Umgang mit geistesgestörten
Straftätern wusste er, dass es jetzt wichtig war, keinerlei
Emotionen zu zeigen. Er durfte Alfred nicht das Gefühl geben,
allein Herr der Lage zu sein. »Man hat mir gesagt, dass du mich
sprechen willst.«
»Allerdings.« Alfred schwitzte mindestens ebenso
sehr wie seine Geisel und sah Jan mit seinen durchdringenden Augen
an. »Ich weiß alles über dich, Jan. So wie ich alles über alle
weiß. Du bist jetzt auch so ein Seelenklempner wie dein Vater einer
war.«
»Ja, das bin ich.«
Jan deutete auf seine Kollegin, die ihn mit
flehendem Blick anstarrte. Ihre Lippen zitterten, aber sie sagte
nichts, wohl wissend, dass Alfred Wagner in seiner momentanen
Verfassung einer tickenden Zeitbombe glich.
»Was bezweckst du damit, Alfred? Wenn du mich
sprechen willst, hätte es doch genügt, das einfach nur zu
sagen.«
»Ach ja?« Mit einem spöttischen Grinsen bleckte
Alfred die Zähne. »Dann frag mal die blöde Kuh hier. Komm schon,
Frau Doktor, sag ihm das Gleiche, was du zu mir gesagt hast.«
Andrea Kunert presste Mund und Augen zusammen.
Tränen rannen ihr über das gerötete Gesicht.
»Du sollst es ihm sagen, verdammt nochmal!«, schrie
ihr Alfred ins Ohr.
»Ich … ich sagte, dass Dr. Forstner nicht für diese
Station zuständig ist.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein
heiseres Flüstern.
Wütend verzog Alfred das Gesicht und sah wieder zu
Jan. »Da hörst du’s. Von wegen einfach nur sagen, Alfred. Scheiße,
mein Lieber.«
»Aber jetzt bin ich doch hier. Also, warum lässt du
sie nicht gehen, und dann reden wir.«
»Weil dann die Pfleger über mich herfallen. Hier
traue ich keinem mehr, auch dir nicht. Alles bleibt jetzt erst mal
so, wie es ist, und du hörst mir zu, kapiert?«
»Na gut. Sag mir, was du von mir willst.« Jan
spielte den Gleichgültigen und zuckte die Schultern.
»Was ich will«, wiederholte Alfred und senkte den
Kopf. Als er gleich darauf wieder zu Jan aufsah, war eine
Veränderung in seinem Gesicht vor sich gegangen. Es war wie damals
im Kindergarten, wenn aus dem Spinner wieder Alfred geworden
war.
»Ich will raus aus der Klinik, Jan. Ich hasse es,
was sie hier aus mir machen. Ständig muss ich diese gottverdammten
Pillen schlucken, und danach fühle ich mich wie ein Zombie. Und
wenn ich mich weigere, jagen sie mir Spritzen hinten rein. Danach
erkenne ich nicht mal mehr mein Spiegelbild.«
»Niemand will dich hier zum Zombie machen«,
versicherte ihm Jan. »Nicht wahr, Frau Dr. Kunert?«
Er musste sie in diese Unterhaltung mit
einbeziehen. Solange Alfred bewusst war, dass sie ein denkendes
Individuum und nicht nur ein verängstigtes Opfer war, gab es eine
Hemmschwelle, die verhinderte, dass er seine Drohung mit der
Injektion wahrmachte.
»Nein«, stieß sie hervor, den Blick starr geradeaus
gerichtet. »Natürlich wollen wir das nicht.«
»Ach nein?« Alfreds Augen verengten sich zu
Schlitzen.
»Glaubt ihr etwa, ich falle auf den Scheiß rein? Hast du überhaupt
eine Ahnung, wie es ist, dieses Zeug zu nehmen, Jan?«
Jan hielt seinem Blick stand. »Ich weiß, dass die
Nebenwirkungen unangenehm sein können, aber diese Medikamente
sollen dir helfen, dich wieder zu stabilisieren, Alfred. Es ist nur
zu deinem Besten. Und wenn du wirklich unter solchen Nebenwirkungen
leidest, müssen wir die Dosierung überprüfen.«
Alfred schien kurz über Jans Vorschlag
nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf.
