6. KAPITEL
Mohnpfote hechtete los. Löwenpfote sah,
dass sie versuchte, einen Trick anzuwenden, den er von Tigerstern
gelernt und ihr bei einem früheren Training gezeigt hatte. Aber als
sie versuchte, Honigpfote die Beine unter dem Körper wegzuziehen,
war diese zu schnell. Sie machte einen Satz zurück, versetzte ihr
zwei Schläge gegen die Nase und sprang davon.
»Du musst schneller sein«, miaute
Beerennase.
Löwenpfote stellte sein Fell auf. Feuerstern
hatte die beiden jungen Krieger von ihren Schülerpflichten erlöst,
aber Beerennase schien nichts Besseres zu tun zu haben, als sich in
das Training einzumischen. Er rekelte sich auf einem Stein am Rand
der Lichtung und gab laute Kommentare über die Leistungen der
Schüler von sich.
»Das war sehr gut«, lobte er Honigpfote
herablassend. »Deine Kampftechnik macht Fortschritte.«
»Danke, Beerennase!« Honigpfote blinzelte den
cremefarbenen Krieger bewundernd an.
Löwenpfote unterdrückte einen Anflug von
Eifersucht. Vor Kurzem noch war es ihm so vorgekommen, als würde
Honigpfote ihn besonders mögen. Es traf ihn hart, ihre Bewunderung
zu verlieren, nachdem er erst kürzlich auch die Freundschaft zu
Heidepfote aufgeben musste.
»Du bist dran, Löwenpfote!«, unterbrach
Beerennase seine Gedanken. »Mal sehen, was du draufhast.«
Wer hat dich denn zu meinem Mentor
ernannt? Löwenpfote suchte die Lichtung nach Aschenpelz ab, der
das Training eigentlich leiten sollte, doch der stand mehrere
Fuchslängen entfernt von ihm und erklärte Distelpfote etwas.
»Komm schon, du fauler Brocken«, drängte
Beerennase. »Wenn du den ganzen Tag träge auf deinem Schwanz
hockst, wirst du nie ein Krieger.«
Nein? Löwenpfote biss die Zähne
zusammen. Wenn ich dich so ansehe, scheinen Krieger auch nichts
anderes zu tun.
»Komm, Rußpfote«, miaute er und winkte die
graue Schülerin, die am Rand der Lichtung saß, mit dem Schwanz
herbei. »Lass uns üben.«
Rußpfote kam mit vor Eifer gesträubtem Fell und
aufgeplustertem Schwanz zu ihm gesprungen. Sie bewegt sich
voller Selbstvertrauen, dachte Löwenpfote, als wäre ihr
verletztes Bein wieder völlig gesund. Beim Näherkommen schlug
sie mit eingezogenen Krallen nach seinem Ohr. Er wich aus und
versuchte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, indem er seinen
Kopf gegen ihre Schulter stieß, aber Rußpfote blieb auf den Beinen,
schlang ihre Vorderpfoten um seinen Hals und riss ihn zu Boden.
Löwenpfote trommelte mit den Hinterbeinen gegen ihren Bauch. Nach
ein paar Herzschlägen ließ Rußpfote los und wartete darauf, dass er
sich wieder erhob.
»Das war großartig«, keuchte er, auch wenn er
wusste, dass er sie am Ende doch besiegt hätte.
Rußpfote glühte vor Stolz darüber, dass ihre
Kampffertigkeiten allmählich zurückkehrten. »Lass es uns noch mal
versuchen!«
»Weißt du, Löwenpfote, du machst das völlig
falsch«, mischte Beerennase sich ein. »Du darfst dich von ihr nicht
zu Boden werfen lassen. Bei einem echten Kampf hätte sie dir die
Kehle durchbeißen können.«
Löwenpfote schoss zu ihm herum und heiße Wut
strömte von den Ohren bis zur Schwanzspitze durch ihn hindurch.
»Ach ja? Hast du das bei deinem Kampf gegen den SchattenClan
herausgefunden?«, höhnte er.
Beerennase sprang mit angelegten Ohren und
gesträubtem Nackenfell von seinem Stein herunter. »Sprich nicht so
mit einem Krieger!«, fauchte er.
»Dann führ du dich nicht dauernd wie ein
Besserwisser auf!«, gab Löwenpfote zurück. »Du bist nicht mein
Mentor, also bleib mir vom Pelz.«
Er hätte zwei Mäuseschwänze dafür gegeben, sich
auf Beerennase stürzen zu können und ihm die Nase zu zerkratzen.
Aber er wusste genau, dass er mächtig Ärger bekäme, wenn er einen
Clan-Gefährten ernsthaft angreifen würde. Er kehrte Beerennase den
Rücken zu und rannte zum Rand der Lichtung, wo er mit bebenden
Flanken stehen blieb und versuchte, die Zorneswellen in seinem
Körper einzudämmen.
