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Noch vor einer halben Stunde hätte Dunja nicht im Traum daran gedacht, dass dies der glücklichste Tag ihres Lebens werden sollte. Aber nun saß sie neben ihm auf dem Beifahrersitz einer Luxuslimousine, trank Champagner und konnte ihr Glück noch gar nicht fassen.
Zunächst hatte sie gedacht, sie sei in einen ganz normalen Mittelklassewagen eingestiegen und in dem Glas in ihrer Hand befinde sich gewöhnlicher Prosecco aus dem Kühlregal irgendeiner Tankstelle. Doch nun war ihr klar, dass sie sich gewaltig geirrt hatte.
»So kann man sich täuschen«, hatte er gesagt, als sie ihrer Verwunderung Ausdruck gegeben hatte.
Und damit lag er vollkommen richtig. Schließlich hatte sie sich ja auch in ihm getäuscht. Wie oft hatte er schon von ihr verlangt, sich eine Pappmaske vors Gesicht zu halten und vorgegebene Texte aufzusagen, während er sie vögelte, doch nie war ihr aufgegangen, dass dies alles nur ein Test ihres schauspielerischen Talents sein könnte. Sie hatte ja nicht einmal durchschaut, wer der große Unbekannte in Wirklichkeit war.
Doch nun hatte er sich ihr zu erkennen gegeben, und es war unfassbar. Ihr größter Traum war Wirklichkeit geworden. Sie saß neben Robert De Niro.
Sie hatte es schon immer gewusst, auch wenn sie manchmal befürchtet hatte, es wäre nicht mehr als nur ein Traum: Eines Tages würde er kommen und sie aus dem Sumpf, in dem sie steckte, herausholen. Weg von den dunklen Gestalten, weg von all den verschrobenen, manchmal hässlichen und ziemlich häufig fetten Typen, die nur auf einen schnellen Fick aus waren. Weg von all diesen menschlichen Abgründen.
Jetzt endlich war das alles vorbei. Jetzt saß sie neben ihm und fuhr durch die Nacht, und jedes Mal, wenn sie zu ihm hinübersah, machte ihr Herz einen Sprung vor Freude und Glückseligkeit.
Er sah genauso aus, wie sie ihn von der Leinwand kannte. Bei diesem Prachtstück von einem Mann war jeder Visagist oder Make-up-Experte überflüssig. In seinem Smoking sah De Niro aus wie seinerzeit als Don Vito Corleone, dabei dürfte er während der Aufnahmen nicht viel älter als dreißig gewesen sein. Doch das Alter konnte einem Leinwandgott nichts anhaben, selbst wenn er die Sechzig überschritten hatte - dafür war Robert De Niro ohne Zweifel der lebende Beweis.
»Sie sehen so verdammt gut aus«, wagte sie schließlich zu äußern, und De Niro schenkte ihr sein unvergleichliches Lächeln, das ein wenig nach Louis Cyphre aus Angel Heart und sehr nach Pater Bobby aus Sleepers aussah.
Wie sie dieses Muttermal auf seiner rechten Wange doch liebte. Allein um dieses Muttermal berühren oder küssen zu dürfen, hätte sie ihre gesamten Ersparnisse für die Schauspielschule hergegeben.
Vergessen war die Müdigkeit von vorhin, als sie aus dem Love Palace gekommen war und nur noch nach Hause in ihre Badewanne gewollt hatte. Deswegen wäre sie auch fast nicht zu ihm in den Wagen gestiegen, hatte aber schließlich doch noch seinem Drängen nachgegeben, weil er sie neugierig gemacht hatte. Er hatte so gut gelaunt gewirkt, ihr Sekt - der jetzt Champagner war - angeboten und ihr versprochen, ihr etwas Großartiges zu zeigen. Und jetzt, nachdem sie begriffen hatte, wer er wirklich war … ja, jetzt war es wirklich großartig!
»Bin ich denn auch passend angezogen?«, fragte sie unsicher.
»Aber klar, Baby«, sagte De Niro und lächelte wieder sein göttliches Lächeln. »Sie dich doch nur mal an. Bei dir wird jedes Kleid zur geladenen Waffe, Darling.«
Sie sah an sich herab. Trug sie wirklich dieses weinrote Abendkleid mit dem tiefen Dekolleté? Sie konnte sich nicht erinnern, es angezogen zu haben. Das musste bestimmt am Champagner liegen. Herrje, sie musste achtgeben, dass sie keinen Schwips bekam. Das wäre an diesem außergewöhnlichsten aller Abende nicht nur peinlich, sondern fatal für ihre Karriere.
»Unsinn, Baby«, sagte De Niro und legte ihr eine Hand auf den Schenkel. »Trink noch einen Schluck. Mach dich locker für die Show. Das tun wir doch alle.«
O Gott, allein seine Hand zu spüren ließ sie feucht werden. Sie musste sich jetzt zusammennehmen, also trank sie ihr Glas hastig leer. Der Champagner kribbelte in ihrem Bauch, und sie musste ein leises Rülpsen unterdrücken.
Hoffentlich hat er es nicht mitbekommen. Ich benehme mich ja wie ein Bauerntrampel.
Doch De Niro lachte nur, und sie fiel in sein Lachen ein. Gleich darauf hielt er an.
