2. KAPITEL
Löwenpfote schob sich durch das hohe
taunasse Gras. Er zitterte, als die Tropfen sein Fell durchnässten,
und blinzelte sich den Schlaf aus den Augen. Wolken hingen dicht
über dem Wald, doch die zunehmende Helligkeit über den Bäumen
zeigte an, wo die Sonne aufgehen würde.
Die Morgenpatrouille war auf dem Weg zur
WindClan-Grenze. Aschenpelz und Beerennase gingen ein Stück voraus
und unterhielten sich so leise, dass Löwenpfote nichts verstehen
konnte. Kurz darauf drehte sich Beerennase zu ihm um. »Bleib nicht
zurück, Löwenpfote«, miaute er laut. »Und nimm dich vor Fuchsfallen
in Acht.«
»Nimm du dich doch in Acht«, murmelte
Löwenpfote. Der cremefarbene Kater war gerade mal drei Tage Krieger
und führte sich bereits wie ein Mentor auf. Er braucht nicht zu
denken, dass ich seine Befehle befolge.
Löwenpfote fiel noch etwas weiter zurück.
Erinnerungen prickelten in seinen Pfoten, als er ein
Brombeerdickicht umrundete und den Eingang zu den unterirdischen
Gängen erkannte. Er sah aus wie ein stillgelegtes Kaninchenloch,
halb versteckt im Farn, aber einst hatte er in eine Höhle geführt
mit einem unterirdischen Bach und weiter bis zum
WindClan-Territorium. Schmerz stach in Löwenpfotes Herz, als er
sich daran erinnerte, wie er sich nachts in die Tunnel gestürzt und
Heidepfote in der Höhle getroffen hatte. Er wünschte, sie könnten
die Zeit zurückholen, als sie Heidestern, die Anführerin des
DunkelClans, gewesen war und er ihr treu ergebener Zweiter
Anführer.
Einen Herzschlag lang zögerte er vor dem Loch,
dann konnte er nicht widerstehen, sich hineinzuzwängen und durch
den Gang zu kriechen, bis er zu dem Erdwall kam, der nach der
Überflutung der Gänge zurückgeblieben war. Er öffnete sein Maul,
doch alles, was er witterte, waren feuchte Erde und Würmer.
»Löwenpfote! Ich weiß, dass du da drin bist!«,
rief Beerennase. »Komm sofort raus!«
Löwenpfote wollte ihn zuerst ignorieren, merkte
dann aber, wie albern das wäre. Schließlich wollte er nicht ewig in
diesem stickigen Loch bleiben. Langsam kroch er zurück, bis er
aufstehen und sich die Erde aus dem Fell schütteln konnte.
Beerennase stand mit gesträubtem Fell vor ihm.
Aschenpelz wartete ein paar Schwanzlängen entfernt, seine blauen
Augen blickten ruhig und undurchschaubar.
»Was hast du dir dabei gedacht, in so einem
gefährlichen Loch herumzuschnuppern?«, wollte Beerennase wissen.
»Stell dir vor, die Decke wäre eingestürzt. Dachtest du, wir würden
dich dann rausbuddeln, so wie beim letzten Mal?«
Löwenpfote wäre einmal fast erstickt, als er
während der Sonnenhochversammlung in einen alten Dachsbau gestürzt
war. Doch das war etwas völlig anderes gewesen. Außerdem hatte
Beerennase damals nicht mitgeholfen, ihn auszugraben.
»Hör auf, mich rumzukommandieren«, blaffte er.
»Du bist nicht mein Mentor!«
»Dann hör du auf, dich wie ein dummes Junges zu
benehmen!«
Löwenpfote grub seine Krallen in die Erde, um
nicht mit der Klaue nach dem arroganten Kater zu schlagen. »Nenn
mich nicht Junges«, knurrte er. »Der Schülerbau riecht immer noch
nach dir und du hast schon …«
»Das reicht«, unterbrach Aschenpelz.
»Beerennase, ich kann mich selbst um meinen Schüler kümmern, danke.
Aber er hat recht, Löwenpfote. Es bringt nichts, die Nase in
sämtliche Löcher von hier bis zum WindClan zu stecken. Es sei denn,
du hast da drin etwas Verdächtiges gewittert.«
»Nein, aber es hätte ja sein können!«,
verteidigte sich Löwenpfote.
Aschenpelz sagte nichts, sondern zuckte nur
ungeduldig mit dem Schwanz. »Lasst uns weitergehen.«
Löwenpfote warf Beerennase einen letzten bösen
Blick zu und tappte hinter seinem Mentor her. Er spürte immer noch
eine schwache Sehnsucht nach Heidepfote, die ihn hinunter in die
Höhlen zog. Aber er wusste, dass er nie wieder dort unten
umherstreifen würde – und das nicht nur, weil nun Erde die
Gänge versperrte.