»Warte nur, bis ich ein Krieger bin«, schwor er
sich leise. »Dann zeige ich dir, wer der bessere Kämpfer
ist.«
»Reg dich nicht auf, Löwenpfote.« Die gelassene
Stimme war wie ein kühlender Wasserstrahl. Zuerst meinte
Löwenpfote, es müsse Tigerstern sein, und sah sich suchend nach dem
Schatten der Geisterkatze um. Stattdessen erblickte er Sturmpelz,
der sich in einem Flecken Sonnenlicht am Fuß einer Eiche
sonnte.
Verlegen neigte Löwenpfote den Kopf.
»Entschuldige«, miaute er. »Aber ich kann es nicht ertragen, wenn
Beerennase sich aufführt, als sei er der Clan-Anführer.«
Sturmpelz schnurrte mitfühlend.
»Ich weiß, ich sollte mich von ihm nicht nerven
lassen, aber ich kann nicht anders«, gestand Löwenpfote. »Und bei
den anderen Schülern geht es mir manchmal genauso – na ja,
außer bei Distelpfote natürlich. Immer habe ich das Gefühl, ich
müsste der Beste sein.«
Ein Teil von ihm war entsetzt, dass er mit all
dem vor einem älteren Krieger herausgeplatzt war. Warum sollte sich
Sturmpelz für seine Probleme interessieren?
»Und weshalb ist das so?«, fragte der graue
Kater.
»Ich weiß es nicht!« Löwenpfote zögerte,
Gedanken tobten wie ein Sturm durch seinen Kopf, dann fügte er
hinzu: »Ich glaube, eigentlich weiß ich es schon. Es liegt daran,
dass ich mit Feuerstern verwandt bin. Es gab noch nie einen
Anführer wie ihn, und wegen unserer Verwandtschaft erwartet jede
Katze von mir, dass ich genauso gut bin.«
»Und Tigerstern?«, fragte Sturmpelz
sofort.
Löwenpfote grub seine Krallen in die Erde.
Woher konnte Sturmpelz von seinen Treffen mit Tigerstern und
Habichtfrost wissen? »T-Tigerstern?«, stotterte er.
Sturmpelz blinzelte ihn an. »Nun, ich weiß,
welche Probleme dein Vater hatte. Brombeerkralle fürchtete immer,
der Clan würde ihm nicht vertrauen, weil alle Tigerstern so
hassten.«
Daran hatte Löwenpfote noch nie gedacht. Es war
schwer, sich seinen Vater als jungen Kater vorzustellen, der
unsicher war, welchen Platz er in seinem Clan eigentlich
hatte.
»Wie war mein Vater damals?«, fragte er, tappte
zu Sturmpelz hinüber und setzte sich neben ihn in den lauschigen
Sonnenflecken. Das Fell an seiner Schulter legte sich wieder und
der Streit mit Beerennase war fast schon vergessen. »Wie war es,
als ihr zusammen auf die Große Reise gegangen seid?«
»Beängstigend.« In Sturmpelz’ bernsteinfarbenen
Augen leuchteten die Erinnerungen an Furcht und Mut, Spaß und
Freundschaft, alles zugleich. »Ich weiß nicht, was schwieriger
war – durch fremdes, gefährliches Gelände zu wandern oder zu
versuchen, mit Katzen aus anderen Clans auszukommen. Wir hatten uns
alle verändert, als wir zurückkamen.« Er hielt inne, leckte sich
mit der Zunge über die Schulter und fuhr dann fort: »Zuerst
stritten wir die ganze Zeit. Aber meistens war es dein Vater, der
die besten Ideen hatte, und wir merkten ziemlich schnell, dass er
von uns der geborene Anführer war.«
»Erzähl, was alles passiert ist«, drängte
Löwenpfote.
»Vier Katzen, aus jedem Clan eine, hatten einen
Traum, der ihnen befahl, zum Wassernest der Sonne zu gehen«, hob
Sturmpelz an. »Sie sollten sich anhören, was Mitternacht ihnen
sagte. Keinem von uns war klar, dass Mitternacht eine Dächsin
war.«
Löwenpfote nickte. Er und seine Wurfgefährten
waren dem Dachsweibchen nie begegnet, das den Clans geholfen hatte,
ihre neue Heimat zu finden, aber seine Mutter hatte ihnen
Geschichten über sie erzählt.
»Das muss ganz schön hart gewesen sein«, miaute
Löwenpfote und versuchte, sich vorzustellen, wie es war, mit Katzen
aus anderen Clans klarkommen zu müssen. Gut, er war mit Heidepfote
befreundet gewesen, aber angenommen, er hätte sich mit Windpfote
oder mit Kriegern aus dem SchattenClan zusammentun müssen?
