60
Zu Fuß folgten Jan und Rauh dem Zufahrtsweg, der
sich immer tiefer in den Wald wand. Mit Rauhs Wagen wären sie nicht
weit gekommen, denn der Weg war von den tiefen Reifenfurchen der
Forstfahrzeuge durchzogen und für einen normalen Pkw
unpassierbar.
Die beiden Männer hielten sich in der Mitte des
Weges, wo der Boden noch am besten begehbar war. Um sie herum waren
nur die Wintergeräusche des Waldes zu hören. In weiter Ferne
krächzte eine Krähe, hie und da fielen kleine Schneehaufen aus dem
Geäst, und gelegentlich hörte man ein Knacken im Unterholz.
»Wird nicht einfach sein, hier etwas zu finden«,
sagte Rauh und blieb stehen. Er vergrub die Hände in den
Jackentaschen und ließ den Blick umherschweifen.
Jan behielt Rauhs verborgene Hände im Blick. Rauh
musste dies bemerkt haben. Er stieß den Atem durch die Nase aus,
der in der kalten Waldluft wie Rauch aussah.
»Noch immer misstrauisch?«
»Wären Sie das nicht an meiner Stelle?«
»Sie können mich durchsuchen, wenn Sie sich dann
wohler fühlen.« Rauh zog die Hände aus den Taschen und hob sie
hoch. »Außer der kopierten Karte, der Taschenlampe,
einem Päckchen Pfefferminz und meinen Autoschlüsseln trage ich
nichts bei mir.«
Jan winkte ab. »Sehen Sie lieber auf der Karte
nach, wie weit wir schon auf Wagners Grund sind.«
Rauh lächelte, dann senkte er die Hände und zog die
zusammengefalteten Kopien aus seiner Jackentasche. Dabei fiel ihm
ein silberner Gegenstand zu Boden. Es war ein Feuerzeug, das mit
der Unterseite im gefrorenen Morast landete.
»Sie haben etwas verloren.«
Rauh bückte sich und hob hastig das Feuerzeug auf.
»Oh, danke.«
Er streifte den Schmutz ab.
»Schönes Stück«, sagte Jan.
»Ja.« Rauh steckte das Feuerzeug in seine Jacke
zurück. Diesmal in die Innentasche. »Ein Geschenk von meiner
Exfrau. Carmen. Wir hätten vorgestern unseren zehnten Hochzeitstag
gehabt.«
»Tut mir leid.«
»Ist lange her.« Ohne Jan anzusehen, entfaltete
Rauh die Karte und tippte auf eines der eingezeichneten Felder.
»Wir sind jetzt in etwa hier.«
»Dann sollten wir noch ein Stück weitergehen«,
sagte Jan und besah sich die Karte. »Ungefähr hundert Meter von
hier sind Erhöhungen eingezeichnet. Die sollten wir uns genauer
ansehen.«
»Also gut«, sagte Rauh und faltete die Karte
zusammen. »Dann mal los. Allmählich friere ich hier fest.«
Wenig später gelangten sie an eine Gabelung. Der
linke Weg führte zu dem Teil des Grundstücks, den Alfred verkauft
hatte, den rechten versperrte eine verrostete Metallschranke. Sie
musste einmal rot-weiß gestrichen gewesen sein, doch nun war vor
Rost fast nichts mehr
von der Farbe erkennbar. Nur das gelbe Plastikschild schien aus
jüngerer Zeit zu stammen:
PRIVATGRUNDSTÜCK
ZUFAHRT UND BETRETEN VERBOTEN!
ZUFAHRT UND BETRETEN VERBOTEN!
»Ich vermute, das hat Alfred angebracht«, sagte
Rauh.
»Anscheinend«, nickte Jan. »Ich denke, ab hier
lohnt es sich zu suchen.«
»Da drüben!«
Rauh zeigte zu einer Ansammlung kleiner Hügel, die
mit dicken Tannen bewachsen waren.