Er wollte der beste Krieger sein, den der
DonnerClan je hatte. Und da war es unmöglich, gleichzeitig mit
einer Katze aus einem anderen Clan befreundet zu sein.
»Spring so hoch du kannst! Und
los!«
Löwenpfote sprang in die Luft und vollführte
eine Drehung, sodass er bei der Landung vor seiner Gegnerin stand.
Es gelang ihm, Mohnpfotes Hinterläufen einen Schlag zu versetzen,
ehe sie sich zu ihm herumgedreht hatte. Bei einem flüchtigen Blick
zum Rand der Lichtung erblickte er gerade noch den Schatten einer
gestreiften Tigerkatze und das Leuchten bernsteinfarbener
Augen.
Danke, Tigerstern!
Mohnpfote stürzte sich mit einem Sprung auf
ihn. Löwenpfote tauchte dicht am Boden unter ihr hindurch, zog ihr
die Beine weg und stemmte ihr, als sie sich auf den Rücken rollte,
die Vorderpfoten auf den Bauch.
»Gut gemacht, Löwenpfote.« Aschenpelz nickte
ihm anerkennend zu, doch in seinen Augen lag keine Wärme.
Was mache ich denn jetzt wieder falsch?,
fragte sich Löwenpfote. Er hatte Aschenpelz’ Ärger verstanden, als
er noch jede Nacht mit Heidepfote in der Höhle verbracht hatte.
Damals war er tagsüber fast zu müde gewesen, um eine Pfote vor die
andere zu setzen. Aber jetzt trainiere ich fleißig. Ich arbeite
wirklich hart!
»Den letzten Trick habe ich noch nie gesehen.«
Dornenkralle, Mohnpfotes Mentor, tappte zu den beiden Schülern. »Wo
hast du den gelernt?«
»Äh … hab ich mir ausgedacht«, murmelte
Löwenpfote.
Er hatte den Trick während eines
Trainingskampfes mit Habichtfrost von Tigerstern gelernt. Die
beiden schattenhaften Katzen besuchten ihn so oft, dass er ständig
meinte, Stimmen zu hören, die ihn aufforderten, höher zu springen,
härter zuzuschlagen oder schneller auszuweichen. Das viele Training
hatte seine Muskeln härter und stärker gemacht. Und auch ohne dass
es ihm eine andere Katze sagte, wusste er, dass sich seine
Kampffähigkeiten schneller verbessert hatten als die der anderen
Schüler. Manchmal war es nur schwierig zu erklären, woher seine
Fähigkeiten stammten.
»Du kannst mich jetzt wieder loslassen«, miaute
Mohnpfote.
»Oh, tut mir leid.«
Löwenpfote trat zurück und sie sprang auf und
schüttelte sich Mooszweige aus dem Fell. »Bringst du mir das
bei?«
»Klar. Wenn dich eine Katze angreift, musst du
dich tief zu Boden sinken lassen und dabei trotzdem
vorwärtsrennen.«
»So?« Mohnpfote versuchte, die Bewegung
nachzumachen.
»Ja, aber schneller.«
Während die junge schildpattfarbene Katze übte,
schaute Löwenpfote wieder zum Rand der Lichtung. Doch Tigersterns
geisterhafte Gestalt war verschwunden.
Löwenpfote schleifte einen langen
Brombeerzweig durch den Tunnel in den Felsenkessel und zerrte
heftig daran, als er sich in den Dornenranken verhakte. Seine
Pfoten schmerzten vor Müdigkeit. Zuerst die Morgenpatrouille, dann
das Training, und nun hatte ihm Aschenpelz nach einer kurzen Pause
noch den Auftrag gegeben, den Ältestenbau zu reparieren. Und dabei
war noch nicht einmal Sonnenhoch.
Während er den Brombeerzweig über die Lichtung
zog, plumpste hinter ihm etwas Schweres darauf, sodass er jäh
bremsen musste und stolperte. Löwenpfote ließ die Ranke fallen,
drehte sich um und entdeckte Fuchsjunges. Der rot getigerte Kater
hatte mit den Zähnen das andere Ende gepackt und schlug mit den
Pfoten darauf ein. Ein Knurren drang aus seiner Kehle.
»Der SchattenClan greift an!«, kreischte
Eisjunges, die zu ihrem Bruder geflitzt kam und sich ebenfalls auf
den Brombeerzweig stürzte. »Raus aus unserem Lager!«
Weißflug blieb auf ihrem Weg über die Lichtung
entsetzt stehen und sträubte ihr Nackenfell, ehe sie
schwanzschnippend weiterzog. Wolkenschweif steckte den Kopf aus dem
Kriegerbau, die blauen Augen groß vor Schreck. Doch als er die
beiden Jungen erblickte, zuckte er genervt mit den Ohren und
verschwand.