»So schlimm war es gar nicht«, erwiderte
Sturmpelz und zuckte belustigt mit seinem Schwanz. »Einmal blieb
deine Mutter in einem Zweibeinerzaun stecken. Sie schäumte vor Wut
und konnte sich nicht bewegen.«
Löwenpfote maunzte laut auf, als er sich
vorstellte, wie Eichhornschweif wutschnaubend in einem Zaun
festsaß. »Hat mein Vater sie gerettet?«
Sturmpelz schüttelte den Kopf. »Nein.
Brombeerkralle wollte den Zaunpfosten ausgraben, und ich überlegte,
ob wir vielleicht das glänzende Zaunzeug durchbeißen könnten. In
der Zwischenzeit machten Bernsteinpelz und Federschweif den Pelz
deiner Mutter mit Ampferblättern geschmeidig und bekamen sie so
frei.«
»Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen«, miaute
Löwenpfote.
»Ich möchte die Erfahrung nicht missen. Auch
wenn wir häufig Angst hatten oder müde waren oder hungrig, so
wussten wir doch alle, dass wir unser Bestes gaben, um unseren
Clans zu helfen.«
»Und mein Vater und du, ihr seid wirklich gute
Freunde geworden.«
Sturmpelz’ Schnurrhaare zuckten. »Am Anfang
waren wir alles andere als befreundet. Ich war eifersüchtig auf
Brombeerkralle.«
»Warum?«, fragte Löwenpfote überrascht.
»Weil ich deine Mutter sehr gern hatte. Aber
selbst ein blindes Kaninchen hätte sehen können, dass sie
Brombeerkralle lieber mochte, auch wenn sie die meiste Zeit
stritten.«
»Du hast Eichhornschweif auch gerngehabt?«
Löwenpfote blinzelte erstaunt. Angenommen, Sturmpelz wäre sein
Vater geworden anstelle von Brombeerkralle? Dann wäre ich jetzt
eine andere Katze …
»Ich hatte noch nie eine Katze wie sie
getroffen«, gab Sturmpelz zu. »So klug und tapfer und entschlossen,
obwohl sie damals erst eine Schülerin war. Aber als wir zu dem
Stamm in den Bergen kamen und ich Bach begegnete, da wusste ich,
dass sie die richtige Katze für mich ist.«
Seine Augen verdunkelten sich und er schwieg.
Löwenpfote begriff nicht, warum er so bedrückt aussah, wo er doch
davon sprach, wie er Bach kennengelernt hatte. »Was ist los?«
Sturmpelz stieß einen langen Seufzer aus.
»Meine Schwester Federschweif war mit uns unterwegs«, erklärte er.
»Sie war eine wunderschöne, warmherzige Katze. Sie starb in den
Bergen.«
Löwenpfote nahm allen Mut zusammen und legte
seinen Schwanz tröstend auf die Schulter des grauen Kriegers. »Was
ist passiert?«
»Der Stamm wurde von einem Berglöwen gejagt.
Eine Prophezeiung besagte, dass eine silberne Katze kommen und sie
retten würde. Zuerst dachten alle, ich sei das, aber es war
Federschweif. Sie starb, um die Stammeskatzen zu retten.« Seine
Stimme bebte. »Ich musste sie dort zurücklassen, in einem Grab in
den Bergen.«
»Das tut mir so leid«, miaute Löwenpfote und
versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Distelpfote
stürbe.
Sturmpelz leckte sich ein paarmal die Brust und
riss dann den Kopf hoch, als würde er eine Fliege verjagen. »Die
Monde ziehen vorüber und das Leben geht weiter.«
»Ich hoffe, du bist nicht böse, weil ich
gefragt habe.«
»Natürlich nicht.« Sturmpelz klang nun wieder
wie sonst. »Du kannst mich alles fragen, was du willst. Und wenn
ich dir helfen kann, dann tu ich das gerne.«
»Danke.« Löwenpfote fühlte sich so gewärmt und
getröstet, als hätte er ein dickes Stück Frischbeute verschlungen.