Jan besah sich die Hügel, die nicht natürlichen
Ursprungs zu sein schienen. Dafür waren sie zu gleichmäßig
verteilt. Ihm fiel einer seiner ehemaligen Grundschullehrer wieder
ein - Herr Haas, der ihn in Heimat- und Sachkunde unterrichtet
hatte. Jan konnte sich noch gut an die Geschichten erinnern, die
ihnen der Lehrer über die Vorzeit der Fahlenberger Region erzählt
hatte.
»Das sind Keltengräber.«
»Hallstattzeit.« Rauh nickte. »Da würde ein
weiterer Hügel nicht auffallen.«
»Na, dann los.«
Mehr als eine halbe Stunde suchten sie die Hügel
und die nähere Umgebung nach einem möglichen versteckten Eingang
ab. Vergeblich. Wie es schien, waren diese Erhebungen wirklich nur
Gräber aus einer Zeit von vor fast dreitausend Jahren.
»Ärgerlich«, sagte Rauh, als sie sich wieder
trafen. »Ich hätte wetten können, dass sich der Bunker hier
befindet.«
Er rieb sich die Hände. Sein Gesicht mit dem sonst
leicht gebräunten Teint regelmäßiger Solariumbesuche
war blass vor Kälte. Seine Wangen und die Nasenspitze leuchteten
rot wie bei einer Clownsmaske.
Auch Jan war vor Kälte klamm und hatte kaum noch
Gefühl in Händen und Füßen. »Viel Auswahl haben wir nicht mehr.
Wenn ich die Karte richtig verstehe, macht der Weg in etwa
zweihundert Metern eine weitere Biegung und führt dann in das
Nachbarstück hinein.«
»Vielleicht gibt es ja doch keinen Bunker«, sagte
Rauh und machte eine ratlose Geste.
»Möglich.« Enttäuscht schaute sich Jan nach allen
Seiten um. Dann stutzte er. »Warten Sie! Ich glaube, es gibt ihn
doch.«
Er ging auf eine dicke Buche zu, die etwa fünfzig
Meter von den Hügelgräbern entfernt aufragte. Der Baum musste sehr
alt sein. Zwischen zahlreichen Fichten und Tannen stand er da wie
ein Riese. An beiden Seiten des Stammes hatten sich dicke, knotige
Schwämme gebildet, die im Lauf vieler Jahre von Moos überzogen und
verholzt waren. Zwei dieser Wucherungen traten besonders auffällig
hervor. Ihre Formen erinnerten Jan an Hände. Hände mit
verkrüppelten, bedrohlich gespreizten Fingern.
»Klauenhände.«
»Wie bitte?« Rauh sah ihn verwundert an.
Jan ging um den Baum herum, besah sich von dort den
Stamm und nickte.
»Ein Bekannter, Hubert Amstner, hat mir vor kurzem
von Alfreds Wahnvorstellungen erzählt«, sagte er zu Rauh, der sich
nun ebenfalls zu ihm durch das Unterholz vorarbeitete. Er verzog
schmerzvoll das Gesicht, als ihn die Dornen der Büsche durch seine
Stoffhose in die Haut stachen.
»Alfred hatte ihm von den Unterirdischen berichtet.
Und von der Madonna mit den Klauenhänden. Nun, hier ist
sie.«
Jan zeigte auf ein kleines gerahmtes Marienbild,
das in die glatte Rinde eingewachsen war. Im Lauf der Jahrzehnte,
die das Bild dort schon hing, war es vom Sonnenlicht ausgebleicht
und blaustichig geworden, aber man konnte das Antlitz der
Gottesmutter noch gut erkennen.
»Dann sind wir also doch richtig«, sagte Rauh und
befreite seinen Jackenärmel aus dem Griff eines dornigen Astes.
