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Diesmal hatte er ihr ein Kleid mitgebracht. Dunja
nahm es aus der Schachtel und betrachtete es prüfend. Es war ein
nachtblaues Abendkleid aus sommerlichem Stoff, der ein wenig wie
Samt schimmerte.
Stangenware, dachte sie, bestimmt nicht
teuer, aber trotzdem elegant.
Ein Kleid wie dieses hätte man zu einem
romantischen Abendessen ebenso gut wie auf einem Familienfest
tragen können. Das Dekolleté war dezent gehalten, der Rücken nicht
zu tief ausgeschnitten. Dennoch würde Dunja in so einem Kleid
verführerisch wirken, da es in seiner Schlichtheit nicht von der
Schönheit der Trägerin ablenkte.
Dunja mochte das Kleid. Vor allem die Farbe gefiel
ihr. Ein wundervolles kräftiges Blau. Es machte ihr nichts aus,
dass das Kleid schon älter zu sein schien und womöglich aus einem
Secondhandladen stammte.
Es war das erste Mal, dass er ihr ein Geschenk
dieser Art machte. Sonst war es nur das Beutelchen Koks, das er
stillschweigend neben sein Geld auf den Nachttisch
legte. Ein Kleid, das er für sie ausgesucht hatte, war sehr viel
persönlicher.
»Das ist sehr hübsch. Für mich?«
»Nein«, sagte er, den Blick aus dem Fenster
gerichtet. »Ich will, dass du es für mich anziehst.«
»Na gut.« Dunja versuchte sich ihre Enttäuschung
nicht anmerken zu lassen. »Willst du mir dabei zusehen?«
»Zieh es einfach an.«
Er sah sie nicht an. Stattdessen hielt er weiterhin
den roten Samtvorhang zur Seite und starrte aus dem Fenster, als
gäbe es dort unten etwas Wichtigeres zu sehen. Dabei war dort nur
der Friedhof.
Dunja mochte diesen Ausblick nicht, er machte ihr
irgendwie Angst, aber sie hatte auf die Zuweisung der Zimmer leider
keinen Einfluss gehabt.
»Soll ich dazu wieder einen Text sprechen?«
Ohne sich umzusehen schüttelte er den Kopf. »Zieh
es einfach nur an. Bitte.«
Wieder spürte Dunja die traurige Kälte, die von ihm
ausging. Sie war sich sicher, dass ihm irgendwann einmal etwas
genommen worden war, das eine große dunkle Leere hinterlassen
hatte. Seither mussten sich alle Gefühle, die man ihm
entgegenbrachte, in diesem schwarzen Nichts verirren - sie wurden
davon aufgesogen und verschwanden, ohne dass er sich dessen bewusst
war. Auch jetzt schien er sie gar nicht wahrzunehmen, sondern
irgendwo in einer anderen Welt zu sein.
Der große Unbekannte war so ganz anders als die
anderen Männer, die zu ihr kamen. Ihm ging es nicht um eine
schnelle Nummer oder darum, dass sie etwas mit ihm tat, wozu seine
Frau nicht bereit war. Dunja vermutete, dass er überhaupt keine
Frau oder Freundin hatte.
Das, was er suchte, musste sich irgendwo tief in
seiner Erinnerung befinden, und es war an ihr, es für ihn wieder
lebendig zu machen. Und sei es nur für die Dauer einer
Stunde.
Als er das Kleid später in die Schachtel
zurücklegte und dabei so behutsam vorging, als sei es aus
hauchdünnem Glas, war es an der Vorderseite völlig durchnässt. Fast
eine halbe Stunde hatte er vor ihr gekniet, die Arme eng um sie
geschlungen, und in den blauen Stoff geweint.
Dunja hatte seinen Kopf gestreichelt und ihn mit
leisem Zureden zu trösten versucht, während ihr seine schluchzenden
Bitten um Vergebung das Herz schwergemacht hatten.
Als er dann gegangen war, ohne sich zu
verabschieden, legte sie sich aufs Bett und betrachtete sich in dem
großen Spiegel an der Decke. Sie griff in ihr Haar und drapierte es
über den Satinbezug, so wie er es sonst immer tat.
»Wer bist du, Carmen?«, flüsterte sie ihrem
nackten Spiegelbild zu. »Und was sollst du ihm verzeihen?«