60
Zu Fuß folgten Jan und Rauh dem Zufahrtsweg, der sich immer tiefer in den Wald wand. Mit Rauhs Wagen wären sie nicht weit gekommen, denn der Weg war von den tiefen Reifenfurchen der Forstfahrzeuge durchzogen und für einen normalen Pkw unpassierbar.
Die beiden Männer hielten sich in der Mitte des Weges, wo der Boden noch am besten begehbar war. Um sie herum waren nur die Wintergeräusche des Waldes zu hören. In weiter Ferne krächzte eine Krähe, hie und da fielen kleine Schneehaufen aus dem Geäst, und gelegentlich hörte man ein Knacken im Unterholz.
»Wird nicht einfach sein, hier etwas zu finden«, sagte Rauh und blieb stehen. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und ließ den Blick umherschweifen.
Jan behielt Rauhs verborgene Hände im Blick. Rauh musste dies bemerkt haben. Er stieß den Atem durch die Nase aus, der in der kalten Waldluft wie Rauch aussah.
»Noch immer misstrauisch?«
»Wären Sie das nicht an meiner Stelle?«
»Sie können mich durchsuchen, wenn Sie sich dann wohler fühlen.« Rauh zog die Hände aus den Taschen und hob sie hoch. »Außer der kopierten Karte, der Taschenlampe, einem Päckchen Pfefferminz und meinen Autoschlüsseln trage ich nichts bei mir.«
Jan winkte ab. »Sehen Sie lieber auf der Karte nach, wie weit wir schon auf Wagners Grund sind.«
Rauh lächelte, dann senkte er die Hände und zog die zusammengefalteten Kopien aus seiner Jackentasche. Dabei fiel ihm ein silberner Gegenstand zu Boden. Es war ein Feuerzeug, das mit der Unterseite im gefrorenen Morast landete.
»Sie haben etwas verloren.«
Rauh bückte sich und hob hastig das Feuerzeug auf. »Oh, danke.«
Er streifte den Schmutz ab.
»Schönes Stück«, sagte Jan.
»Ja.« Rauh steckte das Feuerzeug in seine Jacke zurück. Diesmal in die Innentasche. »Ein Geschenk von meiner Exfrau. Carmen. Wir hätten vorgestern unseren zehnten Hochzeitstag gehabt.«
»Tut mir leid.«
»Ist lange her.« Ohne Jan anzusehen, entfaltete Rauh die Karte und tippte auf eines der eingezeichneten Felder. »Wir sind jetzt in etwa hier.«
»Dann sollten wir noch ein Stück weitergehen«, sagte Jan und besah sich die Karte. »Ungefähr hundert Meter von hier sind Erhöhungen eingezeichnet. Die sollten wir uns genauer ansehen.«
»Also gut«, sagte Rauh und faltete die Karte zusammen. »Dann mal los. Allmählich friere ich hier fest.«
Wenig später gelangten sie an eine Gabelung. Der linke Weg führte zu dem Teil des Grundstücks, den Alfred verkauft hatte, den rechten versperrte eine verrostete Metallschranke. Sie musste einmal rot-weiß gestrichen gewesen sein, doch nun war vor Rost fast nichts mehr von der Farbe erkennbar. Nur das gelbe Plastikschild schien aus jüngerer Zeit zu stammen:
PRIVATGRUNDSTÜCK
ZUFAHRT UND BETRETEN VERBOTEN!
»Ich vermute, das hat Alfred angebracht«, sagte Rauh.
»Anscheinend«, nickte Jan. »Ich denke, ab hier lohnt es sich zu suchen.«
»Da drüben!«
Rauh zeigte zu einer Ansammlung kleiner Hügel, die mit dicken Tannen bewachsen waren.
Jan besah sich die Hügel, die nicht natürlichen Ursprungs zu sein schienen. Dafür waren sie zu gleichmäßig verteilt. Ihm fiel einer seiner ehemaligen Grundschullehrer wieder ein - Herr Haas, der ihn in Heimat- und Sachkunde unterrichtet hatte. Jan konnte sich noch gut an die Geschichten erinnern, die ihnen der Lehrer über die Vorzeit der Fahlenberger Region erzählt hatte.
