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Lange Jahre hatte sich die Waldklinik durch den
eigenen Anbau von Salat und Gemüse nahezu selbst versorgt, doch im
Zuge allgegenwärtiger Sparmaßnahmen hatte ein Großteil der
Gärtnerei aufgegeben werden müssen. Nun standen sechs der neun
Gewächshäuser leer und blieben dem Verfall überlassen. Die übrigen
drei dienten während des Frühjahrs und der Sommermonate
arbeitstherapeutischen Zwecken. Und jetzt im November war
dies der beste Ort für ein diskretes Treffen während der
Therapiepause.
Als Jan am vereinbarten Treffpunkt ankam, saß Carla
auf einem Klappstuhl, nagte lustlos an einem Müsliriegel und
betrachtete geistesabwesend die leeren Beete. Ralf hockte neben ihr
auf einem der Tische, an dem in Kürze wieder Patienten mit dem
Binden von Weihnachtsgestecken beginnen würden. Sobald die beiden
Jan sahen, standen sie auf.
»Und? Hast du diesen Hesse erreicht?«, fragte Carla
und warf den Rest ihres Riegels in eine rostige Mülltonne.
»Ja, habe ich.«
Jan bedachte Ralf mit einem prüfenden Blick. Er sah
etwas erholter aus, auch wenn ihm die Trauer noch immer ins Gesicht
geschrieben stand.
»Nun sag schon«, drängte Carla, »was hat er
gesagt?«
»Sie war krank, nicht wahr?«, sagte Ralf mit
steinernem Gesicht. »Krebs oder so etwas. Deshalb hat sie es
getan.«
Jan schüttelte den Kopf. »Nein, Ralf, Nathalie war
nicht krank.« Er wechselte einen schnellen Blick mit Carla, die ihn
fragend ansah. »Es tut mir leid, Ralf, aber die Wahrheit ist sehr
schmerzlich.«
»Nun sag schon, schlimmer kann’s für mich nicht
mehr werden.«
»Ich fürchte schon.« Jan seufzte. »Sie war
schwanger.«
Ralf sah ihn fassungslos an. »Schwanger?«
»Ja.«
»Das ist nicht dein Ernst?«
»Leider doch.«
Ralf wurde so weiß wie der Plastiksack mit
Blumenerde, der neben ihm am Boden lag.
»Aber …« Carla schaute ratlos zwischen den beiden
hin und her. »Du hast doch gesagt, ihr habt nicht miteinander
…«
»Haben wir auch nicht!«, schrie Ralf. Mit geballten
Fäusten starrte er Jan an. »Sie kann nicht schwanger gewesen
sein. Das ist absoluter Schwachsinn!«
»Durchaus nicht«, sagte Jan ruhig. »Sämtliche Tests
sind positiv ausgefallen.«
Mit einem Aufschrei trat Ralf gegen den
Plastiksack. Die Hülle platzte, und dunkle Erde verteilte sich über
den Steinboden.
»Ruhig, ganz ruhig.« Jan packte Ralf am Arm und
drehte ihn zu sich herum, so dass sie sich in die Augen sehen
konnten. »Du musst dich zusammenreißen, hörst du?«
»Ich glaub das einfach nicht«, schluchzte Ralf und
befreite sich aus Jans Griff. »Es kann nicht sein, versteht ihr?
Nathalie und ich haben nie miteinander geschlafen. Sie war einfach
noch nicht so weit …«
Carla sah Jan an, als erhoffte sie sich von ihm
eine Auflösung des Rätsels.
Eine Weile herrschte beklemmendes Schweigen in dem
Gewächshaus. Nur der eisige Wind war zu hören, der durch die
zersprungenen Scheiben in der Decke pfiff. Als Jan die Stille nicht
mehr ertragen konnte, sprach er aus, was sie alle zu denken
schienen.
»Ralf, wenn das Kind nicht von dir war, von wem
könnte es dann gewesen sein?«
Ralf wandte sich ab, ging auf den Tisch zu und hieb
mit der Faust darauf. In dem hohen Glasraum klang es wie ein
Pistolenschuss.
»Woher soll ich das wissen? Ich kann’s ja noch
nicht mal glauben.«
»Schwanger«, stieß Carla vor und schloss die Augen.
»Wieso hat sie mir nichts davon erzählt?«
»Weil sie es bis zuletzt für Magenbeschwerden
gehalten hat«, sagte Jan. »Und als sie dann die Wahrheit erfahren
hat, muss sie einen heftigen Schock erlitten haben.«
Jan trat neben Ralf, der zornig auf die gesprungene
Glasscheibe vor sich stierte, als sei sie an seinem Unglück
schuld.
