27
Diesmal hatte er ihr ein Kleid mitgebracht. Dunja nahm es aus der Schachtel und betrachtete es prüfend. Es war ein nachtblaues Abendkleid aus sommerlichem Stoff, der ein wenig wie Samt schimmerte.
Stangenware, dachte sie, bestimmt nicht teuer, aber trotzdem elegant.
Ein Kleid wie dieses hätte man zu einem romantischen Abendessen ebenso gut wie auf einem Familienfest tragen können. Das Dekolleté war dezent gehalten, der Rücken nicht zu tief ausgeschnitten. Dennoch würde Dunja in so einem Kleid verführerisch wirken, da es in seiner Schlichtheit nicht von der Schönheit der Trägerin ablenkte.
Dunja mochte das Kleid. Vor allem die Farbe gefiel ihr. Ein wundervolles kräftiges Blau. Es machte ihr nichts aus, dass das Kleid schon älter zu sein schien und womöglich aus einem Secondhandladen stammte.
Es war das erste Mal, dass er ihr ein Geschenk dieser Art machte. Sonst war es nur das Beutelchen Koks, das er stillschweigend neben sein Geld auf den Nachttisch legte. Ein Kleid, das er für sie ausgesucht hatte, war sehr viel persönlicher.
»Das ist sehr hübsch. Für mich?«
»Nein«, sagte er, den Blick aus dem Fenster gerichtet. »Ich will, dass du es für mich anziehst.«
»Na gut.« Dunja versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Willst du mir dabei zusehen?«
»Zieh es einfach an.«
Er sah sie nicht an. Stattdessen hielt er weiterhin den roten Samtvorhang zur Seite und starrte aus dem Fenster, als gäbe es dort unten etwas Wichtigeres zu sehen. Dabei war dort nur der Friedhof.
Dunja mochte diesen Ausblick nicht, er machte ihr irgendwie Angst, aber sie hatte auf die Zuweisung der Zimmer leider keinen Einfluss gehabt.
»Soll ich dazu wieder einen Text sprechen?«
Ohne sich umzusehen schüttelte er den Kopf. »Zieh es einfach nur an. Bitte.«
Wieder spürte Dunja die traurige Kälte, die von ihm ausging. Sie war sich sicher, dass ihm irgendwann einmal etwas genommen worden war, das eine große dunkle Leere hinterlassen hatte. Seither mussten sich alle Gefühle, die man ihm entgegenbrachte, in diesem schwarzen Nichts verirren - sie wurden davon aufgesogen und verschwanden, ohne dass er sich dessen bewusst war. Auch jetzt schien er sie gar nicht wahrzunehmen, sondern irgendwo in einer anderen Welt zu sein.
Der große Unbekannte war so ganz anders als die anderen Männer, die zu ihr kamen. Ihm ging es nicht um eine schnelle Nummer oder darum, dass sie etwas mit ihm tat, wozu seine Frau nicht bereit war. Dunja vermutete, dass er überhaupt keine Frau oder Freundin hatte.
Das, was er suchte, musste sich irgendwo tief in seiner Erinnerung befinden, und es war an ihr, es für ihn wieder lebendig zu machen. Und sei es nur für die Dauer einer Stunde.
Als er das Kleid später in die Schachtel zurücklegte und dabei so behutsam vorging, als sei es aus hauchdünnem Glas, war es an der Vorderseite völlig durchnässt. Fast eine halbe Stunde hatte er vor ihr gekniet, die Arme eng um sie geschlungen, und in den blauen Stoff geweint.
Dunja hatte seinen Kopf gestreichelt und ihn mit leisem Zureden zu trösten versucht, während ihr seine schluchzenden Bitten um Vergebung das Herz schwergemacht hatten.
Als er dann gegangen war, ohne sich zu verabschieden, legte sie sich aufs Bett und betrachtete sich in dem großen Spiegel an der Decke. Sie griff in ihr Haar und drapierte es über den Satinbezug, so wie er es sonst immer tat.
»Wer bist du, Carmen?«, flüsterte sie ihrem nackten Spiegelbild zu. »Und was sollst du ihm verzeihen?«
Kalte Stille - Kalte Stille
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