»Das muss noch vom alten Wagner stammen.«
Jan tätschelte den Buchenstamm. »Ja, und man muss
auf dieser Seite stehen, um das Bild sehen zu können.«
Mürrisch dreinblickend wischte sich Rauh über seine
Hosenbeine. »Freiwillig steigt sicherlich niemand durch dieses
Gestrüpp. Dafür braucht man einen guten Grund.«
»Wahrscheinlich denselben Grund, weshalb man diese
Sträucher überhaupt hat wuchern lassen. Also sollten wir uns hier
mal ein wenig genauer umsehen.«
»Ich sehe schon, ich bin für den Anlass eindeutig
falsch gekleidet«, seufzte Rauh.
»Die Wahrheit verlangt ihre Opfer«, entgegnete Jan
und schob sich weiter durch die Büsche.
Auf dem Boden lag kaum Schnee. Das meiste davon
hatten die Büsche abgefangen, der Rest glich einer Schicht aus
feinem Puderzucker. Jan hob einen morschen Ast auf und begann,
damit zwischen Wurzeln, Ästen, Tannenzapfen und trockenen Nadeln
herumzustochern. Mit jedem Schritt, den er tat, zupften Äste und
Dornen an seiner Kleidung. Er hielt sich links, während Rauh die
rechte Hälfte des Dickichts absuchte. Nach nur wenigen Metern blieb
Rauh plötzlich stehen.
»Hier!«
Jan kämpfte sich zu ihm durch. Die rostige
Bodenluke war im braunen Waldboden kaum zu erkennen.
»Jede Wette, dass das kein Gullydeckel ist«, sagte
Rauh triumphierend.
»Wohl kaum«, stieß Jan hervor. Ein mulmiges Gefühl
beschlich ihn, doch Rauh hockte sich bereits nieder und machte sich
an der Luke zu schaffen.
Jan ging ihm zur Hand. Gemeinsam fassten sie den
flachen Griff und zogen daran. Die Luke war schwer, ließ sich aber
erstaunlich leicht aufklappen.
»Jemand muss sie vor kurzem geschmiert haben.« Jan
fuhr mit dem Finger über das Fett am Scharnier. Es war noch
weich.
»Das heißt, dass dieser Bunker noch genutzt wird«,
schlussfolgerte Rauh. »Für was auch immer.«
Jan schaute in das Loch, in dem eine Metallleiter
in die Dunkelheit führte. »Amstner hat gesagt, dass Alfred oft für
Tage oder Wochen im Wald gewesen ist. Ich denke, er wird sich hier
verkrochen haben.«
Rauh legte die Stirn in Falten und sah Jan von
unten herauf an. »Denken Sie dasselbe wie ich?«
Jan erwiderte seinen Blick und spürte, wie das
mulmige Gefühl stärker wurde. »Wenn mein Vater wirklich zum
Waldparkplatz unterwegs gewesen ist, und der Entführer Sven hier
unten versteckt hat … Und wenn Alfred der Einzige gewesen ist, der
von diesem Bunker wusste …«
»Dann muss er der Entführer gewesen sein«,
vollendete Rauh den Gedanken.
»Aber wieso sollte ein Zwölfjähriger einen kleinen
Jungen entführen?« Irritiert fuhr sich Jan durchs Haar. »Was für
einen Sinn sollte das gehabt haben?«
»Leider werden wir ihn das nicht mehr fragen
können«,
sagte Rauh, der nun ebenfalls in das dunkle Loch starrte.
»Außerdem ist noch nicht erwiesen, dass es wirklich so gewesen ist.
Vielleicht war Ihr Bruder gar nicht hier. Alfred hat zwar
behauptet, ihn hier gehört zu haben, aber das kann eine
Wahnvorstellung gewesen sein. Immerhin wissen wir jetzt, dass er
häufiger die Wahrheit gesagt hat, als wir geglaubt haben, aber er
litt dennoch unter Halluzinationen.«
Noch immer sahen sie in das dunkle Loch hinab. Jans
Magen rebellierte. Ihm war speiübel. Er hatte immer geglaubt, seine
größte Furcht gelte der Ungewissheit. Aber jetzt, wo er die Antwort
auf die Fragen, die er sich seit über zwei Jahrzehnten stellte,
möglicherweise endlich erhalten würde, war seine Furcht größer als
je zuvor.