»O Bob«, sagte sie. Er hatte sie gebeten, ihn Bob zu nennen - alle guten Freunde nannten ihn Bob -, und sie hoffte insgeheim, ihm in dieser Nacht noch oft »O Bob« ins Ohr hauchen zu dürfen. »Warum ist es hier so dunkel?«
»Wir sind hinter der Bühne, Baby«, sagte Bob und zwinkerte ihr zu. »Gleich wird der Vorhang aufgehen, und dann wird es verdammt hell, pass nur auf.«
Sie folgte ihm eine Treppe hinauf und betrat den blankgebohnerten Boden. Zwar konnte sie diese Bühne noch nicht sehen, dafür war es viel zu dunkel, doch Bob führte sie an der Hand und erklärte ihr, wo sie sich befanden. Bob kannte sich aus.
Ihre hohen Absätze klackten auf dem Boden, als sie ihm zur Mitte der Bühne folgte. Der Vorhang war geschlossen, aber sie glaubte, leises Raunen von der anderen Seite zu hören. Gespanntes Gemurmel, das nur ihr allein galt.
»Bist du bereit, Schätzchen?«
Sie brachte nur ein Nicken zustande. Am liebsten wäre sie jetzt davongelaufen. Nie hätte sie geglaubt, dass Lampenfieber so schlimm sein konnte.
Aber he, das ist dein großer Moment, also sei tapfer!
Sie wollte Bob fragen, ob ihr Make-up nicht verschmiert sei, ob ihm ihr Lippenstift nicht ein wenig zu dick aufgetragen erschien und ob der Ausschnitt ihres Kleides nicht vielleicht doch ein wenig zu tief war. Himmel, man sah ja fast das Piercing in ihrem Bauchnabel. Zukünftige Filmstars waren doch nicht gepierct, wie hatte sie das nur vergessen können?
»Pssst«, machte Bob und streichelte ihre nackte Schulter. Wieder konnte sie spüren, wie sie ein wohliger Schauer durchlief.
»Ganz cool bleiben, Süße. So geht es uns allen am Anfang. Du darfst es sie nur nicht merken lassen.« Er zwinkerte, und das Muttermal auf seiner Wange machte einen kleinen Satz. »Das macht den Profi aus. Also, können wir?«
Dunja atmete tief durch, nickte und brachte ein festes und selbstsicheres »Ja« zustande.
Gut so, dachte sie. Du bist jetzt ein Profi.
Robert De Niro - Bob - lächelte zufrieden und verschwand auf der anderen Seite des Vorhangs. Applaus brauste auf, und dann hörte sie ihn rufen.
»Danke, Ladies and Gentlemen, vielen Dank! Doch nicht mir gilt der heutige Applaus. Heißen Sie mit mir die Newcomerin des Jahres willkommen. Wenn es je eine Schauspielerin verdient hat, den Oscar entgegenzunehmen, dann ist es die junge Dame, die nun gleich die Bühne betreten wird.«
Er machte eine dramatische Pause, und das gespannte Murmeln war nun noch lauter geworden.
»Ladies and Gentlemen, Applaus für die großartige, unvergleichliche, hinreißende … Dunjaaaa Koslowskiiii!«
Er zog ihren Namen in die Länge und untermalte damit das Öffnen des Vorhangs. Dicker roter Samt glitt auseinander und gab den Blick auf das Publikum frei. Jeder einzelne Platz des riesigen Theaters war belegt, und selbst im Mittelgang und zu beiden Seiten drängten sich Menschen - Männer in Frack oder Smoking und Frauen in Abendkleidern. Manche der Kleider waren klassisch-elegant, andere gewagt wie das von Dunja, oder funkelten in schrillen Farben und waren mit blitzenden Pailletten besetzt. Und während nun die Fanfare der 20th Century Fox ertönte, brandete der Applaus auf.
»Das ist für dich, Baby«, hörte sie De Niro ihr zurufen, doch im grellen Licht der Scheinwerfer konnte sie ihn nirgends ausmachen. Sie erkannte jedoch, wer in den ersten Reihen des Theaters saß und ihr zuklatschte, und vor Aufregung blieb ihr beinahe das Herz stehen.
Da waren sie, die Größten der Großen, die Göttinnen und Götter des Films. Dunja sah Bette Davis, Jane Russell, Liz Taylor, Marilyn Monroe … und da! … war das nicht die Bergman? Ja, sie war es! O mein Gott, sie war es! Sie stand neben James Dean, Clark Gable und Cary Grant. Bei ihr war ihre Tochter, Isabella Rossellini. Die beiden Diven erhoben sich von ihren Plätzen und gaben Dunja stehende Ovationen. Gleich darauf taten es ihnen die anderen nach.
Ich bin im Himmel, o mein Gott, ja, dies ist der Himmel!
Dunja wusste, dass es nun an ihr lag, etwas zu sagen oder zu tun. Doch der tosende Applaus war viel zu laut, als dass sie mit Worten zu ihrem großartigen Publikum hätte durchdringen können. Also breitete sie die Arme aus, warf mit einer vollendeten Divengeste den Kopf zurück und präsentierte sich im immer greller werdenden Scheinwerferlicht.
»Dies sind deine fünf Minuten Ruhm«, hörte sie De Niro sagen, und er hatte ja so Recht.
Dies war ihr großer Moment! Dies war …
Der ICE traf sie mit einer ungebremsten Geschwindigkeit von 270 Stundenkilometern. Es passierte so abrupt, dass Dunja Koslowski nicht einmal mehr spürte, wie sie vom Luftsog unter die Räder gerissen und zermalmt wurde.
Kalte Stille - Kalte Stille
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