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»Es war vielleicht doch keine gute Idee,
herzukommen«, sagte Ralf und schloss eine kleine Box mit Fotos, die
er in Nathalies Schreibtisch gefunden hatte. »Ich komme mir
irgendwie schäbig vor, hier herumzuschnüffeln. Und das am Tag ihrer
Beerdigung.«
Carla, die neben ihm am Boden kniete und die
Schubladen des Wohnzimmerschranks durchsah, schaute zu ihm auf. »Du
wolltest doch, schon vergessen?«
»Du doch auch«, sagte Ralf und klopfte nervös mit
den Fingerspitzen auf die Plastiklehne des Bürostuhls.
»Klar, sonst wäre ich jetzt nicht hier.« Carla
schob die Schublade zu und stand auf. Ihre Knie gaben ein leises
Knacken von sich. »Denk einfach daran, dass wir es für sie
tun.«
Ralf stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte
den Kopf. »Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich wirklich
die Wahrheit herausfinden will.«
»Dass sie etwas mit einem anderen gehabt
hat?«
Ralf senkte den Kopf. »Das hätte sie mir doch
niemals angetan.« Seine großen blauen Augen schimmerten
feucht.
»Sieh es doch ein. So etwas geschieht nun mal, und
wenn du sie wirklich geliebt hast, dann solltest du das
respektieren.«
Er nickte nur stumm.
»Na also«, sagte Carla. »Komm, lass uns
weitermachen.«
Sie betrat das Schlafzimmer und sah sich um. Wo
sollte sie hier noch suchen? Sie hatte bereits alles durchgesehen,
aber nirgends einen Hinweis auf einen Verehrer gefunden. Falls
Nathalie wirklich etwas vor Ralf verborgen haben sollte, hatte sie
es sehr geschickt versteckt.
Ralf folgte ihr ins Schlafzimmer. Er holte tief
Luft. »Was ist, wenn sie doch vergewaltigt worden ist?«
»Nein, Ralf.« Carla sagte es sanft, aber bestimmt.
»Jan hat das ausgeschlossen, und ich glaube das auch nicht. Sie
hätte sich sonst ganz anders verhalten. Erinnerst du dich an den
Tag ihrer Entlassung aus der Klinik, als wir Pizza essen waren? Wie
ausgelassen Nathalie an dem Abend war?«
Ralf nickte und ließ den Kopf hängen.
»Siehst du. So glücklich und unbeschwert hatte ich
sie bis dahin noch nie erlebt. Sie hat gesagt, es sei ihr, als wäre
alles nur ein böser Traum gewesen, erinnerst du dich?«
»Ja, ich erinnere mich.« Ralf flüsterte nur.
Für ein paar Sekunden blieb diese Erinnerung wie
ein freundlicher Geist zwischen ihnen im Raum stehen. Sie dachten
beide an Nathalie, die am Ecktisch neben dem Aquarium in Sergios
Pizzeria gesessen und ihnen mit einer Proseccoflöte zugeprostet
hatte.
Auf die schönen Träume, hatte sie gesagt und
gekichert, wie sie es immer getan hatte, wenn sie beschwipst
gewesen war.
Und auf die bösen Träume, dachte Carla,
die du jetzt nicht mehr träumen musst.
»Könnte es nicht sein …«, begann Ralf von neuem. Er
zögerte. »Ja, könnte es nicht sein … dass sie gar nichts davon
mitbekommen hat?«
»Nichts mitbekommen?« Carla sah ihn verwundert
an.
»Ja. Dass es passiert ist, ohne dass sie etwas
davon wusste.«
»Wie meinst du das?«
»Weiß nicht. Vielleicht die Medikamente?«
»Ich wüsste nicht, dass man sie mit Medikamenten
ruhiggestellt hat. Hat sie zu dir etwas gesagt?«
Wieder ließ Ralf den Kopf sinken. »Nein, hat sie
nicht. Kann ja eigentlich auch nicht sein. Ich hab ihre
Medikamentenliste durchgesehen. Offiziell hat sie nichts bekommen,
was sie dermaßen hätte ausknocken können. Und wenn sie tatsächlich
zu viel davon genommen hätte, dann wäre es wohl aufgefallen. Die
Nachwirkungen wären wie ein schlimmer Kater gewesen …«
Er setzte sich neben Carla aufs Bett und rieb sich
die Schläfen.
»Akzeptier es einfach«, sagte Carla und legte ihm
tröstend einen Arm um die Schultern. »Ich weiß, dass die Wahrheit
wehtut, aber es ist nun eben einmal so.«
»Ja, sie tut weh.« Ralf seufzte ganz erbärmlich.
Dann versetzte er dem Bettvorleger einen Stoß mit den Hacken, so
dass er wie eine pelzige Flunder über den Laminatboden rutschte.
»Sie tut sogar verdammt weh!«
Überrascht sah Carla auf die schwarze
Pappschachtel, die mit dem Vorleger unter dem Bett hervorgerutscht
war.
»He, was ist das?«
»Was?«
»Na, das da!« Carla stand auf und kniete sich vor
den Karton, auf dem das goldfarbene Logo einer italienischen Firma
prangte.
»Ein Schuhkarton. Na und?«
»So kann wirklich nur ein Mann fragen.« Carla
verdrehte die Augen. »Was siehst du als Erstes, wenn du in diese
Wohnung kommst?«
»Wie? Na, den Garderobenspiegel.«
Seufzend schüttelte Carla den Kopf. »Und was steht
darunter, groß und unübersehbar?«
»Das Schuhkästchen.«
»Eben drum. Frauen bewahren ihre Schuhe nicht in
Kartons auf. Sie wollen sie im Regal sehen können. Erst recht bei
so einer teuren Marke. Deshalb hat deine Freundin auch nicht
Schuh-, sondern Schatzkästchen dazu gesagt.«
Neugierig nahm Carla den Deckel von der Schachtel.
