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Es war das seltsamste Begräbnis, das Hans Auer je erlebt hatte. Seit fast fünfundvierzig Jahren war er nun Totengräber auf dem Fahlenberger Friedhof und hatte schon so einige seltsame Dinge erlebt - bis hin zu einem Toten, der aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung in seinem Sarg zu furzen schien und den Pfarrer bei der Grabrede aus dem Konzept brachte. Doch die Beisetzung von Sven Forstner würde ihm mindestens ebenso in Erinnerung bleiben.
Nicht nur, dass sich in dem Kindersarg kein Leichnam, sondern nur einige Schaufeln Waldboden befanden, auch die vier Trauergäste waren überaus sonderbar. Da war zum Beispiel Hubert Amstner, den Auer jahrelang nicht bei Tageslicht zu Gesicht bekommen hatte. Oder der dicke Kröger, den Auer nur von Fotos aus dem Polizeibericht im Fahlenberger Boten kannte.
Vor allem aber erstaunte ihn der Auftritt von Sven Forstners älterem Bruder Jan und der Frau an seiner Seite. Er ging an Krücken, und beide hatten die Köpfe bandagiert, als seien sie eine Abordnung aus dem Invalidenheim.
Der alte Totengräber schüttelte den Kopf. Wie immer stand er in einigem Abstand zum Grab. An seinen Minibagger gelehnt, rauchte er eine Selbstgedrehte, lauschte mit halbem Ohr den Worten des Pfarrers und wartete auf seinen Einsatz, sobald die Trauernden die Grabstätte verlassen hatten.
Ja, das Leben ist schon eine seltsame Sache, dachte er und blinzelte in den klaren blauen Himmel empor. Jeder Tag brachte etwas Neues. Das Leben war wie dieser herrlich blaue Himmel. Man konnte nie sagen, wann er sich wieder verdunkeln und Schnee herabwerfen würde. Deshalb war man klug beraten, jeden schönen Moment zu genießen, denn schon morgen konnte es dafür zu spät sein. Und wer sollte das schließlich besser wissen als ein Totengräber?
Nachdem der Pfarrer mit dem Ministranten davongegangen war, starrte Jan noch eine Weile in die Grube auf Svens Sarg hinab.
Vielleicht ist seine Asche jetzt da drin, dachte er. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat Fleischer mich angelogen.
Früher hätten ihn diese Gedanken nicht mehr in Ruhe gelassen, aber nun spielten sie keine Rolle mehr. Ganz gleich, ob sich Svens sterbliche Überreste in diesem Sarg befanden oder nicht, es war vorbei.
Jan hob den Kopf und ließ die Stille des Friedhofs auf sich wirken. Selbst der Verkehr auf der nahen Schnellstraße schien für einen Moment verstummt zu sein. Kein Lüftchen regte sich im Geäst der Bäume. Es war eine Stille, die Jan keine Qual bereitete. Stattdessen war sie voller Frieden. Zum ersten Mal.
»Möchtest du noch bleiben?«, fragte Carla leise und berührte ihn an der Hand.
Jan schüttelte den Kopf. Sie wandten sich um und gingen langsam zum Ausgang, wo Hubert Amstner und Polizeihauptmeister Kröger wie ein ungleiches Paar nebeneinanderstanden und ihnen zunickten.
»Soll ich Sie zu Ihrem Hotel bringen?«, fragte Kröger.
»Nein danke«, sagte Jan. »Ich gehe lieber ein Stück zu Fuß.«
Kröger sah auf Jans Krücken, dann zuckte er mit den Schultern. »Wie Sie wollen. Ich melde mich, falls wir noch weitere Angaben benötigen.«
»In Ordnung. Meine Nummer haben Sie ja.«
»Und Sie?« Kröger wandte sich Carla zu. »Zurück in die Klinik?«
»O nein«, entgegnete sie. »Von Krankenhäusern habe ich die Nase voll.«
»Verständlich.« Kröger nickte ihnen noch einmal zu, dann watschelte er gemächlich zu seinem Streifenwagen.
Jan wandte sich Hubert Amstner zu. »Danke, dass Sie gekommen sind.«
»Ehrensache«, entgegnete Amstner. Jan glaubte, einen Ausdruck tiefster Erleichterung in seinen Augen zu erkennen. Auch für ihn schien ein schlimmes Kapitel in seinem Leben ein für alle Mal abgeschlossen zu sein.
»Alles Gute«, sagte Amstner und nickte Carla zu. »Euch beiden.«
Dann ging auch er. Er nahm den Weg quer über den Friedhof und war kurz darauf zwischen den Grabsteinen verschwunden.
»Netter Kerl«, sagte Carla. »Hätte ich nie gedacht.«
Jan nickte. »Da sieht man mal wieder, wie man sich in den Menschen täuschen kann.«
»Na, hoffentlich begreifen das auch die Fahlenberger. Ich würde es ihm wünschen.«
Sie gingen zusammen in Richtung der Bushaltestelle. Carla sah Jan an. »Und was wird jetzt aus Fleischer?«
»Ich schätze, man wird ihn in eine forensische Einrichtung für psychisch kranke Straftäter stecken«, entgegnete Jan. »Da gehört er meiner Meinung nach auch hin.«
»Und du? Wirst du in Fahlenberg bleiben?«
»Ich weiß es noch nicht.« Jan glaubte, ein wenig Wehmut in ihrem Blick zu erkennen. »Jetzt werde ich erst einmal zum Hotel zurückgehen und hundert Jahre schlafen. Danach werde ich Rudi in der Klinik besuchen, und dann sehen wir weiter.«
»Oh«, sagte Carla, »das hätte ich ja fast vergessen. Ich soll dich von ihm grüßen.«
»Von Rudi? Wie geht es ihm?«
»Na ja, es hat ihn schlimm erwischt«, sie zuckte mit den Schultern, »aber er ist ein zäher Knochen. Als ich aus der Klinik los bin, hat er gesagt, du sollst ihm unbedingt Bier mitbringen, sonst würde er noch wahnsinnig.«
Jan schmunzelte. Sein alter Freund befand sich eindeutig auf dem Weg der Besserung. Als sie bei der Bushaltestelle angekommen waren, wandte Carla sich zu ihm um.
»Sag mal … das Hotelzimmer …«
»Ja?«
Sie legte die Stirn in Falten. »Ist das ein Einzelzimmer?«
»Nein, ein Doppelzimmer. Einzelzimmer haben die nicht.«
»Hundert Jahre schlafen, hast du gesagt?«
»Mindestens.«
Carla wiegte den Kopf. »Klingt verlockend. Der Bus hält übrigens direkt am Hotel.«
»Na, dann sollten wir wohl gemeinsam fahren.«
Bevor sie in den Bus stiegen, sah Jan noch einmal in den klaren Winterhimmel hinauf.
Wie friedlich er doch aussah. Tiefblau. Und noch immer erfüllt von dieser wohltuenden Stille.
Kalte Stille - Kalte Stille
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