»Es ist einfacher, mit dir zu sprechen, als mit einer
DonnerClan-Katze – oh, entschuldige.« Er verstummte und
scharrte verlegen mit den Pfoten. »Ich wollte nicht …«
»Schon gut«, miaute Sturmpelz. »Ich weiß, was
du meinst. Es stimmt, ich bin hier nur ein Besucher, auch wenn
meine ganze Loyalität Feuerstern und deinem Vater und den anderen
DonnerClan-Katzen gehört.«
»Wo fühlst du dich eigentlich zu Hause?«,
miaute Löwenpfote neugierig. »Beim FlussClan oder beim Stamm des
eilenden Wassers oder beim DonnerClan?«
Sturmpelz antwortete nicht gleich. Seine Augen
wurden nachdenklich. »Im Herzen bin ich eine FlussClan-Katze«,
erwiderte er schließlich. »Dort bin ich aufgewachsen und dort wurde
ich zum Krieger. Aber das war noch damals im Wald und diese Heimat
gibt es nicht mehr, für keinen von uns. Jetzt gilt meine Treue dem
DonnerClan, weil ihr mich und Bach aufgenommen habt. Und es ist
schön, im gleichen Clan wie Graustreif zu leben und ihn besser
kennenzulernen.«
»Wirst du für immer bei uns bleiben?«
»Ich weiß es nicht. Das hier ist nicht Bachs
Heimat, und wenn sie nicht bleiben möchte, werde ich sie nicht
zwingen.«
»Warum geht ihr nicht zurück in die
Berge?«
Ein düsterer Blick kroch in Sturmpelz’ Augen.
»Das ist nicht so einfach.«
»Ihr könntet doch einen Besuch dort machen«,
schlug Löwenpfote vor.
»Nein, das ist zu weit«, miaute Sturmpelz
hastig, stand auf und schüttelte sich. »Komm, es ist Zeit, dass wir
zurück ins Lager gehen.«
Bei einem Blick über die Schulter sah
Löwenpfote, dass das Training vorüber war. Aschenpelz und die
anderen Schüler waren auf dem Weg zum Felsenkessel. Von Beerennase
war nichts zu sehen.
»Geh du schon mal vor«, sagte Löwenpfote zu
Sturmpelz. »Ich komme gleich nach.«
»Gut.« Sturmpelz sprang davon, um Aschenpelz
und die anderen einzuholen.
»Danke, Sturmpelz!«, rief Löwenpfote ihm
nach.
Sturmpelz schlug als Antwort mit dem Schwanz,
während er in den Büschen verschwand.
Löwenpfote drehte sich um und trottete zwischen
die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung. Er blieb kurz stehen
und vergewisserte sich, dass Sturmpelz wirklich weg war, dann lief
er immer schneller in Richtung WindClan-Grenze. Keuchend blieb er
am Ufer des Baches stehen und schaute über das offene Moor. Die
Sonne ging unter, überzog die Oberfläche des Sees mit einem roten
Licht und warf Löwenpfotes Schatten lang über das Ufer. Löwenpfote
genoss ihre wärmenden Strahlen und die sanfte Brise, die sein Fell
zauste.
Doch die Landschaft vor ihm sah kahl und
abweisend aus. Hier gab es keine Deckung, kein weiches Moos, kein
Unterholz als Schlupfwinkel für Beute. Löwenpfote wusste, dass er
niemals im WindClan leben könnte. Er würde die Bäume zu sehr
vermissen. Er konnte sie jetzt hören, direkt hinter sich, das
Rascheln der Blätter im Wind. Das könnte er niemals aufgeben,
sosehr er Heidepfote auch liebte.
Und sie könnte niemals im DonnerClan leben,
auch das wusste er. Sie fühlte sich unter den Bäumen gefangen, sie
liebte das offene Moor, das harte, federnde Gras und die wilden
Sprints über die Hänge auf der Jagd nach Kaninchen. Sturmpelz
musste Bach wirklich sehr geliebt haben, dass er seine Heimat
aufgegeben hatte und mit ihr in den Bergen geblieben war.
Löwenpfote hob den Kopf und schaute in die
Ferne. Am Horizont konnte er gerade noch einen dunklen, dunstigen
Streifen erkennen – die Berge. Bach hatte sie ihm einmal bei
einer Grenzpatrouille gezeigt. Er fragte sich, ob ihre Pfoten sie
wohl immer wieder dorthinzogen.
Wie sehen die Berge aus?, fragte er
sich. Sein ganzes Leben lang hatte er von der Großen Reise gehört
und den Gegenden, die die Clans durchquert hatten, um ihre neue
Heimat am See zu finden.
Löwenpfote juckte es in den Pfoten, sie zu
erforschen. Er sehnte sich danach, zu entdecken, was jenseits der
DonnerClan-Grenzen lag, jenseits der Grenzen aller Clans. Die Welt
war so groß und er hatte so wenig davon gesehen. Es gab da draußen
so vieles, das jenseits des Gesetzes der Krieger lag und selbst
jenseits dessen, was die Heiler-Katzen und Ältesten wussten.
Als er zurück ins Lager ging, musste er seine
Pfoten fast gewaltsam von der Grenze losreißen. Es ist, als
würden die Berge mich rufen …
Wie könnte er diesem Ruf nur folgen?