46
Noch vor einer halben Stunde hätte Dunja nicht im
Traum daran gedacht, dass dies der glücklichste Tag ihres Lebens
werden sollte. Aber nun saß sie neben ihm auf dem Beifahrersitz
einer Luxuslimousine, trank Champagner und konnte ihr Glück noch
gar nicht fassen.
Zunächst hatte sie gedacht, sie sei in einen ganz
normalen Mittelklassewagen eingestiegen und in dem Glas in ihrer
Hand befinde sich gewöhnlicher Prosecco aus dem Kühlregal
irgendeiner Tankstelle. Doch nun war ihr klar, dass sie sich
gewaltig geirrt hatte.
»So kann man sich täuschen«, hatte er
gesagt, als sie ihrer Verwunderung Ausdruck gegeben hatte.
Und damit lag er vollkommen richtig. Schließlich
hatte sie sich ja auch in ihm getäuscht. Wie oft hatte er schon von
ihr verlangt, sich eine Pappmaske vors Gesicht zu halten und
vorgegebene Texte aufzusagen, während er sie vögelte, doch nie war
ihr aufgegangen, dass dies alles nur ein Test ihres
schauspielerischen Talents
sein könnte. Sie hatte ja nicht einmal durchschaut, wer der große
Unbekannte in Wirklichkeit war.
Doch nun hatte er sich ihr zu erkennen gegeben, und
es war unfassbar. Ihr größter Traum war Wirklichkeit geworden. Sie
saß neben Robert De Niro.
Sie hatte es schon immer gewusst, auch wenn sie
manchmal befürchtet hatte, es wäre nicht mehr als nur ein Traum:
Eines Tages würde er kommen und sie aus dem Sumpf, in dem sie
steckte, herausholen. Weg von den dunklen Gestalten, weg von all
den verschrobenen, manchmal hässlichen und ziemlich häufig fetten
Typen, die nur auf einen schnellen Fick aus waren. Weg von all
diesen menschlichen Abgründen.
Jetzt endlich war das alles vorbei. Jetzt saß sie
neben ihm und fuhr durch die Nacht, und jedes Mal, wenn sie zu ihm
hinübersah, machte ihr Herz einen Sprung vor Freude und
Glückseligkeit.
Er sah genauso aus, wie sie ihn von der Leinwand
kannte. Bei diesem Prachtstück von einem Mann war jeder Visagist
oder Make-up-Experte überflüssig. In seinem Smoking sah De Niro aus
wie seinerzeit als Don Vito Corleone, dabei dürfte er während der
Aufnahmen nicht viel älter als dreißig gewesen sein. Doch das Alter
konnte einem Leinwandgott nichts anhaben, selbst wenn er die
Sechzig überschritten hatte - dafür war Robert De Niro ohne Zweifel
der lebende Beweis.
»Sie sehen so verdammt gut aus«, wagte sie
schließlich zu äußern, und De Niro schenkte ihr sein
unvergleichliches Lächeln, das ein wenig nach Louis Cyphre aus
Angel Heart und sehr nach Pater Bobby aus Sleepers
aussah.
Wie sie dieses Muttermal auf seiner rechten Wange
doch liebte. Allein um dieses Muttermal berühren oder
küssen zu dürfen, hätte sie ihre gesamten Ersparnisse für die
Schauspielschule hergegeben.
Vergessen war die Müdigkeit von vorhin, als sie aus
dem Love Palace gekommen war und nur noch nach Hause in ihre
Badewanne gewollt hatte. Deswegen wäre sie auch fast nicht zu ihm
in den Wagen gestiegen, hatte aber schließlich doch noch seinem
Drängen nachgegeben, weil er sie neugierig gemacht hatte. Er hatte
so gut gelaunt gewirkt, ihr Sekt - der jetzt Champagner war -
angeboten und ihr versprochen, ihr etwas Großartiges zu zeigen. Und
jetzt, nachdem sie begriffen hatte, wer er wirklich war … ja, jetzt
war es wirklich großartig!
»Bin ich denn auch passend angezogen?«, fragte sie
unsicher.
»Aber klar, Baby«, sagte De Niro und lächelte
wieder sein göttliches Lächeln. »Sie dich doch nur mal an. Bei dir
wird jedes Kleid zur geladenen Waffe, Darling.«
Sie sah an sich herab. Trug sie wirklich dieses
weinrote Abendkleid mit dem tiefen Dekolleté? Sie konnte sich nicht
erinnern, es angezogen zu haben. Das musste bestimmt am Champagner
liegen. Herrje, sie musste achtgeben, dass sie keinen Schwips
bekam. Das wäre an diesem außergewöhnlichsten aller Abende nicht
nur peinlich, sondern fatal für ihre Karriere.
»Unsinn, Baby«, sagte De Niro und legte ihr eine
Hand auf den Schenkel. »Trink noch einen Schluck. Mach dich locker
für die Show. Das tun wir doch alle.«
O Gott, allein seine Hand zu spüren ließ sie feucht
werden. Sie musste sich jetzt zusammennehmen, also trank sie ihr
Glas hastig leer. Der Champagner kribbelte in ihrem Bauch, und sie
musste ein leises Rülpsen unterdrücken.
Hoffentlich hat er es nicht mitbekommen. Ich
benehme mich ja wie ein Bauerntrampel.
Doch De Niro lachte nur, und sie fiel in sein
Lachen ein. Gleich darauf hielt er an.
