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Gleich nachdem Jan das Haus verlassen hatte und
zum Dienst gefahren war, stand Rudolf Marenburg auf. Schwerfällig
kletterte er aus dem Bett, schlurfte zum Fenster und zog die
Vorhänge auseinander. Das kalte, graue Licht des frühen Morgens
schmerzte in seinen Augen, und in seinem Schädel begann es noch
heftiger zu pochen. Er hatte einen gotterbärmlichen Kater.
Soweit er sich erinnern konnte, musste er sich
mindestens die halbe Kiste Fahlenberger Schlossquellbier hinter die
Binde gekippt haben. In jungen Jahren hätte er das
leicht weggesteckt, aber er war nun einmal keine zwanzig
mehr.
Trotzdem würde ihn kein Kopfschmerz der Welt von
seinem sonntäglichen Ritual abhalten können. Auf wackeligen Beinen
stieg er die Treppe zur Küche hinunter und fand auf dem Küchentisch
eine Thermoskanne vor. Als er den Deckel abschraubte, dampfte ihm
kräftiger Kaffeegeruch entgegen.
»Guter Junge«, murmelte er und lächelte.
Er goss sich eine große Tasse ein, spülte mit dem
ersten Schluck zwei Aspirintabletten hinunter und las dann die
kleine Notiz, die Jan neben der Kanne hinterlassen hatte.
Gehe nach Dienstende auf
Wohnungssuche.
Warte nicht mit dem Essen auf mich.
Warte nicht mit dem Essen auf mich.
Ja, dachte er, vielleicht ist das
wirklich die beste Lösung. Für uns beide.
Seufzend schob Marenburg den Zettel in die Tasche
seines Morgenmantels, ging ins Bad und nahm eine kalte Dusche.
Danach ging es ihm besser - gut genug jedenfalls, um zum Friedhof
gehen. Der halbstündige Spaziergang würde seine Lebensgeister
wieder auf Trab bringen. Er bewegte sich ohnehin viel zu wenig.
Außerdem war der kleine Fußmarsch Teil des Rituals. Während er
lief, hatte er genügend Zeit, sich innerlich darauf vorzubereiten,
vor Alexandras Grab zu treten.
Tatsächlich halfen der Spaziergang und die Kälte
gegen Marenburgs Kopfschmerzen. Als er wenig später die Tankstelle
betrat und seinen üblichen Sonntagskauf tätigte, war ihm nicht viel
mehr als ein Pochen in den Schläfen geblieben. Damit ließ sich
leben, dachte er,
klemmte sich die gelbe Rose in der Zellophanumhüllung unter den
Arm und setzte seinen Weg fort.
Am Friedhof angekommen, ging er diesmal durch den
kleinen Nebeneingang, auch wenn das einen Umweg durch die östlichen
Parzellen bedeutete. Auf keinen Fall wollte er an Nathalie Köpplers
Grab vorbeikommen. Dafür war der Schreck vom gestrigen Vormittag
noch zu präsent.
Er passierte die Reihen mit den Kindergräbern, kam
an den Gedenktafeln für die Gefallenen und Opfer der beiden
Weltkriege vorbei und schwenkte dann in die Reihe ein, in der sich
das Grab befand.
Im Oktober vor einundvierzig Jahren hatte Marenburg
einen idealen Platz als letzte Ruhestätte für seine Frau
ausgewählt. Flora hatte Bäume geliebt, und als er den freien Platz
unter der Trauerweide gesehen hatte, hatte er keinen Augenblick
daran gezweifelt, dass Flora an diesem Ort hätte begraben werden
wollen.
Er erinnerte sich noch gut an den sonnigen Tag im
Altweibersommer. Er hatte den schwarzen Anzug getragen, in dem er
mit Flora vor den Traualtar getreten war. Den Anzug, den ihm Flora
vorsichtig ausgezogen und säuberlich gefaltet auf den Stuhl neben
dem Bett gelegt hatte, ehe sie das getan hatten, was
frischgebackene Eheleute tun, wenn sie endlich unter sich
sind.
Bei Floras Begräbnis hatte er nicht geweint. Er
hatte nicht gewollt, dass seine nicht einmal einjährige Tochter die
tiefe Verzweiflung ihres Vaters spürte. Sie sollte ein schönes
Leben haben, in dem es keine Traurigkeit gab, eine Kindheit voller
Freude und Unbeschwertheit, und er hatte sich geschworen, dass er
alles tun würde, damit Alexandra auch ohne ihre Mutter eine solch
glückliche Kindheit erleben durfte.