»Das sind Keltengräber.«
»Hallstattzeit.« Rauh nickte. »Da würde ein weiterer Hügel nicht auffallen.«
»Na, dann los.«
Mehr als eine halbe Stunde suchten sie die Hügel und die nähere Umgebung nach einem möglichen versteckten Eingang ab. Vergeblich. Wie es schien, waren diese Erhebungen wirklich nur Gräber aus einer Zeit von vor fast dreitausend Jahren.
»Ärgerlich«, sagte Rauh, als sie sich wieder trafen. »Ich hätte wetten können, dass sich der Bunker hier befindet.«
Er rieb sich die Hände. Sein Gesicht mit dem sonst leicht gebräunten Teint regelmäßiger Solariumbesuche war blass vor Kälte. Seine Wangen und die Nasenspitze leuchteten rot wie bei einer Clownsmaske.
Auch Jan war vor Kälte klamm und hatte kaum noch Gefühl in Händen und Füßen. »Viel Auswahl haben wir nicht mehr. Wenn ich die Karte richtig verstehe, macht der Weg in etwa zweihundert Metern eine weitere Biegung und führt dann in das Nachbarstück hinein.«
»Vielleicht gibt es ja doch keinen Bunker«, sagte Rauh und machte eine ratlose Geste.
»Möglich.« Enttäuscht schaute sich Jan nach allen Seiten um. Dann stutzte er. »Warten Sie! Ich glaube, es gibt ihn doch.«
Er ging auf eine dicke Buche zu, die etwa fünfzig Meter von den Hügelgräbern entfernt aufragte. Der Baum musste sehr alt sein. Zwischen zahlreichen Fichten und Tannen stand er da wie ein Riese. An beiden Seiten des Stammes hatten sich dicke, knotige Schwämme gebildet, die im Lauf vieler Jahre von Moos überzogen und verholzt waren. Zwei dieser Wucherungen traten besonders auffällig hervor. Ihre Formen erinnerten Jan an Hände. Hände mit verkrüppelten, bedrohlich gespreizten Fingern.
»Klauenhände.«
»Wie bitte?« Rauh sah ihn verwundert an.
Jan ging um den Baum herum, besah sich von dort den Stamm und nickte.
»Ein Bekannter, Hubert Amstner, hat mir vor kurzem von Alfreds Wahnvorstellungen erzählt«, sagte er zu Rauh, der sich nun ebenfalls zu ihm durch das Unterholz vorarbeitete. Er verzog schmerzvoll das Gesicht, als ihn die Dornen der Büsche durch seine Stoffhose in die Haut stachen.
»Alfred hatte ihm von den Unterirdischen berichtet. Und von der Madonna mit den Klauenhänden. Nun, hier ist sie.«
Jan zeigte auf ein kleines gerahmtes Marienbild, das in die glatte Rinde eingewachsen war. Im Lauf der Jahrzehnte, die das Bild dort schon hing, war es vom Sonnenlicht ausgebleicht und blaustichig geworden, aber man konnte das Antlitz der Gottesmutter noch gut erkennen.
»Dann sind wir also doch richtig«, sagte Rauh und befreite seinen Jackenärmel aus dem Griff eines dornigen Astes. »Das muss noch vom alten Wagner stammen.«
Jan tätschelte den Buchenstamm. »Ja, und man muss auf dieser Seite stehen, um das Bild sehen zu können.«
Mürrisch dreinblickend wischte sich Rauh über seine Hosenbeine. »Freiwillig steigt sicherlich niemand durch dieses Gestrüpp. Dafür braucht man einen guten Grund.«
»Wahrscheinlich denselben Grund, weshalb man diese Sträucher überhaupt hat wuchern lassen. Also sollten wir uns hier mal ein wenig genauer umsehen.«
»Ich sehe schon, ich bin für den Anlass eindeutig falsch gekleidet«, seufzte Rauh.
»Die Wahrheit verlangt ihre Opfer«, entgegnete Jan und schob sich weiter durch die Büsche.
Auf dem Boden lag kaum Schnee. Das meiste davon hatten die Büsche abgefangen, der Rest glich einer Schicht aus feinem Puderzucker. Jan hob einen morschen Ast auf und begann, damit zwischen Wurzeln, Ästen, Tannenzapfen und trockenen Nadeln herumzustochern. Mit jedem Schritt, den er tat, zupften Äste und Dornen an seiner Kleidung. Er hielt sich links, während Rauh die rechte Hälfte des Dickichts absuchte. Nach nur wenigen Metern blieb Rauh plötzlich stehen.