»Weißt du, was das Schlimmste an dem Zeug ist,
Jan?«
»Sag es mir.«
»Man bekommt keinen mehr hoch.« Verbittert sah
Alfred an sich herab. »Die haben mir da irgendetwas untergejubelt
und geben es nicht zu.«
Er ließ seine Hand auf eine Brust der Ärztin
herabgleiten und drückte sie. Andrea Kunert entwich ein leises
Wimmern.
»Fass meinen Schwanz an«, zischte er ihr zu.
»Alfred, hör auf. Was soll das?«
Doch Alfred ging nicht auf Jan ein. Stattdessen
brüllte er die Ärztin an. »Ich hab gesagt, du sollst meinen Schwanz
anfassen!«
Andrea Kunert schluckte. Das Gesicht zu einer
ängstlichen Grimasse verzerrt, tastete die Ärztin hinter sich und
berührte Alfred Wagner zwischen den Beinen. Jan sah, wie sie am
ganzen Leib zitterte.
»Und?«, fragte Alfred. »Ist er steif?«
Jan tat einen Schritt auf die beiden zu. »Okay,
Alfred, es reicht!«
Im gleichen Augenblick reagierte Alfred. Er presste
seine Geisel fester an sich, machte einen Schritt rückwärts
und hob den Ellenbogen an, als wolle er mit der Spritze
zustechen.
»Bleib, wo du bist«, fauchte er. »Ich schwöre dir,
ich mach sie kalt, wenn du näher kommst.«
Beschwichtigend hob Jan die Handflächen. »Schon
gut, schon gut!«
»Und du sagst uns jetzt endlich, ob mein Schwanz
steif ist«, schrie Alfred die Ärztin an.
Zaghaft bewegte sie den Kopf hin und her.
»Los, sag es!«
»Nein«, schluchzte sie.
»Nein, was?«
»Nein, er ist nicht steif!«
»Aber du magst doch lieber steife Schwänze,
stimmt’s?«
Andrea Kunert biss sich auf die Unterlippe. Tränen
flossen ihr übers Gesicht und Rotz lief ihr aus der Nase.
»Komm schon, sag es uns!«, fuhr Alfred sie
an.
»Ich mag … steife Schwänze«, keuchte sie und begann
hemmungslos zu weinen.
»Na also.« Mit einem zufriedenen Nicken wandte sich
Alfred wieder an Jan und knetete dabei die Brust der Ärztin. »Daran
seid ihr schuld! Früher hätte ich von solchen Titten ein Rohr
bekommen, mit dem hätte man einen gefrorenen Acker pflügen können.
Aber jetzt geht nichts mehr, und das nur wegen eurer
Scheißmedikamente!«
»Okay«, sagte Jan. Noch immer hatte er die
Handflächen erhoben. »Das hast du uns jetzt eindrucksvoll
demonstriert. Aber wenn du …«
»Ich kann ja nicht einmal mehr klar denken!«
»Hör mir zu, Alfred!«, schrie Jan zurück. »Hör mir
genau zu! Willst du mir jetzt bitte zuhören?«
Alfred nickte.
»Gut«, sagte Jan und verfiel wieder in einen
normalem Gesprächston. »Du hast gesagt, dass du aus der Klinik
rauswillst. Das kann ich gut verstehen. Niemand ist gern hier. Aber
wir können dich nur dann gehen lassen, wenn du uns überzeugt hast,
dass du ein vernünftiger Mensch bist. Verstehst du das?«
»Natürlich«, brummte Alfred, und für einen Moment
glaubte Jan, den kleinen Jungen im Gesicht des Mannes
wiederzuerkennen.