Vielleicht, weil diese Antwort endgültig war.
Danach gab es kein Hoffen mehr. Wenn er Svens sterbliche Überreste
dort unten fand, konnte er sich nicht mehr einreden, dass sein
Bruder vielleicht doch noch irgendwo am Leben war.
Aber wenigstens weiß ich es dann mit
Sicherheit, sagte der vernunftgesteuerte Teil seines
Verstandes. Bring es hinter dich, ermahnte er sich selbst,
und dann fang endlich ein neues Leben an. Ein neues Leben ohne
Alpträume.
»Was ist?«, meldete sich Rauhs Stimme. »Sollen wir
runtersteigen?«
Jan schreckte aus seinen Gedanken auf. Er sah Rauh
an. »Sie zuerst.«
Rauh zuckte mit den Schultern und zog die Lampe aus
seiner Jackentasche. »Wie Sie wollen.«
Zögerlich trat er an den Rand und leuchtete in die
Öffnung. Die Metallleiter führte etwa zwei bis drei Meter
in die Tiefe. An ihrem Ende war Betonboden zu erkennen.
»Den Mutigen gehört die Welt«, sagte Rauh und fuhr
sich durchs Haar. Dann stieg er vorsichtig die Leiter hinunter.
Unten angekommen, sah er zu Jan hoch. »Ist stabil. Kommen
Sie!«
Jan atmete tief durch, dann kletterte er ebenfalls
in die Öffnung. Mit jeder Sprosse, die er nach unten stieg, nahm
der Geruch nach kaltem Beton und Rost zu.
Als er in dem engen Gang neben Rauh angekommen war
und zwischen den grauen Wänden zur Luke hinaufsah, hatte er den
Eindruck, als sei die Oberwelt für ihn unerreichbar geworden. Hier
im Dunkeln sahen die kahlen Bäume und der bleigraue Himmel
außerhalb der Luke wie Bilder aus einer anderen Welt aus. Es war,
als sehe Jan aus einem Grab heraus, kurz bevor der Totengräber zur
Schaufel griff, um es mit Erde zu füllen.
»Verdammt eng«, sagte Rauh, dem es nicht anders zu
gehen schien. »Wie mag das erst für diese Soldaten gewesen sein?
Wir könnten jederzeit wieder zurück, wenn wir es hier nicht
aushalten. Aber wenn ich mir vorstelle, dass da oben geschossen
wird und Bomben fallen …« Er hielt inne und räusperte sich
nervös.
»Sind Sie klaustrophobisch?«
»Eigentlich nicht.« Rauh machte eine
entschuldigende Geste. »Man entdeckt eben immer wieder neue Seiten
an sich.«
»Sollen wir zurückgehen?«
»Nein, nein.« Rauh winkte ab. »Wird schon gehen.
Außerdem bin ich viel zu neugierig.«
Er ging voran und ließ den Lichtkegel der
Taschenlampe über die grauen Betonwände mit den scharfkantigen
Rillen gleiten. Der Gang war gerade breit genug,
dass zwei Männer nebeneinander gehen konnten. Jan musste an seine
Zeit beim Wehrdienst denken. Dies war ein sogenannter
Splitterschutz, der den Zweck hatte, den eigentlichen Bunkereingang
zu schützen. Selbst wenn man die Luke aufsprengte, war die
eigentliche Eingangstür, die sich etwa sechs Meter weiter befand,
wo der Gang rechtwinklig abbog, vor der Druckwelle der Explosion
geschützt.