»Hier!«
Jan kämpfte sich zu ihm durch. Die rostige Bodenluke war im braunen Waldboden kaum zu erkennen.
»Jede Wette, dass das kein Gullydeckel ist«, sagte Rauh triumphierend.
»Wohl kaum«, stieß Jan hervor. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, doch Rauh hockte sich bereits nieder und machte sich an der Luke zu schaffen.
Jan ging ihm zur Hand. Gemeinsam fassten sie den flachen Griff und zogen daran. Die Luke war schwer, ließ sich aber erstaunlich leicht aufklappen.
»Jemand muss sie vor kurzem geschmiert haben.« Jan fuhr mit dem Finger über das Fett am Scharnier. Es war noch weich.
»Das heißt, dass dieser Bunker noch genutzt wird«, schlussfolgerte Rauh. »Für was auch immer.«
Jan schaute in das Loch, in dem eine Metallleiter in die Dunkelheit führte. »Amstner hat gesagt, dass Alfred oft für Tage oder Wochen im Wald gewesen ist. Ich denke, er wird sich hier verkrochen haben.«
Rauh legte die Stirn in Falten und sah Jan von unten herauf an. »Denken Sie dasselbe wie ich?«
Jan erwiderte seinen Blick und spürte, wie das mulmige Gefühl stärker wurde. »Wenn mein Vater wirklich zum Waldparkplatz unterwegs gewesen ist, und der Entführer Sven hier unten versteckt hat … Und wenn Alfred der Einzige gewesen ist, der von diesem Bunker wusste …«
»Dann muss er der Entführer gewesen sein«, vollendete Rauh den Gedanken.
»Aber wieso sollte ein Zwölfjähriger einen kleinen Jungen entführen?« Irritiert fuhr sich Jan durchs Haar. »Was für einen Sinn sollte das gehabt haben?«
»Leider werden wir ihn das nicht mehr fragen können«, sagte Rauh, der nun ebenfalls in das dunkle Loch starrte. »Außerdem ist noch nicht erwiesen, dass es wirklich so gewesen ist. Vielleicht war Ihr Bruder gar nicht hier. Alfred hat zwar behauptet, ihn hier gehört zu haben, aber das kann eine Wahnvorstellung gewesen sein. Immerhin wissen wir jetzt, dass er häufiger die Wahrheit gesagt hat, als wir geglaubt haben, aber er litt dennoch unter Halluzinationen.«
Noch immer sahen sie in das dunkle Loch hinab. Jans Magen rebellierte. Ihm war speiübel. Er hatte immer geglaubt, seine größte Furcht gelte der Ungewissheit. Aber jetzt, wo er die Antwort auf die Fragen, die er sich seit über zwei Jahrzehnten stellte, möglicherweise endlich erhalten würde, war seine Furcht größer als je zuvor.
Vielleicht, weil diese Antwort endgültig war. Danach gab es kein Hoffen mehr. Wenn er Svens sterbliche Überreste dort unten fand, konnte er sich nicht mehr einreden, dass sein Bruder vielleicht doch noch irgendwo am Leben war.
Aber wenigstens weiß ich es dann mit Sicherheit, sagte der vernunftgesteuerte Teil seines Verstandes. Bring es hinter dich, ermahnte er sich selbst, und dann fang endlich ein neues Leben an. Ein neues Leben ohne Alpträume.
»Was ist?«, meldete sich Rauhs Stimme. »Sollen wir runtersteigen?«
Jan schreckte aus seinen Gedanken auf. Er sah Rauh an. »Sie zuerst.«
Rauh zuckte mit den Schultern und zog die Lampe aus seiner Jackentasche. »Wie Sie wollen.«
Zögerlich trat er an den Rand und leuchtete in die Öffnung. Die Metallleiter führte etwa zwei bis drei Meter in die Tiefe. An ihrem Ende war Betonboden zu erkennen.
