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Irgendwann war Rudolf Marenburg gegangen, das
hatte Carla noch mitbekommen. Sie hatte gehört, wie er leise aus
dem Zimmer geschlichen war, die Haustür hinter sich ins Schloss
gezogen hatte, und hatte noch gedacht, wie nett er doch war und
dass er sie mit seiner Fürsorglichkeit ein wenig an ihren Vater
erinnerte. Dann war sie wieder in den Schlaf gesunken.
Doch es war kein erholsamer Schlaf gewesen, eher
eine Art erschöpfter Ohnmacht. Und als sie schließlich wieder zu
sich gekommen war, allein im Dunkel ihrer Wohnung, verschlungen in
die blaue Wolldecke auf der Wohnzimmercouch, ging ihr noch lange
das Bild nach, das sie während des Schlafs heimgesucht hatte.
Ralf, der seinen Oberkörper aus der Wohnzimmerdecke
geschoben hatte, als würde er sich aus einer Wasserfläche erheben.
Sein Gesicht war zerschürft und durch den Unfall entstellt, und auf
seiner zerquetschten Brust hatte Carla die Reifenabdrucke der Autos
erkennen können, die ihn überrollt hatten.
Ralf hatte einen Arm nach ihr ausgestreckt, von der
Zimmerdecke zu ihr herabgesehen und mit einem gebrochenen
Zeigefinger auf sie gedeutet.
»Ihr habt sie im Stich gelassen«, hatte er
gesagt und sich wie ein Ankläger im Gerichtssaal angehört. »Auch
du, Carla. Vor allem du!«
Dann war sie aus dem Schlaf hochgeschreckt, hatte
zunächst nicht gewusst, wo sie sich befand, und panisch nach dem
Lichtschalter getastet. Als sie dann zur Decke emporgesehen hatte,
war sie sich sicher gewesen, dass sie dort oben noch immer Ralf und
seinen anklagend auf sie gerichteten Finger sah. Doch da war
nichts. Nur Ralfs
Worte hallten im Raum nach, um sie weiterhin auf Schritt und Tritt
zu verfolgen.
Nun war es spät in der Nacht. Stunden mussten seit
dem Alptraum vergangen sein.
Carla stand im Badezimmer, die Hände auf den Rand
des Waschbeckens gestützt. Sie starrte auf die abgeschnittenen
Haare vor sich. Ihre Locken sahen aus wie ein pelziges Wesen, das
sich auf dem weißen Email zusammengerollt hatte und eine Schere auf
dem Rücken trug.
Carla hob den kahlen Kopf und betrachtete sich im
Spiegel.
»Hallo, Sinéad«, sagte sie mit schwerer Zunge, dann
griff sie sich die Weinflasche vom Beckenrand und nahm einen
weiteren kräftigen Schluck. Sie sah zu dem Foto aus Nathalies
Wohnung, das sie seitlich am Spiegel befestigt hatte.
Nathalie und sie.
Arm in Arm.
Beide lachend.
Beide im gleichen Kostüm.
Wie Schwestern.
Tränen schossen ihr in die Augen. Als sie sie mit
dem Handrücken abwischen wollte, rutschte ihr die Weinflasche aus
der Hand. Der dicke Vorleger verhinderte, dass die Flasche zu Bruch
ging.
Mit regloser Miene sah sie zu, wie der Wein aus der
Flasche auf den Fliesenboden gluckerte und durch die Fugen
kroch.
Merlot, dachte sie. Ganz wie in alten
Zeiten.
Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu, besah noch
einmal ihr nun fremdartiges Ebenbild und öffnete dann das kleine
Schränkchen daneben.
Hinter Lippenstiften, Aspirinpäckchen und einem
Fläschchen Mundwasser fand sie, was sie suchte. Jörg hatte sich
stets nass rasiert - das sei gründlicher als mit einem
Elektrogerät, hatte er ihr einmal erklärt -, und als sie ihre
Beziehung beendet hatte, war das Rasiermesser eines von drei
Dingen, die ihr Exfreund ihr hinterlassen hatte.
Das zweite war ein Album voller Urlaubsbilder
gewesen, das dritte eine tiefe Narbe in ihrem Herzen, verursacht
von einem blonden Miststück namens Linda.
Oder hatte sie Lisa geheißen?
Vielleicht auch Lydia?
»Scheißegal«, lallte sie ihrem Spiegelbild zu, das
ihr nickend beipflichtete.
Wichtig war, dass von Jörg doch noch etwas
Positives zurückgeblieben war. Nämlich das Rasiermesser.
Sie klappte es auf und sah es eine Weile an, als
habe sie es noch nie zuvor gesehen. Der dünne Stahl leuchtete
bläulich im Licht der Badezimmerlampe. Carla las den Schriftzug des
Herstellers mit den beiden gekreuzten Schwertern und dachte darüber
nach, ob das, was sie mit der Klinge vorhatte, richtig war oder
falsch.
»Ich hab Angst, Süße«, flüsterte sie dem Foto
zu.
Die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen.
Teils weil sie betrunken war, vor allem aber, weil sie wusste, dass
sie die Sache nur größer machen würde, wenn sie es aussprach. Dann
war es nicht mehr bloß ein flüchtiger Gedanke, den man wegwischen
konnte. Worte hatten immer etwas Endgültiges. Was gesagt war, war
gesagt. Auch wenn man es nur zu sich selbst sagte.
Nathalie lachte ihr weiterhin vom Foto zu. Nathalie
als Morticia aus der Addams Family, die nun nie wieder ihr
wunderschönes Haar scheiteln und das schwarze
eng anliegende Kleid anziehen würde. Nathalie, die sich aus
Verzweiflung das Leben genommen hatte. Aus Furcht vor etwas, das
sie als den »Dämon« bezeichnet hatte. Oder aus Furcht vor
jemandem.
Er ist real!!!
Carla ließ die Klinge zwischen den Fingern im Licht
wippen. »Aber wahrscheinlich hab ich jetzt nicht annähernd so viel
Angst, wie du gehabt haben musst.«
Sie sah zu der Weinflasche und der roten Lache am
Boden hinab und bedauerte nun doch, die Flasche nicht rechtzeitig
aufgehoben zu haben. Ein weiterer Schluck hätte ihr jetzt
gutgetan.
Andererseits wäre es nur eine Verzögerung gewesen.
Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Es würde ihren ganzen Mut
erfordern.
Doch was man begonnen hat, soll man auch zu Ende
bringen.