Der Schuhkarton war voller Briefe und Postkarten.
Die meisten der Ansichtskarten waren Carla
vertraut. Sie hatte sie an Nathalie geschickt, wenn sie für einen
neuen Artikel auf Reisen gewesen war oder Tagungen besucht hatte.
Ein paar der älteren Karten stammten noch aus Carlas Zeit mit Jörg.
Mit ihm war sie viel verreist, und hätte Jörg nicht so sehr auf
traute Zweisamkeit bestanden, hätte sie Nathalie gerne mit in den
Urlaub genommen. Ein paar Tage in der Sonne, ein schönes Hotel am
Strand, leckere Cocktails und exotisches Nachtleben, all das hätte
Nathalie gutgetan, dachte Carla. Nicht nur ihre dämlichen
Postkarten von Palmenstränden und surfenden Beachboys.
Sie hätte Nathalie mitnehmen und Jörg schon viel
früher zum Teufel schicken sollen. Vielleicht hätte Nathalie
dann eine nette Bekanntschaft gemacht, und vielleicht hätte ihr
diese Bekanntschaft die größte ihrer Ängste genommen.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Sie konnte es
nicht mehr rückgängig machen, also brachte es auch nichts, sich
deswegen weiter Vorwürfe zu machen.
Denk an die älteste aller Journalistenregeln und
halt dich an die Fakten, sagte sie sich. Sie war hier, um nach
dem Mann zu suchen, der Nathalie geschwängert hatte. Dem Mann, der
ihren Tod zu verantworten hatte - ob nun vorsätzlich oder
nicht.
Sie nahm einen Stapel Briefe aus der Schachtel und
sah ihn durch. »Hey, die meisten sind ja von dir.«
Ralf räusperte sich. »Ja, sie mochte Gedichte so
gern.«
»Wie romantisch.«
»Hör auf damit.« Mit einer hastigen Bewegung nahm
er ihr die Briefe aus der Hand. »Die gehen dich nichts an.«
»Ich lese die Briefe ja nicht. Ich schau nur, von
wem sie sind.«
Carla nahm einen weiteren Umschlag aus dem Karton,
in dem sich mehrere Postkarten befanden. Sie hatten alle dasselbe
Motiv. Eine gelbe Rose, die auf einem gerafften Samtuntergrund
voller grüner Blätter lag. Ein furchtbar kitschiges Motiv, fand
Carla. Manche der Karten wirkten älter und verblichener als die
anderen.
Ralf sah die Karten skeptisch an. »Das ist
eigentlich nicht ihr Stil.«
»Nein, sieht eher nach einem Fehlkauf aus.«
»Warum bewahrt sie sie dann auf? So etwas bekommt
man doch in jedem Supermarkt nachgeworfen.«
Erschrocken fuhr Carla zusammen. »Mist!«
»Was ist?«
»Der Rosenkavalier!«
»Wer?«
»Der Rosenkavalier«, wiederholte sie und schlug
sich an die Stirn. »So hat Nathalie ihn genannt. Hatte ich total
vergessen.«
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung. Nathalie wusste es auch nicht.
Irgendein Spinner. Er hat ihr jedes Jahr eine von diesen Karten in
den Briefkasten gesteckt. Immer Anfang Januar, wenn ich mich
richtig erinnere. Ohne Kommentar.«
Ralf sah sie an, als habe sie ihm eine Ohrfeige
verpasst. »Und das erzählst du mir erst jetzt?«
»Ich hatte den völlig verdrängt. Nathalie und ich
haben ihn keine Sekunde ernst genommen.«
Jetzt fiel ihr alles wieder ein. Nathalie und sie
im Treppenhaus. Nathalie, die den Postkasten öffnet und sich über
die vielen Prospekte ärgert, die man trotz Hinweisschild bei ihr
eingeworfen hat. Die Postkarte, die aus dem Prospektstapel rutscht
und auf den Boden fällt. Nathalie, die sich danach bückt und den
Kopf schüttelt.
Schon wieder, hört sie Nathalie sagen.
Ein heimlicher Verehrer? Komm, gib’s
zu!
Nathalie, die verschmitzt lächelt. Keine Ahnung.
Er schreibt ja nie etwas drauf. Das geht schon so, seit ich hier
wohne. Immer diese gelbe Rose. Fünf Karten hab ich schon.
Und du weißt nicht, von wem?
Ich weiß nur, dass mein Rosenkavalier auf
Schnapszahlen stehen muss.
Schnapszahlen?
Ja. Jedes Jahr am 11. 1. bekomme ich eine neue
Karte.
Nachdenklich wiegte Carla die Postkarten in der
Hand. Nun waren es sechs.
»Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass
Nathalies Rosenkavalier unser Mann ist«, sagte sie. »Solche Typen
sind meistens total schüchtern und verklemmt. Mir hat mal einer
jeden Tag eine Tulpe unter den Scheibenwischer geklemmt, und als
ich ihn dann zufällig dabei überrascht habe, ist er weggelaufen,
und ich hab nie wieder was von ihm gesehen oder gehört.«
Nachdenklich zupfte sie sich am Ohrläppchen. »Andererseits …«
Ralf nahm ihr die Karten aus der Hand und
betrachtete sie von allen Seiten. Dann sah er Carla an.
»Was?«
»Na ja, ich frage mich, wieso er ihr keine
richtigen Rosen schenkt. Wieso nur ein Bild? Und wieso
ausgerechnet gelbe Rosen?«