»Willkommen in der dunklen Vergangenheit«, murmelte
Rauh und beleuchtete die dicke Stahltür. An der Wand daneben
prangte in schwarzen Frakturlettern der Schriftzug
ACHTUNG!
RAUCHEN UND OFFENES FEUER VERBOTEN!
RAUCHEN UND OFFENES FEUER VERBOTEN!
Darunter war der Reichsadler mit dem Hakenkreuz zu
erkennen. Die Tür hatte weder eine Klinke noch sonst einen
Öffnungsmechanismus. Sie war nicht mehr als eine glatte
Stahlplatte, auf der sich im Lauf der Jahrzehnte eine gleichmäßige
Rostschicht gebildet hatte. Auf der linken Seite erkannte Jan die
Schlaufe eines ausgefransten Stricks, die zwischen Tür und Rahmen
klemmte.
»So muss Alfred sie von außen zubekommen haben«,
sagte er und stemmte sich gegen das Türblatt.
Mit rostigem Kreischen schwang die Tür nach innen
auf. Dahinter lauerte Dunkelheit.
»Hier ist ihm wohl das Schmierfett ausgegangen«,
sagte Rauh und schob sich an Jan vorbei. Er ging mit der Lampe
voran.
Sie betraten einen weiteren Gang, der allerdings um
einiges breiter war. Gleich neben der Eingangstür führte ein kurzer
Gang nach rechts und endete nach wenigen
Schritten in einem kleinen Raum. Der Raum war kaum größer als eine
Besenkammer. Den meisten Platz nahm ein alter Stromgenerator ein.
Der Boden war verdreckt mit Rattenkot, trockenem Laub und fauligen
Papierfetzen. In einer Ecke lagen zwei Flaschen mit verrosteten
Bügelverschlüssen.
»Fahlenberger Schlossquellbier«, las Rauh. »Die
sind uralt. Müssen mittlerweile Sammlerwert haben.«
Jan starrte auf die beiden Flaschen. Das flaue
Gefühl im Magen nahm wieder zu. Er schloss die Augen und musste
sich gegen die Wand lehnen.
Rauh sah ihn besorgt an. »Alles in Ordnung?«
»Ich musste nur gerade an Rudi Marenburg denken.
Ich hoffe, er kommt durch.«
Rauh schwenkte den Lichtstrahl auf die beiden
Flaschen, dann wieder zu Jan. Er räusperte sich. »Hören Sie, Jan,
ich muss Ihnen etwas gestehen.«
»Und das wäre?«
»Ich war gestern Morgen tatsächlich bei Marenburg.
Kurz bevor er angegriffen wurde.«
Jan verengte die Augen zu Schlitzen. »Sie waren bei
ihm? Warum?«
»Marenburg hat immer wieder versucht, die Leute
gegen die Klinik aufzuwiegeln. Er ist der festen Überzeugung, wir
Ärzte seien schuld am Tod seiner Tochter. Wir hätten sie in den
Selbstmord getrieben.« Er sah Jan mit einem Ausdruck des Bedauerns
an. »Ich weiß, Sie beide sind Freunde, aber ich vermute, er wird
Ihnen nicht erzählt haben, dass er sogar zweimal gegen die Klinik
prozessiert hat. Beide Male ohne Erfolg. Aber das schien ihm
gleichgültig gewesen zu sein. Er hatte es schließlich geschafft,
uns vor der Presse in ein schlechtes Licht zu rücken.«
»Und deswegen waren Sie bei ihm?«
»Hauptsächlich wegen Ihrer Bekannten«, sagte Rauh.
»Frau Weller scheint mir wegen des Verlusts ihrer Freundin sehr
labil zu sein, und ich hatte den Eindruck, Marenburg hat sich das
zunutze gemacht und ihr seine Verschwörungstheorien eingeimpft. Ich
war wütend und wollte ihn deswegen zur Rede stellen. Ich wollte
wissen, ob ihm klar war, was er bei der jungen Frau ausgelöst hat.