»Den Mutigen gehört die Welt«, sagte Rauh und fuhr sich durchs Haar. Dann stieg er vorsichtig die Leiter hinunter. Unten angekommen, sah er zu Jan hoch. »Ist stabil. Kommen Sie!«
Jan atmete tief durch, dann kletterte er ebenfalls in die Öffnung. Mit jeder Sprosse, die er nach unten stieg, nahm der Geruch nach kaltem Beton und Rost zu.
Als er in dem engen Gang neben Rauh angekommen war und zwischen den grauen Wänden zur Luke hinaufsah, hatte er den Eindruck, als sei die Oberwelt für ihn unerreichbar geworden. Hier im Dunkeln sahen die kahlen Bäume und der bleigraue Himmel außerhalb der Luke wie Bilder aus einer anderen Welt aus. Es war, als sehe Jan aus einem Grab heraus, kurz bevor der Totengräber zur Schaufel griff, um es mit Erde zu füllen.
»Verdammt eng«, sagte Rauh, dem es nicht anders zu gehen schien. »Wie mag das erst für diese Soldaten gewesen sein? Wir könnten jederzeit wieder zurück, wenn wir es hier nicht aushalten. Aber wenn ich mir vorstelle, dass da oben geschossen wird und Bomben fallen …« Er hielt inne und räusperte sich nervös.
»Sind Sie klaustrophobisch?«
»Eigentlich nicht.« Rauh machte eine entschuldigende Geste. »Man entdeckt eben immer wieder neue Seiten an sich.«
»Sollen wir zurückgehen?«
»Nein, nein.« Rauh winkte ab. »Wird schon gehen. Außerdem bin ich viel zu neugierig.«
Er ging voran und ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die grauen Betonwände mit den scharfkantigen Rillen gleiten. Der Gang war gerade breit genug, dass zwei Männer nebeneinander gehen konnten. Jan musste an seine Zeit beim Wehrdienst denken. Dies war ein sogenannter Splitterschutz, der den Zweck hatte, den eigentlichen Bunkereingang zu schützen. Selbst wenn man die Luke aufsprengte, war die eigentliche Eingangstür, die sich etwa sechs Meter weiter befand, wo der Gang rechtwinklig abbog, vor der Druckwelle der Explosion geschützt.
»Willkommen in der dunklen Vergangenheit«, murmelte Rauh und beleuchtete die dicke Stahltür. An der Wand daneben prangte in schwarzen Frakturlettern der Schriftzug
ACHTUNG!
RAUCHEN UND OFFENES FEUER VERBOTEN!
Darunter war der Reichsadler mit dem Hakenkreuz zu erkennen. Die Tür hatte weder eine Klinke noch sonst einen Öffnungsmechanismus. Sie war nicht mehr als eine glatte Stahlplatte, auf der sich im Lauf der Jahrzehnte eine gleichmäßige Rostschicht gebildet hatte. Auf der linken Seite erkannte Jan die Schlaufe eines ausgefransten Stricks, die zwischen Tür und Rahmen klemmte.
»So muss Alfred sie von außen zubekommen haben«, sagte er und stemmte sich gegen das Türblatt.
Mit rostigem Kreischen schwang die Tür nach innen auf. Dahinter lauerte Dunkelheit.
»Hier ist ihm wohl das Schmierfett ausgegangen«, sagte Rauh und schob sich an Jan vorbei. Er ging mit der Lampe voran.
Sie betraten einen weiteren Gang, der allerdings um einiges breiter war. Gleich neben der Eingangstür führte ein kurzer Gang nach rechts und endete nach wenigen Schritten in einem kleinen Raum. Der Raum war kaum größer als eine Besenkammer. Den meisten Platz nahm ein alter Stromgenerator ein. Der Boden war verdreckt mit Rattenkot, trockenem Laub und fauligen Papierfetzen. In einer Ecke lagen zwei Flaschen mit verrosteten Bügelverschlüssen.
»Fahlenberger Schlossquellbier«, las Rauh. »Die sind uralt. Müssen mittlerweile Sammlerwert haben.«
Jan starrte auf die beiden Flaschen. Das flaue Gefühl im Magen nahm wieder zu. Er schloss die Augen und musste sich gegen die Wand lehnen.
