64
Es war das seltsamste Begräbnis, das Hans Auer je
erlebt hatte. Seit fast fünfundvierzig Jahren war er nun
Totengräber auf dem Fahlenberger Friedhof und hatte schon so einige
seltsame Dinge erlebt - bis hin zu einem Toten, der aufgrund der
fortgeschrittenen Verwesung in seinem Sarg zu furzen schien und den
Pfarrer bei der Grabrede aus dem Konzept brachte. Doch die
Beisetzung von Sven Forstner würde ihm mindestens ebenso in
Erinnerung bleiben.
Nicht nur, dass sich in dem Kindersarg kein
Leichnam, sondern nur einige Schaufeln Waldboden befanden, auch die
vier Trauergäste waren überaus sonderbar. Da war zum Beispiel
Hubert Amstner, den Auer jahrelang
nicht bei Tageslicht zu Gesicht bekommen hatte. Oder der dicke
Kröger, den Auer nur von Fotos aus dem Polizeibericht im
Fahlenberger Boten kannte.
Vor allem aber erstaunte ihn der Auftritt von Sven
Forstners älterem Bruder Jan und der Frau an seiner Seite. Er ging
an Krücken, und beide hatten die Köpfe bandagiert, als seien sie
eine Abordnung aus dem Invalidenheim.
Der alte Totengräber schüttelte den Kopf. Wie immer
stand er in einigem Abstand zum Grab. An seinen Minibagger gelehnt,
rauchte er eine Selbstgedrehte, lauschte mit halbem Ohr den Worten
des Pfarrers und wartete auf seinen Einsatz, sobald die Trauernden
die Grabstätte verlassen hatten.
Ja, das Leben ist schon eine seltsame Sache,
dachte er und blinzelte in den klaren blauen Himmel empor. Jeder
Tag brachte etwas Neues. Das Leben war wie dieser herrlich blaue
Himmel. Man konnte nie sagen, wann er sich wieder verdunkeln und
Schnee herabwerfen würde. Deshalb war man klug beraten, jeden
schönen Moment zu genießen, denn schon morgen konnte es dafür zu
spät sein. Und wer sollte das schließlich besser wissen als ein
Totengräber?
Nachdem der Pfarrer mit dem Ministranten
davongegangen war, starrte Jan noch eine Weile in die Grube auf
Svens Sarg hinab.
Vielleicht ist seine Asche jetzt da drin,
dachte er. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat Fleischer mich
angelogen.
Früher hätten ihn diese Gedanken nicht mehr in Ruhe
gelassen, aber nun spielten sie keine Rolle mehr. Ganz gleich, ob
sich Svens sterbliche Überreste in diesem Sarg befanden oder nicht,
es war vorbei.
Jan hob den Kopf und ließ die Stille des Friedhofs
auf sich wirken. Selbst der Verkehr auf der nahen Schnellstraße
schien für einen Moment verstummt zu sein. Kein Lüftchen regte sich
im Geäst der Bäume. Es war eine Stille, die Jan keine Qual
bereitete. Stattdessen war sie voller Frieden. Zum ersten
Mal.
»Möchtest du noch bleiben?«, fragte Carla leise und
berührte ihn an der Hand.
Jan schüttelte den Kopf. Sie wandten sich um und
gingen langsam zum Ausgang, wo Hubert Amstner und
Polizeihauptmeister Kröger wie ein ungleiches Paar
nebeneinanderstanden und ihnen zunickten.
»Soll ich Sie zu Ihrem Hotel bringen?«, fragte
Kröger.
»Nein danke«, sagte Jan. »Ich gehe lieber ein Stück
zu Fuß.«
Kröger sah auf Jans Krücken, dann zuckte er mit den
Schultern. »Wie Sie wollen. Ich melde mich, falls wir noch weitere
Angaben benötigen.«
»In Ordnung. Meine Nummer haben Sie ja.«
»Und Sie?« Kröger wandte sich Carla zu. »Zurück in
die Klinik?«
»O nein«, entgegnete sie. »Von Krankenhäusern habe
ich die Nase voll.«
»Verständlich.« Kröger nickte ihnen noch einmal zu,
dann watschelte er gemächlich zu seinem Streifenwagen.
Jan wandte sich Hubert Amstner zu. »Danke, dass Sie
gekommen sind.«
»Ehrensache«, entgegnete Amstner. Jan glaubte,
einen Ausdruck tiefster Erleichterung in seinen Augen zu erkennen.
Auch für ihn schien ein schlimmes Kapitel in seinem Leben ein für
alle Mal abgeschlossen zu sein.
»Alles Gute«, sagte Amstner und nickte Carla zu.
»Euch beiden.«
Dann ging auch er. Er nahm den Weg quer über den
Friedhof und war kurz darauf zwischen den Grabsteinen
verschwunden.
»Netter Kerl«, sagte Carla. »Hätte ich nie
gedacht.«
Jan nickte. »Da sieht man mal wieder, wie man sich
in den Menschen täuschen kann.«
»Na, hoffentlich begreifen das auch die
Fahlenberger. Ich würde es ihm wünschen.«
Sie gingen zusammen in Richtung der Bushaltestelle.
Carla sah Jan an. »Und was wird jetzt aus Fleischer?«
»Ich schätze, man wird ihn in eine forensische
Einrichtung für psychisch kranke Straftäter stecken«, entgegnete
Jan. »Da gehört er meiner Meinung nach auch hin.«
»Und du? Wirst du in Fahlenberg bleiben?«
»Ich weiß es noch nicht.« Jan glaubte, ein wenig
Wehmut in ihrem Blick zu erkennen. »Jetzt werde ich erst einmal zum
Hotel zurückgehen und hundert Jahre schlafen. Danach werde ich Rudi
in der Klinik besuchen, und dann sehen wir weiter.«
»Oh«, sagte Carla, »das hätte ich ja fast
vergessen. Ich soll dich von ihm grüßen.«
»Von Rudi? Wie geht es ihm?«
»Na ja, es hat ihn schlimm erwischt«, sie zuckte
mit den Schultern, »aber er ist ein zäher Knochen. Als ich aus der
Klinik los bin, hat er gesagt, du sollst ihm unbedingt Bier
mitbringen, sonst würde er noch wahnsinnig.«
Jan schmunzelte. Sein alter Freund befand sich
eindeutig auf dem Weg der Besserung. Als sie bei der Bushaltestelle
angekommen waren, wandte Carla sich zu ihm um.
»Sag mal … das Hotelzimmer …«
»Ja?«
Sie legte die Stirn in Falten. »Ist das ein
Einzelzimmer?«
»Nein, ein Doppelzimmer. Einzelzimmer haben die
nicht.«
»Hundert Jahre schlafen, hast du gesagt?«
»Mindestens.«
Carla wiegte den Kopf. »Klingt verlockend. Der Bus
hält übrigens direkt am Hotel.«
»Na, dann sollten wir wohl gemeinsam fahren.«
Bevor sie in den Bus stiegen, sah Jan noch einmal
in den klaren Winterhimmel hinauf.
Wie friedlich er doch aussah. Tiefblau. Und noch
immer erfüllt von dieser wohltuenden Stille.