Immerhin hat sie sich die Handgelenke aufgeschnitten, nur um bei
uns eingewiesen zu werden. Ein solches Verhalten spricht ja wohl
Bände. Tja, Marenburg jedenfalls hat mir die Tür ziemlich schnell
wieder vor der Nase zugeknallt.« Rauh fuhr sich mit der Hand übers
Gesicht. »Ich wollte nur, dass Sie das wissen, Jan.«
Sekundenlang herrschte Schweigen. Nur das leise
Pfeifen des Windes in der offenen Luke war zu hören.
»Nun gut«, sagte Jan. »Ich wäre nicht hier, wenn
ich Ihnen nicht glauben würde. Sehen wir uns weiter um.«
Rauh lächelte schwach, dann schwenkte er den
Lichtstrahl wieder in den kleinen Raum. Vor dem Generator standen
drei Kanister, und es roch nach Diesel. »Ob das alte Teil noch
funktioniert?«
Jan wiegte den Kopf. »Möglich. Sieht zwar eher so
aus, als würde einem das Ding um die Ohren fliegen, aber ich wüsste
nicht, weshalb man hier sonst Treibstoff lagern sollte. Die
Kanister sind nicht so alt wie der Generator.«
Rauh besah sich den Generator genauer und machte
sich schließlich daran zu schaffen. Jan war erstaunt, wie geschickt
er sich dabei anstellte. Das hätte er diesem Dressman gar nicht
zugetraut.
Kurz darauf setzte sich die Maschine rumpelnd und
ratternd in Bewegung. Gleichzeitig flackerten die hinter
Drahtgeflechten geschützten Glühbirnen auf, die entlang eines
dicken Stromkabels von der Decke hingen.
»Na, wer sagt’s denn«, triumphierte Rauh und
wischte sich die schmutzigen Hände an der zerrissenen Hose ab.
»Irgendwann zahlt sich selbst das Leben als armer Student aus. Wie
viele Nächte habe ich mir mit dem Herumschrauben an meinen alten
Rostmühlen um die Ohren schlagen müssen. Aber irgendwie habe ich
sie immer wieder zum Laufen bekommen. Tja, das waren noch Zeiten.
Keine Ahnung, wie lange wir Licht haben werden, aber ich hoffe, es
reicht für einen schnellen Rundgang.«
Sie verließen den Generatorraum, und Rauh zog die
dicke Schutztür hinter sich zu, die Lärm und Gestank des Gerätes
verschluckte.
Es tat gut, hier unten Licht zu haben. Jan spürte,
wie der klaustrophobische Druck von ihm wich. Das Gefühl, hier
unten lebendig begraben zu sein, ließ nach, wenn auch nicht
völlig.
Der Bunker war deutlich größer als vermutet. Vom
breiten Mittelgang aus gelangte man in fünf Räume. Jeweils zwei zu
beiden Seiten und einer am Gangende. Die ersten beiden Türen links
und rechts führten in ehemalige Quartierräume. In jedem befanden
sich zwei verrostete Hochbettgestelle. Die Matratzen waren
zerschlissen und zerfressen. Mäuse oder Ratten mussten in dem
weichen Füllmaterial genistet haben.
Auf einer dieser Matratzen lag ein fleckiges Kissen
mit einem SpongeBob-Aufdruck und eine alte Wolldecke mit
Indianermuster. Die Wand über dieser Schlafstelle war mit Bildern
nackter Mädchen aus Zeitungen und Pornomagazinen bedeckt. An der
Unterseite des darüber befindlichen Betts war die große
Werbeanzeige
einer Versicherungsgesellschaft in den Gitterrost geschoben
worden. Sie zeigte ein schmuckes Haus auf dem Land, vor dem ein
junges Paar mit zwei freudestrahlenden Kindern dem Betrachter zu
verstehen gab, dass man mit dem Rundum-Sorglos-Paket dieser
Gesellschaft auf der sicheren Seite des Lebens stand.