Rauh sah ihn besorgt an. »Alles in Ordnung?«
»Ich musste nur gerade an Rudi Marenburg denken. Ich hoffe, er kommt durch.«
Rauh schwenkte den Lichtstrahl auf die beiden Flaschen, dann wieder zu Jan. Er räusperte sich. »Hören Sie, Jan, ich muss Ihnen etwas gestehen.«
»Und das wäre?«
»Ich war gestern Morgen tatsächlich bei Marenburg. Kurz bevor er angegriffen wurde.«
Jan verengte die Augen zu Schlitzen. »Sie waren bei ihm? Warum?«
»Marenburg hat immer wieder versucht, die Leute gegen die Klinik aufzuwiegeln. Er ist der festen Überzeugung, wir Ärzte seien schuld am Tod seiner Tochter. Wir hätten sie in den Selbstmord getrieben.« Er sah Jan mit einem Ausdruck des Bedauerns an. »Ich weiß, Sie beide sind Freunde, aber ich vermute, er wird Ihnen nicht erzählt haben, dass er sogar zweimal gegen die Klinik prozessiert hat. Beide Male ohne Erfolg. Aber das schien ihm gleichgültig gewesen zu sein. Er hatte es schließlich geschafft, uns vor der Presse in ein schlechtes Licht zu rücken.«
»Und deswegen waren Sie bei ihm?«
»Hauptsächlich wegen Ihrer Bekannten«, sagte Rauh. »Frau Weller scheint mir wegen des Verlusts ihrer Freundin sehr labil zu sein, und ich hatte den Eindruck, Marenburg hat sich das zunutze gemacht und ihr seine Verschwörungstheorien eingeimpft. Ich war wütend und wollte ihn deswegen zur Rede stellen. Ich wollte wissen, ob ihm klar war, was er bei der jungen Frau ausgelöst hat. Immerhin hat sie sich die Handgelenke aufgeschnitten, nur um bei uns eingewiesen zu werden. Ein solches Verhalten spricht ja wohl Bände. Tja, Marenburg jedenfalls hat mir die Tür ziemlich schnell wieder vor der Nase zugeknallt.« Rauh fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich wollte nur, dass Sie das wissen, Jan.«
Sekundenlang herrschte Schweigen. Nur das leise Pfeifen des Windes in der offenen Luke war zu hören.
»Nun gut«, sagte Jan. »Ich wäre nicht hier, wenn ich Ihnen nicht glauben würde. Sehen wir uns weiter um.«
Rauh lächelte schwach, dann schwenkte er den Lichtstrahl wieder in den kleinen Raum. Vor dem Generator standen drei Kanister, und es roch nach Diesel. »Ob das alte Teil noch funktioniert?«
Jan wiegte den Kopf. »Möglich. Sieht zwar eher so aus, als würde einem das Ding um die Ohren fliegen, aber ich wüsste nicht, weshalb man hier sonst Treibstoff lagern sollte. Die Kanister sind nicht so alt wie der Generator.«
Rauh besah sich den Generator genauer und machte sich schließlich daran zu schaffen. Jan war erstaunt, wie geschickt er sich dabei anstellte. Das hätte er diesem Dressman gar nicht zugetraut.
Kurz darauf setzte sich die Maschine rumpelnd und ratternd in Bewegung. Gleichzeitig flackerten die hinter Drahtgeflechten geschützten Glühbirnen auf, die entlang eines dicken Stromkabels von der Decke hingen.
»Na, wer sagt’s denn«, triumphierte Rauh und wischte sich die schmutzigen Hände an der zerrissenen Hose ab. »Irgendwann zahlt sich selbst das Leben als armer Student aus. Wie viele Nächte habe ich mir mit dem Herumschrauben an meinen alten Rostmühlen um die Ohren schlagen müssen. Aber irgendwie habe ich sie immer wieder zum Laufen bekommen. Tja, das waren noch Zeiten. Keine Ahnung, wie lange wir Licht haben werden, aber ich hoffe, es reicht für einen schnellen Rundgang.«
Sie verließen den Generatorraum, und Rauh zog die dicke Schutztür hinter sich zu, die Lärm und Gestank des Gerätes verschluckte.
Es tat gut, hier unten Licht zu haben. Jan spürte, wie der klaustrophobische Druck von ihm wich. Das Gefühl, hier unten lebendig begraben zu sein, ließ nach, wenn auch nicht völlig.