»Ich werde immer für dich da sein«, hatte er seiner
Tochter zugeflüstert, und sie hatte ihn aus großen Babyaugen
angesehen und ihm ein zahnloses Lächeln geschenkt, während um sie
herum die Trauergäste von Flora Marenburg Abschied nahmen.
Achtzehn Jahre später war Alexandra ihrer Mutter in
den Tod gefolgt. Nun lag sie bei ihr in einer düsteren Erdgrube,
bedeckt von Blumen und kleinen Gewächsen, die Rudolf Marenburg
fürsorglich pflegte.
Er wickelte die Rose aus dem Zellophan, schob die
zerknüllte Folie in die Jackentasche und stellte die Rose in eine
schmale Vase neben dem Grabstein.
So wie ihre Mutter die Bäume hatte Alexandra Rosen
geliebt. Vor allem die gelben. Sie sehen wie gefaltete Sonnen
aus, hatte sie gesagt, als sie vier gewesen war. Seither hatte
er ihr jeden Sonntag eine gelbe Rose geschenkt. Es war für sie
beide der Tag der gefalteten Sonnen. Vierzehn Jahre auf dem
Frühstückstisch, und seit dreiundzwanzig Jahren auf Alexandras
Grab.
Behutsam wischte Marenburg das Schneehäubchen vom
kleinen Gefäß am Fuß des Grabes, öffnete es und sprenkelte ein
wenig Weihwasser auf die beiden Namenszüge, zu denen sich
irgendwann auch sein eigener gesellen würde. Dann stand er eine
Weile da, sah sich den glattpolierten Grabstein an und erzählte im
Geiste von den Ereignissen der Woche. Und wie immer hatte er das
Gefühl, Flora und Alexandra seien bei ihm.
»Ich vermisse euch«, sagte er leise. So
verabschiedete er sich jeden Sonntag von den beiden. Dann ging er
noch einmal in die Knie, rückte die Rose vorsichtig in der Vase
zurecht und murmelte: »Ich habe nicht aufgegeben, Liebes. Ich werde
herausfinden, warum du in den Park gelaufen bist. Das verspreche
ich dir.«
Als er den Friedhof verließ, nahm er nicht den
gewohnten Nachhauseweg, sondern ging in Richtung der
Neubausiedlung. Gegenüber des Love Palace befand sich eine
Bushaltestelle. Er fuhr mit dem Finger den Fahrplan ab, fand nach
einigem Suchen den richtigen Straßennamen und die Nummer der
zugehörigen Buslinie und stellte sich unter die
Plastiküberdachung.
Dort wartete er in der eisigen Morgenstille. Nur
hin und wieder kam ein Auto vorbei. Dann hörte er das Klacken von
Absätzen auf dem Asphalt und gleich darauf stellte sich Dunja neben
ihn.
»Hallo«, sagte sie und lächelte ihn an. Er konnte
ihr schweres Parfüm riechen. »So früh auf den Beinen?«, fragte sie
und kramte eine Monatskarte aus ihrer Handtasche. »Endlich
Feierabend. Ich brauch jetzt dringend ein Bett. Eins zum Schlafen.«
Sie kicherte.
Marenburg schlug die Augen nieder und betrachtete
die Salzränder auf seinen Lederschuhen.
»Bist heute wohl nicht zum Sprechen aufgelegt,
was?«, fuhr sie fort, und ihr ukrainischer Akzent trat stärker zum
Vorschein. »Schon in Ordnung. Es muss dir nicht peinlich sein, dass
wir hier zusammenstehen. Ich steige nachher hinten ein, ja?«
Er nickte, ohne sie anzusehen. »Bitte lass mich in
Ruhe.«
»Du Armer. Du siehst wieder so traurig aus. Komm
mal wieder bei mir vorbei. Ich kann dich aufmuntern. Das weißt du
doch.«
Marenburg war kurz davor, sie anzufahren, sie solle
ihn endlich in Ruhe lassen, doch in diesem Moment kam der
Bus.
Wie versprochen setzte sich Dunja ans hintere Ende,
ohne ihn noch einmal anzusehen. Marenburg nahm in
der vordersten Reihe Platz. Er hatte die Hände noch immer zu
Fäusten geballt.