»Ich kann verstehen, dass das schmerzt,
Ralf.«
»Klar. Ganz bestimmt kannst du das.«
Jan überging diese Bemerkung. »Gab es außer dir
noch jemanden, dem Nathalie vertraut hat? Jemand, der dieses
Vertrauen möglicherweise ausgenutzt hat?«
Ralf schüttelte den Kopf und stieß den Atem aus.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Nein«, bestätigte auch Carla. »Hey, ich war ihre
beste Freundin. Wenn Nathalie etwas mit einem anderen Mann gehabt
hätte, wäre sie bestimmt zu mir gekommen. Immerhin reden wir hier
nicht von irgendeinem weiteren Bekannten. Überlegt doch mal, was
das für sie bedeutet hätte.«
Ratlos zuckte Jan die Schultern. »Ich glaube nun
einmal nicht an eine jungfräuliche Empfängnis …«
»Vielleicht hat sich dieser Hesse mit seinem Test
getäuscht«, sagte Ralf und wandte sich ihnen wieder zu. In seinem
Blick funkelte die verzweifelte Hoffnung, es möge so sein.
»Nein, Ralf«, sagte Jan. »Kein Arzt würde seiner
Patientin sagen, sie sei schwanger, wenn er sich nicht absolut
sicher wäre. Nathalie war in der fünften Woche, und zu diesem
Zeitpunkt sind solche Tests zu neunundneunzig Prozent zuverlässig.
Außerdem wurde nicht nur
ihr Urin getestet. Hätte es bei den Ergebnissen Diskrepanzen
gegeben, hätte der Kollege sicherlich einen zweiten Test
vorgeschlagen.«
Nachdenklich sah Carla ihn an. »Sie war in der
fünften Woche, sagst du?«
»Ja, warum?«
»Vor fünf Wochen war Nathalie noch hier in der
Klinik.«
Ralf sah sie vorwurfsvoll an. »Du meinst, sie hat
hier etwas mit einem Patienten gehabt?«
»Denkbar wäre es, oder?«
»Sie war auf einer reinen Frauenstation.« In Ralfs
Stimme schwang Wut mit.
Carla zuckte die Schultern. »Vielleicht war es
jemand vom Personal, ein Pfleger oder ein Arzt?«
»Scheiße«, zischte Ralf. »Wenn ich mir vorstelle,
dass sie mit einem von diesen Weißkitteln …« Er spuckte wütend auf
den Boden.
»Nein«, sagte Jan und schüttelte den Kopf. »Das
kann ich mir nicht denken. Überlegt doch mal! Das wäre ein Vergehen
an Schutzbefohlenen. Wenn man dich dabei erwischt, Ralf, bekommst
du beruflich nie wieder einen Fuß auf den Boden, ganz zu schweigen
von den ganzen juristischen Schwierigkeiten, die du dir damit
aufhalsen würdest.«
»Ach komm«, Ralf machte eine abfällige
Handbewegung, »ich kenne genügend Kollegen, die nur mit dem Schwanz
denken.«
»Und? Haben sie deswegen schon was mit ihren
Patientinnen gehabt?«
Ralf sah zu Boden. »Nein, das nicht.«
»Na also.«
Ralf schob die Hände in die Hosentaschen und trat
nach der am Boden verstreuten Blumenerde. »Trotzdem muss es hier
in der Klinik passiert sein.«
»Und wenn sie vergewaltigt wurde?«, gab Carla zu
bedenken. »Vielleicht von einem dieser Psychos hier.«
»Höchst unwahrscheinlich«, winkte Jan ab. »Es ging
ihr nach ihrem Aufenthalt deutlich besser. Stellt euch nur mal vor,
wie sich eine Vergewaltigung auf jemanden mit ihrem Trauma
ausgewirkt hätte. Sie wäre niemals in der Lage gewesen, das zu
verschweigen, und schon gar nicht, so etwas zu verdrängen.«
»Aber sie war schwanger«, flüsterte Ralf,
und sein Gesicht glänzte vor Tränen.