Der Bunker war deutlich größer als vermutet. Vom breiten Mittelgang aus gelangte man in fünf Räume. Jeweils zwei zu beiden Seiten und einer am Gangende. Die ersten beiden Türen links und rechts führten in ehemalige Quartierräume. In jedem befanden sich zwei verrostete Hochbettgestelle. Die Matratzen waren zerschlissen und zerfressen. Mäuse oder Ratten mussten in dem weichen Füllmaterial genistet haben.
Auf einer dieser Matratzen lag ein fleckiges Kissen mit einem SpongeBob-Aufdruck und eine alte Wolldecke mit Indianermuster. Die Wand über dieser Schlafstelle war mit Bildern nackter Mädchen aus Zeitungen und Pornomagazinen bedeckt. An der Unterseite des darüber befindlichen Betts war die große Werbeanzeige einer Versicherungsgesellschaft in den Gitterrost geschoben worden. Sie zeigte ein schmuckes Haus auf dem Land, vor dem ein junges Paar mit zwei freudestrahlenden Kindern dem Betrachter zu verstehen gab, dass man mit dem Rundum-Sorglos-Paket dieser Gesellschaft auf der sicheren Seite des Lebens stand.
An diesem Ort erschien Jan das Plakat wie blanker Hohn. Wie oft hatte Alfred hier wohl gelegen, zu dem Bild der Idealfamilie emporgesehen und sich vorgestellt, wie es sein musste, eine Frau, Kinder und ein eigenes Heim zu haben, das kein verlassener Nazi-Bunker war.
»Traurig, nicht wahr?«
Jan fuhr zusammen. Er hatte nicht gemerkt, dass Rauh neben ihn getreten war.
»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Also, ich habe nebenan nachgesehen. Da sind nur ein weiteres Mannschaftsquartier und eine Art Aufenthaltsraum. Die Tür am Ende des Ganges ist verschlossen.«
Erstaunt sah Jan auf den Gang hinaus. »Verschlossen?«
»Ja, wundert mich auch. Hängt ein dickes Vorhängeschloss dran. Ziemlich groß und sicherlich noch nicht so alt wie dieses Loch hier.«
»Warum sollte man hier einen Raum abschließen?«
»Keine Ahnung.« Rauh zuckte die Schultern. »Im Mannschaftsraum nebenan liegt zwar altes Werkzeug herum, aber nichts, womit wir das Schloss aufbekommen könnten.«
Rauh klang nun ganz nach dem Mann der Tat. Er war wie verändert. Es schien ihn nicht einmal zu stören, dass er seine teuren Markenkleider nach diesem Ausflug in den Müll werfen musste. Seine für viel Geld manikürten Hände sahen aus wie die Pranken eines Handwerkers. Wenn er Jan hinters Licht hätte führen wollen, hätte er gewiss alles darangesetzt, die Fassade des Dandys penibel aufrechtzuerhalten. Und dennoch spürte Jan, dass sich über dieser Erkenntnis keine Erleichterung einstellen wollte.
»Alles in Ordnung?«, wollte Rauh wissen. »Sie sind ganz blass.«
»Geht schon«, winkte Jan ab. »Muss wohl die Luft hier unten sein.«
Rauh nickte. »Äußerst trocken. Dabei hätte ich hier eher Feuchtigkeit erwartet. Selbst das Klo im Mannschaftsraum ist ausgetrocknet.« Er wies in die Richtung des Raums. »Ich weiß jetzt übrigens, warum Alfred geglaubt hat, Hitler spreche zu ihm aus dem Spülkasten.«
»Ach ja?«
»Irgendein Spaßvogel hat das gerahmte Führerbild über die Kloschüssel gehängt.«
Jan erwiderte Rauhs Grinsen. »Ein guter Ort.«
»Eines ist allerdings seltsam. Dieses Schloss da vorn an der Tür … Da muss zuvor ein anderes gehangen haben. Sieht so aus, als hätte man es aufgestemmt und später durch ein neues ersetzt.«
Ein Knall ließ sie zusammenfahren. Erschrocken sahen sie auf den Gang.
»Was war das?«, flüsterte Rauh.
»Ein Schuss?«
»Hörte sich ganz so an.« Rauh zog seine Taschenlampe aus der Jacke, wog sie in der Hand, als wollte er ihre Schlagkraft überprüfen, trat vorsichtig zur Tür und spähte hinaus.