An diesem Ort erschien Jan das Plakat wie blanker
Hohn. Wie oft hatte Alfred hier wohl gelegen, zu dem Bild der
Idealfamilie emporgesehen und sich vorgestellt, wie es sein musste,
eine Frau, Kinder und ein eigenes Heim zu haben, das kein
verlassener Nazi-Bunker war.
»Traurig, nicht wahr?«
Jan fuhr zusammen. Er hatte nicht gemerkt, dass
Rauh neben ihn getreten war.
»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.
Also, ich habe nebenan nachgesehen. Da sind nur ein weiteres
Mannschaftsquartier und eine Art Aufenthaltsraum. Die Tür am Ende
des Ganges ist verschlossen.«
Erstaunt sah Jan auf den Gang hinaus.
»Verschlossen?«
»Ja, wundert mich auch. Hängt ein dickes
Vorhängeschloss dran. Ziemlich groß und sicherlich noch nicht so
alt wie dieses Loch hier.«
»Warum sollte man hier einen Raum
abschließen?«
»Keine Ahnung.« Rauh zuckte die Schultern. »Im
Mannschaftsraum nebenan liegt zwar altes Werkzeug herum, aber
nichts, womit wir das Schloss aufbekommen könnten.«
Rauh klang nun ganz nach dem Mann der Tat. Er war
wie verändert. Es schien ihn nicht einmal zu stören, dass er seine
teuren Markenkleider nach diesem Ausflug in den Müll werfen musste.
Seine für viel Geld manikürten Hände sahen aus wie die Pranken
eines Handwerkers.
Wenn er Jan hinters Licht hätte führen wollen, hätte er gewiss
alles darangesetzt, die Fassade des Dandys penibel
aufrechtzuerhalten. Und dennoch spürte Jan, dass sich über dieser
Erkenntnis keine Erleichterung einstellen wollte.
»Alles in Ordnung?«, wollte Rauh wissen. »Sie sind
ganz blass.«
»Geht schon«, winkte Jan ab. »Muss wohl die Luft
hier unten sein.«
Rauh nickte. »Äußerst trocken. Dabei hätte ich hier
eher Feuchtigkeit erwartet. Selbst das Klo im Mannschaftsraum ist
ausgetrocknet.« Er wies in die Richtung des Raums. »Ich weiß jetzt
übrigens, warum Alfred geglaubt hat, Hitler spreche zu ihm aus dem
Spülkasten.«
»Ach ja?«
»Irgendein Spaßvogel hat das gerahmte Führerbild
über die Kloschüssel gehängt.«
Jan erwiderte Rauhs Grinsen. »Ein guter Ort.«
»Eines ist allerdings seltsam. Dieses Schloss da
vorn an der Tür … Da muss zuvor ein anderes gehangen haben. Sieht
so aus, als hätte man es aufgestemmt und später durch ein neues
ersetzt.«
Ein Knall ließ sie zusammenfahren. Erschrocken
sahen sie auf den Gang.
»Was war das?«, flüsterte Rauh.
»Ein Schuss?«
»Hörte sich ganz so an.« Rauh zog seine
Taschenlampe aus der Jacke, wog sie in der Hand, als wollte er ihre
Schlagkraft überprüfen, trat vorsichtig zur Tür und spähte
hinaus.
»Und?«, flüsterte Jan und schalt sich insgeheim
einen Narren, weil es keinen Grund mehr gab, zu flüstern. Wer
immer sich auch nebenan befand, musste sie längst gehört
haben.
»Nichts.« Rauh schüttelte den Kopf, ohne den Blick
vom Gang abzuwenden. Dann ging er hinaus.