»Also, wenn ihr meine fachliche Meinung hören
wollt«, sagte Jan, »nun, also, Nathalie litt unter der
traumatischen Vorstellung, Sex und Gewalt seien unabdingbar
miteinander verflochten. Durch ihre Therapie konnte sie dieses
Trauma überwinden. Es ging ihr gut. Wahrscheinlich hatte sie in der
Folge mit irgendjemandem einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, wie
man es juristisch nennen würde.«
»Aber man bringt sich doch nicht gleich um, nur
weil man schwanger ist«, fuhr Ralf ihn an. »Und wie erklärst du dir
die Sache mit dem Dämon, hm? Der Dämon ist real - das waren
ihre Worte!«
»Der Dämon«, sagte Jan und machte eine
beschwichtigende Geste, »der Dämon war ein Symbol. Ein Symbol für
ihre Ängste, aber auch für ihre Schuldgefühle. Er kam immer dann zu
ihr, wenn sie sich nach etwas sehnte, vor dem sie sich andererseits
fürchtete. Ich bin mir sicher, dass sie mit dem Dämon ihre
Schuldgefühle gemeint hat. Dir und vor allem sich selbst gegenüber.
Die Nachricht von der Schwangerschaft muss ein Schock für sie
gewesen sein. Sie hatte etwas getan, das bis vor kurzem noch
das Schlimmste überhaupt für sie gewesen war, und nun würde das
auch noch Folgen haben. Das hat sie nicht verkraftet. Und der
Umstand, dass sie nicht mit dir, sondern nur mit Carla darüber
reden wollte, scheint mir Recht zu geben. Sie hatte ein schlechtes
Gewissen, Ralf.«
Carla war anzusehen, wie es hinter ihrer Stirn
arbeitete. Die unabwendbare Tatsache, dass es nur so und nicht
anders gewesen sein konnte, machte ihr sichtlich zu schaffen. Aber
es schien die einzig logische Erklärung zu sein.
Ralf hatte eine Hand vors Gesicht geschlagen und
rang mühsam um Fassung. Jan trat zu ihm.
»Ich glaube nicht, dass Nathalie dich betrügen
wollte«, sagte er leise. »Wahrscheinlich war es nur eine einmalige
Sache.«
»Nathalie hätte niemals einfach so herumgevögelt!«,
schrie Ralf ihn an.
»Natürlich nicht«, entgegnete Jan ruhig. »Dennoch
bleibt es dabei: Nathalie hatte Sex mit einem Mann. Sie ist davon
schwanger geworden. Das sind die Fakten.«
»Verdammt, Jan, sie hat sich umgebracht!« Wieder
trat Ralf mit Wucht in den Erdhaufen.
»Aber du kannst es nicht mehr rückgängig machen,
Ralf. Nathalie hat die Folgen ihres Handelns nicht
verkraftet.«
Carla rieb sich nachdenklich die Stirn. »Es wäre
aber auch etwas anderes denkbar.«
Jan und Ralf sahen sie fragend an.
»Angenommen, Nathalie hatte Sex mit einem der
Patienten«, sagte Carla. »Für sie war es nur eine einmalige
Geschichte. Aber für diesen Typen war es mehr. Er stellt ihr nach
und belästigt sie. Vielleicht gerade zu dem Zeitpunkt, als sie von
Hesse erfährt, dass sie schwanger ist.
Dann wäre der Dämon tatsächlich eine reale Person.« Sie sah die
beiden mit großen Augen an. »Vielleicht hat er sie zu Hause oder am
Telefon belästigt, und deshalb hat sie nicht aufgemacht.«
»Jemand, der ihr Angst gemacht und sie in den Tod
getrieben hat«, setzte Ralf Carlas Gedankengang fort.
Jan schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ihr
versteigt euch da in etwas.«
Ralf rümpfte verächtlich die Nase. »Du willst uns
also nicht helfen, diesen Typen ausfindig zu machen?«
»Offen gesagt bin ich nicht davon überzeugt, dass
Nathalie von diesem Typen verfolgt wurde, nur weil sie mit ihm
geschlafen hat.«
»Aber die Möglichkeit besteht«, beharrte Carla.
»Und wenn es so gewesen ist, dann ist Nathalie nicht allein für
ihren Tod verantwortlich.«
»Und wenn du dich irrst?«, konterte Jan. »Ihr sucht
jemanden, dem ihr die Schuld an Nathalies Tod geben könnt. Das ist
verständlich, macht Nathalie aber nicht wieder lebendig. Ich denke,
es ist besser, ihr lasst es dabei bewenden. Eure Trauer in allen
Ehren, aber ihr solltet euch mit den Tatsachen abfinden.«
Carla sah ihn spöttisch an. »Ach ja? Und das
erzählst uns ausgerechnet du?«
Jans Miene verfinsterte sich. »Ich glaube, ich gehe
jetzt besser«, sagte er leise. »Ich habe noch Termine.«
Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er das
Gewächshaus.