»Und?«, flüsterte Jan und schalt sich insgeheim einen Narren, weil es keinen Grund mehr gab, zu flüstern. Wer immer sich auch nebenan befand, musste sie längst gehört haben.
»Nichts.« Rauh schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Gang abzuwenden. Dann ging er hinaus.
Jan folgte ihm. Die Tür des Nebenraums stand nur einen Spaltbreit offen. Jan und Rauh positionierten sich zu beiden Seiten und wechselten einen zweifelnden Blick. Falls dies wirklich ein Schuss gewesen war, hatten sie dem Gegner nicht mehr als eine Taschenlampe entgegenzusetzen.
»Kommen Sie heraus!«, rief Jan.
Rauh fasste die erhobene Lampe noch fester.
Stille.
»Kommen Sie, wir wissen, dass Sie da drin sind.«
Nichts.
Wieder sahen sich die beiden an. Rauh deutete auf die Türklinke. Jan nickte.
Im selben Moment begann das Licht auf dem Gang zu flackern. Jan schickte ein Stoßgebet an den Generator, er möge noch ein wenig durchhalten. Wenigstens so lange, bis sie wussten, wer außer ihnen noch hier unten war.
Sein Gebet schien erhört zu werden. Das Flackern ließ nach. Jan packte den Griff und riss die Tür auf.
Da war nur der dunkle Raum, sonst nichts. Rauh knipste die Taschenlampe an und suchte damit das Innere ab. Dann fing er an zu lachen. Jan trat neben ihn, und als er sah, was Rauh so belustigte, musste auch er lachen.
Rauh schüttelte den Kopf und grinste. »Da platzt eine alte Glühbirne, und wir machen uns vor Angst fast in die Hosen.«
»Psychiater sind einfach keine Helden.«
»Nein, nicht so wirklich«, sagte Rauh und leuchtete den Raum ab.
»Ich glaube es ja nicht«, staunte Jan und ging zu den Stapeln mit Konservendosen, die alle drei Wände des Raumes verdeckten. »Hier hatte Wagner also seinen Vorrat.«
»Das müssen Tausende sein«, sagte Rauh. Er nahm eine der Dosen vom Stapel und beleuchtete den Deckel, auf dem das Mindesthaltbarkeitsdatum aufgedruckt war. »März 1989. Nicht gerade frisch, was?«
Jan ging zurück auf den Gang und beobachtete den staunenden Rauh, der inmitten des Lagerraums stand und sich umsah wie ein Inventurhelfer in einem mittelgroßen Supermarkt.
»Alles fein säuberlich gestapelt«, sagte Rauh und leuchtete die Dosenwand ab. »Jedes Etikett zeigt nach vorn.«
Jan erkannte ein ganzes Bataillon Büchsenfleisch, Erbsen und Möhren, unzählige Dosen Wurst, Ravioli und Linseneintopf, an die zwanzig Suppensorten und jede Menge eingelegtes Obst.
»Kein Wunder, dass sich Alfred über Tage und Wochen im Wald aufhalten konnte. Das offizielle Haltbarkeitsdatum ist zwar längst abgelaufen, aber das muss bei Konserven nichts heißen.«
»Die halten länger, als man denkt«, pflichtete Rauh ihm bei. »Meine Mutter hat während des Krieges in der Lebensmittelausgabe gearbeitet. Fast dreißig Jahre später entdeckten wir im Keller noch zwei alte Büchsen mit Kommissbrot. Ob Sie es glauben oder nicht, es sah noch aus wie …«
Mitten im Satz hielt Rauh inne. Er riss die Augen auf und sah Jan an, als sehe er ein Gespenst. Jan wollte ihn schon fragen, was mit ihm los sei, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Doch noch bevor Jan reagieren konnte, traf ihn ein heftiger Schlag auf den Kopf.
Sterne explodierten vor seinen Augen. Er taumelte, versuchte, seinen Sturz abzufangen, doch er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, sah er verzerrt eine hoch aufragende Gestalt hinter sich. Dann verschwamm das Bild vor seinen Augen.
Das Letzte, was er sah, waren Erbsenkonserven.
Kalte Stille - Kalte Stille
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