»Was deine Medikamente betrifft«, fuhr Jan fort,
»so werden wir die Dosierung umgehend prüfen. Manchmal genügt eine
kleine Veränderung, um die Nebenwirkungen aufzuheben. Das gilt auch
für die Impotenz. Das hat man dir doch sicherlich gesagt, als man
dich über deine Medikamente aufgeklärt hat, oder?«
Hinter Alfred Wagners Stirn arbeitete es heftig,
das war ihm deutlich anzusehen. Er hatte den Blick gesenkt und
rollte dabei mit den Augen hin und her, als könne er seine Gedanken
von den Schultern seiner Geisel ablesen. Noch immer hielt er die
Brust der Ärztin, die ihrerseits noch immer die Hand an Alfred
Wagners Hose hatte und in dieser Haltung erstarrt zu sein
schien.
»Komm schon, Alfred«, sagte Jan mit besänftigender
Stimme. »Lass sie gehen, und wir reden von Mann zu Mann.«
Er machte einen weiteren Schritt auf die beiden zu.
Nun blieben noch etwa drei Meter Anstand zwischen ihnen.
»Reden«, murmelte Alfred wie zu sich selbst. Dann
ruckte sein Kopf hoch, und Jan sah, dass der Blick des Spinners
zurückgekehrt war.
Noch bevor Jan reagieren konnte, stieß Alfred seine
Geisel von sich. Im nächsten Moment hielt er sich selbst die
Spritze an den Hals.
Es ging so schnell, dass Andrea Kunert keine Zeit
blieb, sich aus ihrer Angststarre zu lösen. Sie stolperte, verlor
das Gleichgewicht und landete auf allen vieren.
»Mach, dass du wegkommst!«, kreischte Alfred. »Du
wirst mich sowieso nicht verstehen! Mich hat noch nie jemand
verstanden!«
Die Ärztin sprang auf. Ohne nach rechts und nach
links zu blicken, hastete sie an Jan vorbei zur Tür, prallte gegen
das Panzerglas wie ein verirrter Vogel gegen eine Fensterscheibe,
riss die Tür auf und stürmte aus dem Stationszimmer.
»Scheiß Fotze!«, schrie Alfred ihr nach. »Ich hab
doch niemand was getan! Ich hab die Schlüpfer doch nur geklaut, um
daran zu riechen!«
Nun begriff Jan, wer der Dieb gewesen war, von dem
ihm die Schwester auf Station 12 erzählt hatte. »Du warst das
also.«
Alfred nickte, wobei er sich die Spritze wie einen
Faustkeil an den Hals hielt.
»Ich hab denen nichts tun wollen. Echt nicht. Ich
wollte mir nur vorstellen, wie das ist mit einer echten Frau. Einen
Irren wie mich will doch sowieso keine ficken. Du hast es
bestimmt schon mit vielen gemacht, was, Jan?«
Jan wiegte den Kopf.
»Ey, komm, Jan. Sag schon.«
»Na ja, nicht mit vielen.«
»Aber wenigstens hast du es schon einmal
gemacht?«
»Ja, habe ich.«
Wieder senkte Alfred den Blick. »Du wirst mich
nicht hier rauslassen, stimmt’s?«
»Das kann ich nicht«, entgegnete Jan. »Zumindest
noch nicht. Aber ich werde mein Bestes tun, dir zu helfen.«
»Helfen? Du willst mir helfen? Das sagt ihr
doch immer. Als ob ich Hilfe nötig hätte!«
»Ja, ich denke, das hast du, Alfred.«
»Blödsinn! Ihr haltet mich alle für verrückt, aber
das stimmt nicht. Ihr seid nur zu gewöhnlich, um zu begreifen, dass
ich ein Auserwählter bin. Du hast gar keine Ahnung, was für eine
Gabe ich habe.«
»Dann erklär mir deine Gabe.«
In Alfred Wagners Gesicht trat ein nahezu
ehrfürchtiger Ausdruck. Die Spitze der Nadel schwebte nur wenige
Millimeter neben seinem Hals. Jan musste ihn ablenken und konnte
nur hoffen, dass Alfred irgendwann den Arm mit der Spritze sinken
ließ.
