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Fast eine Stunde hatte Carla im Dunklen gestanden
und dem Gespräch im Nebenraum zugehört. Nun wusste sie, dass die
dicke Frau Claudia Lippert hieß, unter einer schweren Essstörung
litt, dass sie sich heimlich mit Süßigkeiten vollstopfte, keine
engeren Beziehungen eingehen konnte und aus einem Elternhaus
stammte, in dem beruflicher Erfolg, Ansehen und hohes Einkommen von
größter Bedeutung waren. Die letzten zehn Minuten der Sitzung hatte
die dicke Frau fast nur geweint.
Rauh war mehrere Male sehr dicht an der Tür zu
seinem Büro vorbeigekommen. Dort hatte er Papiertaschentücher und
Tee für seine Patientin von der Kommode geholt. Jedes Mal, wenn sie
ihn in nächster Nähe gehört hatte, war Carlas Herz fast
stehengeblieben.
Als Rauh schließlich seine Patientin verabschiedete
und sich anbot, sie zurück auf die Station zu begleiten, fiel Carla
ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. Erleichtert stieß sie den Atem
aus und wartete, bis sich die Tür nebenan geschlossen hatte. Die
Stimmen auf dem Gang entfernten sich.
Carla tastete sich durch den dunklen Therapieraum,
stieß mit dem Fuß gegen ein Stuhlbein, fluchte leise und erreichte
die Tür. Geschafft!
Vorsichtig öffnete sie. Sie trat gerade auf den
Gang hinaus, als Rauh ihr entgegenkam. Der Arzt blieb wie
angewurzelt stehen.
»Frau Weller, was haben Sie dort zu suchen?«
»Oh … da … da sind Sie ja«, stammelte Carla. »Ich
habe Sie bereits gesucht. Wegen eines Termins. Wie Sie
vorgeschlagen hatten.«
»Verkaufen Sie mich nicht für dumm.« Rauh rang
sichtlich um Fassung. »Sie haben sich widerrechtlich Zutritt zu
meinem Büro verschafft.«
»Es war nicht abgesperrt.«
An Rauhs Schläfen trat ein feines Adergeflecht
hervor, und sein solariumgebräunter Teint wechselte ins Rötliche.
»Das war auch nicht nötig, da hier bislang noch keine Presseleute
rumgeschnüffelt haben.«
»Und was werden Sie jetzt tun?«, fragte Carla und
lächelte finster. »Eine Patientin, die sich die Pulsadern
aufgeschlitzt hat, vor die Tür setzen? Ihr die Behandlung
verweigern? Würde bestimmt eine gute Schlagzeile abgeben.«
Rauh kam auf sie zu, blieb knapp vor ihr stehen und
sah ihr tief in die Augen. Im Gang war es totenstill. Nur ihr Atmen
und das leise Neonsirren der Deckenbeleuchtung waren zu
hören.
»Sie brauchen wirklich Hilfe«, sagte Rauh mit
bedrohlich leiser Stimme.
»Was bedeutet R?«, fragte Carla.
»R?«
»Das R, das Sie hinter Nathalies Namen
vermerkt haben.«
Carla glaubte Rauhs heißen Atem auf der Haut zu
spüren. Seine zorngeweiteten Pupillen hatten das tiefe Blau der
schmalen Iris fast verdrängt, doch Carla konnte dennoch die hellen
Faserstrukturen darin erkennen, die aussahen wie elektrische Blitze
in einer Plasmakugel.
»Sie machen einen großen Fehler.«
Wieder sprach er leise und gepresst, so als müsse
er alle Selbstbeherrschung aufbringen, um Carla nicht anzuschreien.
Dann wandte er sich von ihr ab, ging um sie herum zum Therapieraum
und schlug die Tür hinter sich zu.