»O Bob«, sagte sie. Er hatte sie gebeten, ihn
Bob zu nennen - alle guten Freunde nannten ihn Bob -,
und sie hoffte insgeheim, ihm in dieser Nacht noch oft »O Bob« ins
Ohr hauchen zu dürfen. »Warum ist es hier so dunkel?«
»Wir sind hinter der Bühne, Baby«, sagte Bob und
zwinkerte ihr zu. »Gleich wird der Vorhang aufgehen, und dann wird
es verdammt hell, pass nur auf.«
Sie folgte ihm eine Treppe hinauf und betrat den
blankgebohnerten Boden. Zwar konnte sie diese Bühne noch nicht
sehen, dafür war es viel zu dunkel, doch Bob führte sie an der Hand
und erklärte ihr, wo sie sich befanden. Bob kannte sich aus.
Ihre hohen Absätze klackten auf dem Boden, als sie
ihm zur Mitte der Bühne folgte. Der Vorhang war geschlossen, aber
sie glaubte, leises Raunen von der anderen Seite zu hören.
Gespanntes Gemurmel, das nur ihr allein galt.
»Bist du bereit, Schätzchen?«
Sie brachte nur ein Nicken zustande. Am liebsten
wäre sie jetzt davongelaufen. Nie hätte sie geglaubt, dass
Lampenfieber so schlimm sein konnte.
Aber he, das ist dein großer Moment, also sei
tapfer!
Sie wollte Bob fragen, ob ihr Make-up nicht
verschmiert sei, ob ihm ihr Lippenstift nicht ein wenig zu dick
aufgetragen erschien und ob der Ausschnitt ihres Kleides nicht
vielleicht doch ein wenig zu tief war. Himmel, man sah ja fast das
Piercing in ihrem Bauchnabel.
Zukünftige Filmstars waren doch nicht gepierct, wie hatte sie das
nur vergessen können?
»Pssst«, machte Bob und streichelte ihre nackte
Schulter. Wieder konnte sie spüren, wie sie ein wohliger Schauer
durchlief.
»Ganz cool bleiben, Süße. So geht es uns allen am
Anfang. Du darfst es sie nur nicht merken lassen.« Er zwinkerte,
und das Muttermal auf seiner Wange machte einen kleinen Satz. »Das
macht den Profi aus. Also, können wir?«
Dunja atmete tief durch, nickte und brachte ein
festes und selbstsicheres »Ja« zustande.
Gut so, dachte sie. Du bist jetzt ein
Profi.
Robert De Niro - Bob - lächelte zufrieden und
verschwand auf der anderen Seite des Vorhangs. Applaus brauste auf,
und dann hörte sie ihn rufen.
»Danke, Ladies and Gentlemen, vielen Dank! Doch
nicht mir gilt der heutige Applaus. Heißen Sie mit mir die
Newcomerin des Jahres willkommen. Wenn es je eine Schauspielerin
verdient hat, den Oscar entgegenzunehmen, dann ist es die junge
Dame, die nun gleich die Bühne betreten wird.«
Er machte eine dramatische Pause, und das gespannte
Murmeln war nun noch lauter geworden.
»Ladies and Gentlemen, Applaus für die großartige,
unvergleichliche, hinreißende … Dunjaaaa Koslowskiiii!«
Er zog ihren Namen in die Länge und untermalte
damit das Öffnen des Vorhangs. Dicker roter Samt glitt auseinander
und gab den Blick auf das Publikum frei. Jeder einzelne Platz des
riesigen Theaters war belegt, und selbst im Mittelgang und zu
beiden Seiten drängten sich Menschen - Männer in Frack oder Smoking
und
Frauen in Abendkleidern. Manche der Kleider waren
klassisch-elegant, andere gewagt wie das von Dunja, oder funkelten
in schrillen Farben und waren mit blitzenden Pailletten besetzt.
Und während nun die Fanfare der 20th Century Fox ertönte, brandete
der Applaus auf.
»Das ist für dich, Baby«, hörte sie De Niro ihr
zurufen, doch im grellen Licht der Scheinwerfer konnte sie ihn
nirgends ausmachen. Sie erkannte jedoch, wer in den ersten Reihen
des Theaters saß und ihr zuklatschte, und vor Aufregung blieb ihr
beinahe das Herz stehen.
Da waren sie, die Größten der Großen, die Göttinnen
und Götter des Films. Dunja sah Bette Davis, Jane Russell, Liz
Taylor, Marilyn Monroe … und da! … war das nicht die Bergman? Ja,
sie war es! O mein Gott, sie war es! Sie stand neben James Dean,
Clark Gable und Cary Grant. Bei ihr war ihre Tochter, Isabella
Rossellini. Die beiden Diven erhoben sich von ihren Plätzen und
gaben Dunja stehende Ovationen. Gleich darauf taten es ihnen die
anderen nach.
Ich bin im Himmel, o mein Gott, ja, dies ist der
Himmel!
Dunja wusste, dass es nun an ihr lag, etwas zu
sagen oder zu tun. Doch der tosende Applaus war viel zu laut, als
dass sie mit Worten zu ihrem großartigen Publikum hätte
durchdringen können. Also breitete sie die Arme aus, warf mit einer
vollendeten Divengeste den Kopf zurück und präsentierte sich im
immer greller werdenden Scheinwerferlicht.
»Dies sind deine fünf Minuten Ruhm«, hörte sie De
Niro sagen, und er hatte ja so Recht.
Dies war ihr großer Moment! Dies war …
Der ICE traf sie mit einer ungebremsten
Geschwindigkeit von 270 Stundenkilometern. Es passierte so abrupt,
dass Dunja Koslowski nicht einmal mehr spürte, wie sie vom Luftsog
unter die Räder gerissen und zermalmt wurde.