»Weißt du«, sagte Alfred und blickte seltsam
entrückt ins Leere, »keiner hier hat mir jemals richtig zugehört,
wenn ich davon erzählt habe. Von ihnen. Dabei sind sie überall. Sie
reden zu mir und wollen, dass ich euch ihre Botschaften
überbringe.«
»Und wer spricht zu dir?«
»Die Toten, Jan, es sind die Toten. Sie sind unter
uns. Es gibt nämlich gar keinen Himmel, weißt du. Deswegen reden
sie ja auch zu mir. Weil sie einsam sind.«
»Ich verstehe«, sagte Jan und nickte mit
ernsthafter Miene. »Und von wo reden sie mit dir?«
Alfred grinste. »Ja, ja, ich weiß schon, du willst
jetzt von mir hören, dass sie in meinem Kopf sind. Und dann willst
du mir erzählen, dass ich doch verrückt bin, weil ich
Stimmen höre. Hat diese blöde Schlampe auch gesagt. Aber das stimmt
nicht, Jan. Die Toten sind nicht in meinem Kopf.«
»Wo sind sie dann?«
Alfred ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
»Na, überall. Sie reden aus dem Kleiderschrank, aus der
Waschmaschine oder aus dem Wasserhahn. Sie sind sogar im Radio, man
muss nur genau hinhören.« Er stieß ein Kichern aus. »Wenn du
wüsstest, wer schon alles zu mir gesprochen hat. Hitler zum
Beispiel. Dieser kranke alte Sack redet immer aus dem Spülkasten im
Klo. Oder dieser Heilige, Pater Pio. Kennst du den?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Ist ein guter Mann«, sagte Alfred und nickte
anerkennend. »Den treffe ich ab und zu im Beichtstuhl in der
St.-Christopherus-Kirche. Dann riecht es da nach Rosen. Und kannst
du dich noch an den alten Bestler Hans erinnern? Du weißt doch, der
den Edeka-Laden gehabt hat.«
»Ja, den kenn ich noch. Hörst du ihn auch?«
Alfred nickte und schmunzelte. »Seine Seele steckt
jetzt in dem Zigarettenautomaten neben dem Ladeneingang
fest.«
»Wundert mich nicht«, meinte Jan. »Der hat ja auch
gequalmt wie ein Schlot.«
Ein Anflug von Vertrautheit kam zwischen den beiden
auf. Jan konnte erkennen, wie sich Alfreds Gesichtszüge
entspannten. Nicht mehr lange, und er konnte vielleicht versuchen,
ihn zu überreden, die Spritze beiseitezulegen.
»Wusste ich’s doch, dass du mich verstehst«, sagte
Alfred. »Du warst damals schon ganz in Ordnung. Nicht so ein
Arschloch wie die anderen.«
»Freut mich, dass du das so siehst.«
Alfred lächelte, aber in seinen Augen lag noch
immer der Ausdruck des Jungen, wenn er der Spinner war. Er machte
keinerlei Anstalten, die Spritze zu senken. »Ja,
ich kann sie alle hören. Ich hab sogar mal deinen toten Bruder
gehört.«
Es traf Jan so unvorbereitet, dass er den Schreck
nicht verbergen konnte. Er fuhr zusammen, als habe Alfred es sich
plötzlich anders überlegt und ihm die Spritze in den Hals
gerammt.
»Meinen Bruder?«
»Ja, deinen kleinen Bruder. Sven. Ist schon lange
her. Er gehört jetzt zu den Unterirdischen.«
Wieder bekam Jan den Eindruck, Alfreds Blick könne
ihm die Haut versengen.
Vergiss es!, rief ihm seine innere Stimme
zu. Alfred redet im Wahn, und wenn du jetzt nicht augenblicklich
aufhörst, darauf einzugehen, wird das hier noch
eskalieren!
»Schade nur, dass du mir nicht glaubst«, sagte
Alfred. »Das sehe ich in deinem Blick.«
»Doch«, versicherte ihm Jan schnell. »Ich glaube
dir. Was weißt du über Sven? Wieso ist er ein
Unterirdischer?«
Alfred grinste spöttisch. »Denkst du, ich kann eine
Lüge nicht erkennen? Vorhin warst du nett, aber jetzt lügst du mich
an. Jetzt bis du wieder wie die anderen hier.«
»Nein, Alfred. Wirklich, ich glaube dir. Was hast
du damals gehört?«
»Du willst mich doch nur hinhalten, bis Verstärkung
kommt. Wahrscheinlich sind sie schon längst da und kommen jeden
Moment hereingestürmt«, sagte Alfred, und diesmal grinste er, als
sei der letzte Funke Verstand aus ihm gewichen. »Aber weißt du was?