»He, ihr stört die anderen Katzen«, miaute
Löwenpfote. »Und ich brauche diesen Zweig, um den Ältestenbau zu
reparieren.«
»Dürfen wir helfen?«, fragte Eisjunges.
»Ja, wir werden nämlich auch bald Schüler«,
fügte Fuchsjunges hinzu und ließ den Zweig los.
»Gut, aber passt auf, dass ihr euch keine
Dornen in die Pfoten zieht.«
Löwenpfote schleifte die Ranke weiter über die
Lichtung. Die beiden Jungen wollten ihm helfen, liefen ihm aber
ständig zwischen den Pfoten herum und erschwerten ihm nur die
Arbeit.
Als sie sich dem Ältestenbau näherten, schienen
Fuchsjunges und Eisjunges völlig vergessen zu haben, dass sie ihm
eigentlich behilflich sein wollten. Stattdessen rannten sie zu
Mausefell und Langschweif, die sich vor dem Eingang sonnten.
»Erzählt uns eine Geschichte«, verlangte
Fuchsjunges. »Erzählt von der Großen Reise. Erzählt uns, wie die
Zweibeiner …«
»Nein, ich möchte was vom alten Wald hören«,
unterbrach ihn Eisjunges.
Mausefell gähnte. »Erzähl du ihnen was«, miaute
sie Langschweif zu. »Dann sind sie vielleicht ruhig und müde Katzen
können ein bisschen Schlaf finden.« Sie schloss die Augen und legte
sich den Schwanz über die Nase.
Langschweif seufzte und ließ sich dann bequem
nieder, die Pfoten unter die Brust geschoben. Obwohl er sie nicht
sehen konnte, wandte er seinen Kopf den Jungen zu. »Gut, was wollt
ihr hören?«
»Von Tigerstern!« Fuchsjunges’ Fell sträubte
sich vor Aufregung.
»Ja, Tigerstern!«, rief Eisjunges. »Erzähl uns,
wie er versucht hat, die Herrschaft über den Wald zu
erobern.«
Löwenpfote sah, wie Langschweifs Schwanzspitze
zögerlich zuckte. Neugier krallte sich in seinen Bauch, während er
begann, den Brombeerzweig in die Wand einzuflechten, um ein Loch in
den Ästen der Heckenkirsche, die den Bau abschirmten, zu schließen.
Er wollte Tigersterns Geschichte ebenso gerne hören wie die
Jungen.
»Tigerstern war ein großer Krieger«, hob
Langschweif schließlich an. »Er war die stärkste Katze im Wald und
der beste Kämpfer. Als ich jung war, dachte ich, er würde der
nächste Anführer des DonnerClans werden. Ich wollte so sein wie
er«, fügte der hell getigerte Kater verlegen hinzu.
»Aber er war böse!«, platzte Fuchsjunges mit
aufgerissenen Augen heraus.
»Das wussten wir damals nicht«, erklärte
Langschweif. »Er hatte Rotschweif getötet, den Zweiten Anführer des
DonnerClans, aber alle Katzen glaubten, Rotschweif sei im Kampf
gestorben …«
Löwenpfotes Magen zog sich zusammen, als er
dieser Erzählung von Mord und Verschwörung lauschte. Es war
schwierig, weiterhin die Pfoten zu bewegen und die Ranke zu
befestigen und dabei so zu tun, als wäre dies für ihn nur eine
Geschichte wie für die beiden Jungen auch. Immerhin handelte sie
von der Katze, deren Geist ihn im Wald besuchte und ihm beibrachte,
ein Krieger zu sein.
»Tigersterns Ehrgeiz war sein Untergang«,
schloss Langschweif. »Wäre er bereit gewesen, zu warten, bis ihm
die Macht übertragen wurde, wäre er der größte Anführer des Waldes
geworden.«
Löwenpfote entspannte sich. Es gab keinen
Grund, warum er Tigerstern aus dem Weg gehen sollte. Der getigerte
Kater hatte nun keinen Ehrgeiz mehr. Er war tot und konnte keine
Pläne mehr schmieden.
Und er hatte nie vorgeschlagen, dass Löwenpfote
gegen das Gesetz der Krieger verstoßen sollte. Er war sogar wütend
gewesen, als er die Treffen mit Heidepfote in der Höhle entdeckte.
Er wollte nur, dass Löwenpfote ein guter Krieger wurde. Vielleicht
bedauerte Tigerstern, was er getan hatte, und versuchte das
wiedergutzumachen, indem er dem DonnerClan half.
Löwenpfote ließ die Jungen zurück, die
Langschweif mit Fragen plagten, und tappte nachdenklich aus dem
Lager, um noch mehr Ranken zu holen.