Jan folgte ihm. Die Tür des Nebenraums stand nur
einen Spaltbreit offen. Jan und Rauh positionierten sich zu beiden
Seiten und wechselten einen zweifelnden Blick. Falls dies wirklich
ein Schuss gewesen war, hatten sie dem Gegner nicht mehr als eine
Taschenlampe entgegenzusetzen.
»Kommen Sie heraus!«, rief Jan.
Rauh fasste die erhobene Lampe noch fester.
Stille.
»Kommen Sie, wir wissen, dass Sie da drin
sind.«
Nichts.
Wieder sahen sich die beiden an. Rauh deutete auf
die Türklinke. Jan nickte.
Im selben Moment begann das Licht auf dem Gang zu
flackern. Jan schickte ein Stoßgebet an den Generator, er möge noch
ein wenig durchhalten. Wenigstens so lange, bis sie wussten, wer
außer ihnen noch hier unten war.
Sein Gebet schien erhört zu werden. Das Flackern
ließ nach. Jan packte den Griff und riss die Tür auf.
Da war nur der dunkle Raum, sonst nichts. Rauh
knipste die Taschenlampe an und suchte damit das Innere ab. Dann
fing er an zu lachen. Jan trat neben ihn, und als er sah, was Rauh
so belustigte, musste auch er lachen.
Rauh schüttelte den Kopf und grinste. »Da platzt
eine alte Glühbirne, und wir machen uns vor Angst fast in die
Hosen.«
»Psychiater sind einfach keine Helden.«
»Nein, nicht so wirklich«, sagte Rauh und leuchtete
den Raum ab.
»Ich glaube es ja nicht«, staunte Jan und ging zu
den Stapeln mit Konservendosen, die alle drei Wände des Raumes
verdeckten. »Hier hatte Wagner also seinen Vorrat.«
»Das müssen Tausende sein«, sagte Rauh. Er nahm
eine der Dosen vom Stapel und beleuchtete den Deckel, auf dem das
Mindesthaltbarkeitsdatum aufgedruckt war. »März 1989. Nicht gerade
frisch, was?«
Jan ging zurück auf den Gang und beobachtete den
staunenden Rauh, der inmitten des Lagerraums stand und sich umsah
wie ein Inventurhelfer in einem mittelgroßen Supermarkt.
»Alles fein säuberlich gestapelt«, sagte Rauh und
leuchtete die Dosenwand ab. »Jedes Etikett zeigt nach vorn.«
Jan erkannte ein ganzes Bataillon Büchsenfleisch,
Erbsen und Möhren, unzählige Dosen Wurst, Ravioli und
Linseneintopf, an die zwanzig Suppensorten und jede Menge
eingelegtes Obst.
»Kein Wunder, dass sich Alfred über Tage und Wochen
im Wald aufhalten konnte. Das offizielle Haltbarkeitsdatum ist zwar
längst abgelaufen, aber das muss bei Konserven nichts
heißen.«
»Die halten länger, als man denkt«, pflichtete Rauh
ihm bei. »Meine Mutter hat während des Krieges in der
Lebensmittelausgabe gearbeitet. Fast dreißig Jahre später
entdeckten wir im Keller noch zwei alte Büchsen mit Kommissbrot. Ob
Sie es glauben oder nicht, es sah noch aus wie …«
Mitten im Satz hielt Rauh inne. Er riss die Augen
auf und sah Jan an, als sehe er ein Gespenst. Jan wollte ihn
schon fragen, was mit ihm los sei, als er ein Geräusch hinter sich
hörte. Doch noch bevor Jan reagieren konnte, traf ihn ein heftiger
Schlag auf den Kopf.
Sterne explodierten vor seinen Augen. Er taumelte,
versuchte, seinen Sturz abzufangen, doch er hatte keine Kontrolle
mehr über seinen Körper. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, sah
er verzerrt eine hoch aufragende Gestalt hinter sich. Dann
verschwamm das Bild vor seinen Augen.
Das Letzte, was er sah, waren
Erbsenkonserven.