Ihr könnt mich alle mal!«
Damit stach er zu. Noch bevor Jan ihn daran hindern
konnte, trieb sich Alfred Wagner die Injektionsnadel in den Hals
und drückte dabei den Kolben nieder.
Jan schrie auf und sprang nach vorn. Er packte
Alfreds Arm und riss ihn vom Hals weg, dann gingen sie zu Boden.
Die Spritze fiel neben sie. Bis auf einen kleinen Rest Flüssigkeit
war sie leer.
Alfred begann zu zucken. Seine Augen verdrehten
sich nach oben, bis nur noch das Weiß der Augäpfel zu erkennen war.
Jan packte die Spritze und schob sie ihm quer zwischen die Zähne.
Alfred krampfte und zuckte am ganzen Körper. Jan lag auf ihm und
versuchte ihn davon abzuhalten, mit dem Hinterkopf auf den Fußboden
zu schlagen, während Alfreds krampfender Körper ihn immer wieder
hochwarf wie einen Reiter beim Rodeo.
Jan konnte sich kaum auf ihm halten. Blutiger
Schaum quoll aus Alfreds Mund, vorbei an der quer liegenden
Plastikspritze und Jans Fingern, begleitet von einem gutturalen
Schrei unsäglicher Schmerzen.
Pfleger stürmten in den Raum. Sie packten Alfred
Wagners Arme und Beine. Konni rief, das Notarztteam sei bereits
unterwegs. Jan blieb auf Alfreds Brust und versuchte noch immer,
den auf und ab zuckenden Kopf zu halten. Ein weißer Schatten
huschte an ihm vorbei. Jemand schob eine Wolldecke unter Alfreds
Kopf. Jan sah, dass es Andrea Kunert war.
Gleich darauf bäumte sich Alfreds Körper wieder auf
- stärker als zuvor - und verharrte kurz in dieser Position. Jan
begriff, was gleich geschehen würde, und ließ von ihm ab. Alfred
stieß einen gurgelnden Laut aus und sackte wieder zu Boden. Er
erschlaffte.
»Herzstillstand!«
Im Nachhinein hätte Jan nicht sagen können, wer
dieses Wort gerufen hatte. Er glaubte, es sei Andrea Kunert
gewesen, aber er hätte nicht darauf schwören wollen.
Er erinnerte sich noch an die Reanimierungsversuche
und daran, dass ihm Andrea Kunert dabei half. Er erinnerte sich an
den säuerlichen Atem aus ihrem Mund, und ihm war der Gedanke
gekommen, dass sie sich wahrscheinlich übergeben hatte, nachdem sie
aus dem Stationszimmer gerannt war.
Als zwei endlose Minuten später der Notarzt
eingetroffen war, war es Jan und seiner Kollegin gelungen, Alfred
Wagner in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Zumindest galt das
für seinen Körper. Sein Herz hatte wieder zu schlagen begonnen, und
auch die Atmung hatte wieder eingesetzt.
Nachdem man Alfred abtransportiert hatte, ließ sich
Jan in einen der Drehstühle des Stationszimmers sinken. Sein Herz
raste, und der durchgeschwitzte Pullover klebte ihm am Leib. Konni
und Ralf erkundigten sich, ob sie etwas für ihn tun könnten. Als
Jan ohne ein Wort abwinkte, gingen sie hinaus und ließen ihn mit
Andrea Kunert allein.
Schweigend saßen sie sich gegenüber. Dann erhob
sich die Ärztin und zog sich mit einer unsicheren Geste den Kittel
zurecht.
»Danke«, sagte sie. »Das war sehr mutig von
Ihnen.«
Jan nickte erschöpft, und Andrea Kunert verließ den
Raum ohne ein weiteres Wort.