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Der Stimme am Telefon nach zu urteilen, musste Dr.
Wolfgang Hesse bereits in fortgeschrittenem Alter sein. Nachdem
sich die Sprechstundenhilfe durch einen Rückruf davon überzeugt
hatte, dass Jan tatsächlich ärztlicher Mitarbeiter der Waldklinik
war, stellte sie ihn zu Dr. Hesse durch, und der Allgemeinarzt
meldete sich mit rauem Bariton.
»Tut mir leid, aber ich habe nicht viel Zeit«,
begann er, als Jan den Grund seines Anrufs genannt hatte. »Mein
Wartezimmer quillt über. Ist jedes Jahr dasselbe, die Grippewelle
ist da, und natürlich hat sich keiner impfen lassen. Wie auch
immer, was möchten Sie über Frau Köppler wissen?«
»Ich habe erfahren, dass Frau Köppler kurz vor
ihrem Tod bei Ihnen in Behandlung war«, sagte Jan. »Mich würde
interessieren, mit welchen Beschwerden.«
»Wieso ist das für Sie noch wichtig? Ich meine, die
Frau ist tot. Schlimme Geschichte übrigens, hat mich wirklich
schockiert.«
»Ich sitze gerade über dem Zusatzformular für den
Abschlussbericht, dafür müsste ich das wissen«, erklärte Jan und
fragte sich, ob diese Lüge überzeugend genug klang.
»Ein Zusatz zum Abschlussbericht? Bei einem
Todesfall? Das ist ja was ganz Neues.«
»Tja, die Bürokratie.« Jan seufzte
theatralisch.
»Wem sagen Sie das«, sagte Dr. Hesse und seufzte
ebenfalls. »Wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Das unsinnige Abholzen
der Wälder könnte man leicht verhindern, indem man einfach die
Hälfte unserer Formulare abschafft. Aber zu Ihrer Frage: Ja, Frau
Köppler war vor
kurzem in meiner Sprechstunde. Zweimal. Wegen
Magenbeschwerden.«
»Magenbeschwerden?«
»Ja. Sie klagte über Übelkeit und Magendruck.
Daraufhin habe ich ihr homöopathische Tropfen und Kamillentee
empfohlen. Man muss ja nicht immer gleich in den Chemiekasten
greifen«, sagte der Arzt, und vor Jans geistigem Auge erschien nun
das Bild eines grauhaarigen Wollpulliträgers mit Pferdeschwanz.
»Sie sollte sich wieder bei mir melden, falls es nicht besser
würde. Das hat sie dann auch getan. Daraufhin habe ich sie
eingehend untersucht. Da sie nun auch über erhöhten Harndrang,
Kreislaufprobleme und ein Spannungsgefühl in den Brüsten geklagt
hat, hatte ich einen gewissen Verdacht.«
»Was für einen Verdacht?«
»Moment«, sagte Dr. Hesse, und im Hintergrund war
die Stimme einer Frau zu hören, wahrscheinlich eine Arzthelferin.
Hesse sprach kurz mit ihr, dann meldete er sich wieder zurück.
»Hören Sie, Herr Kollege, ich muss jetzt aufhören. Deshalb in aller
Kürze: Nathalie Köppler befand sich in der fünften Woche.«
»Sie war schwanger?« Jan glaubte sich verhört zu
haben. »Aber das kann doch gar nicht sein.«
»Tja, das behauptete sie auch«, entgegnete Hesse,
»aber das Testergebnis war ohne Zweifel positiv. Und nun
entschuldigen Sie …«
»Eine Frage noch!«
»Na gut, aber machen Sie’s kurz.«
»Wie hat Frau Köppler darauf reagiert?«
»Das kann ich nicht genau sagen.«
»Und warum nicht?«
Hesse räusperte sich. »Sehen Sie, als Frau Köppler
zur
zweiten Untersuchung bei mir war, habe ich eine Reihe von Tests
gemacht. Stuhl, Blut, Urin, das Übliche eben. Ich wollte
sichergehen, dass ihre Beschwerden nicht vielleicht doch durch
einen Virus oder etwas Ähnliches verursacht wurden. Das Ergebnis
habe ich ihr telefonisch mitgeteilt. Sie rief mich an. Und
als ich ihr sagte, sie sei schwanger und dass es daran keinen
Zweifel gäbe, hat sie einfach aufgelegt. Habe ich damit Ihre Fragen
beantwortet? Meine Patienten warten.«
Jan bedankte sich für die Auskunft, doch Dr. Hesse
hatte bereits aufgelegt.
Mit gerunzelter Stirn lehnte Jan sich in seinem
Bürostuhl zurück und betrachtete das Telefon. Womöglich hatte er
den Grund für Nathalie Köpplers Panik gefunden. Sie hatte sich das
Leben genommen, weil sie schwanger war.
Damit stellte sich aber eine neue Frage. Wenn Ralf
nicht gelogen hatte und es keinen Sex zwischen ihm und Nathalie
gegeben hatte, wer war dann der Vater?