13. KAPITEL
Häherpfote zitterte in der
frühmorgendlichen Kälte. Der durchdringende Duft der Reisekräuter
füllte die Luft und überdeckte fast den Geruch von Blattsee, die
neben ihm im Heiler-Bau arbeitete. Er unterdrückte ein Gähnen und
dachte an seine Träume der vergangenen Nacht zurück, die voller
seltsamer Gerüche, zerklüfteter Felsen, fremder Katzen und dem
Kampfgeschrei von Kriegern gewesen waren. Er konnte gar nicht mehr
zählen, wie oft er mit klopfendem Herzen aus dem Schlaf
aufgeschreckt war. Keinen einzigen dieser Träume konnte er
verstehen und so peitschte er ungeduldig mit dem Schwanz. Was
nützt es zu träumen, wenn ich dadurch nichts erfahre?
Leise Geräusche drangen durch den
Brombeervorhang, als die Katzen auf der Lichtung langsam erwachten.
Häherpfote hatte den Felsenkessel noch nie so voll erlebt wie jetzt
mit den Katzen aus dem WindClan und dem SchattenClan und den
Besuchern aus dem Bergen. Zum Glück war die Nacht warm genug
gewesen, sodass einige Katzen im Freien schlafen konnten. Vor allem
die WindClan-Katzen waren daran gewöhnt. Häherpfote fuhr seine
Krallen aus, als er daran dachte, dass ausgerechnet auch Windpfote
mit seinem Vater mitgekommen war.
Ich kann diesen arroganten, räudigen
Jammerlappen nicht ausstehen!
Er würde nie vergessen, wie dämlich Windpfote
sich aufgeführt hatte, als sie unter der Erde eingeschlossen waren.
Kein Wunder, dass die Tunnel nun verschüttet waren und Häherpfote
nicht mehr zu Stein und Fallendes Blatt gelangen konnte. Was sollte
man auch anderes erwarten, nachdem Windpfote weder Vernunft noch
Respekt gezeigt hatte?
»Häherpfote, wovon träumst du?« Blattsees
Stimme unterbrach seine Gedanken. »Du kannst schon mal damit
anfangen, den Katzen ihre Kräuter zu bringen.«
»Willst du das nicht tun?« Häherpfote war
überrascht. Bestimmt bekamen die Stammeskatzen lieber von einer
Heiler-Katze erklärt, was sie da fraßen.
»Nein.« Blattsee klang aufgeregt. »Ich will
diese Kräuter hier noch einmal durchsehen.«
Meine Güte, dachte Häherpfote. Wegen
ein paar Reisekräutern muss man doch nicht so einen Aufwand
betreiben. Aber er hob die erste Portion auf und tappte hinaus
auf die Lichtung.
Der Geruch der Kräuter in seinem Maul
erschwerte es, die richtigen Katzen ausfindig zu machen, aber ein
paar Herzschläge später entdeckte er direkt vor dem Kriegerbau eine
Gruppe von ihnen: Krähenfeder, Windpfote, Eichhornschweif und
Bernsteinpelz.
Häherpfote tappte zu ihnen und ließ die Kräuter
vor Krähenfeder fallen. »Reisekräuter«, miaute er.
»Danke.« Krähenfeder strahlte eine Anspannung
aus, die Häherpfote nicht nachvollziehen konnte. Sie war viel
stärker als die übliche Aufregung vor einer Reise. Wer weiß, was
in den Köpfen dieser eigenartigen WindClan-Katzen vor sich
geht?
Er fuhr fort, die Kräuter zu verteilen. Kurz
darauf erschienen die Stammeskatzen mit Sturmpelz und Bach und
gesellten sich zu den anderen beim Kriegerbau.
»Was ist das?«, erkundigte sich Fang, als
Häherpfote seine Portion vor ihn legte.
»Reisekräuter«, erwiderte Häherpfote. »Sie
geben dir Kraft und vertreiben den Hunger.«
»Bist du sicher?« Häherpfote stellte sich vor,
wie der Höhlenwächter die Kräuter misstrauisch mit der Pfote
berührte. »Von solchen Kräutern habe ich noch nie gehört.«
»Steinsager hat so etwas auch noch nie
erwähnt«, stimmte Nacht ihm zu. Häherpfote hörte, wie sie an dem
kleinen Blätterhaufen schnupperte.
»Beim SternenClan«, blaffte er. »Fresst sie
einfach. Wir wollen euch bestimmt nicht vergiften.«
»Sie sind wirklich gut«, miaute Sturmpelz.
Häherpfote spürte, wie der Schwanz des grauen Kriegers leicht über
seine Schnauze fuhr. »Sie erleichtern euch die Reise.«
»Wenn du meinst …« Fangs Stimme klang
immer noch zweifelnd, aber er leckte die Kräuter auf. »Die
schmecken bitter«, nörgelte er.
Häherpfote unterdrückte ein Seufzen und fuhr
mit seiner Aufgabe fort, bis er allen Katzen außer seinem Vater ein
Kräuterbündel gebracht hatte.
»Wo ist Brombeerkralle?«, fragte er
Eichhornschweif nuschelnd mit den Blättern im Maul.
»Ich glaube, er spricht mit Feuerstern«,
erwiderte Eichhornschweif. »Wenn du willst, bringe ich ihm die
Kräuter.«
»Nein, ich mach das.« Häherpfotes Fell sträubte
sich, während er durch das Lager rannte. Ich kann zur Hochnase
klettern, ohne runterzufallen! Er stieg den Steinwall empor und
achtete darauf, bei jedem Pfotenschritt mit seinem Pelz die
Felswand zu streifen. Oben auf der Hochnase hörte er Feuersterns
Stimme aus dem Innern des Baus.
»Du wirst wenigstens einen Mond lang weg sein,
Brombeerkralle. Wir müssen entscheiden, wer solange Zweiter
Anführer sein soll.«
Häherpfote blieb eng an die Wand gedrückt
stehen, damit ihn die Katzen im Innern nicht entdeckten.
»Graustreif ist die naheliegende Wahl«,
antwortete Brombeerkralle. »Schließlich kennt er die Pflichten
eines Zweiten Anführers schon.«
Häherpfotes Schnurrhaare zuckten. Sein Vater
war nur deshalb Zweiter Anführer geworden, weil alle Katzen
meinten, Graustreif sei tot. Nach der unerwarteten Rückkehr des
grauen Kriegers hatten einige Katzen gedacht, dass Brombeerkralle
zurücktreten würde. Graustreif hatte das abgelehnt; er sagte, er
habe nicht genug Erfahrung mit der neuen Heimat des Clans und
außerdem sei er müde von seiner Reise. Doch das traf jetzt nicht
mehr zu. Was würde geschehen, wenn Brombeerkralle nach Hause
zurückkehrte? Würde Graustreif die Pflichten eines Zweiten
Anführers wieder abtreten? Häherpfote biss die Zähne zusammen.
Kapierte sein Vater denn nicht, dass er damit vielleicht seine
Position innerhalb des Clans aufgab?
»Gut, wenn du damit einverstanden bist.«
Feuerstern klang erleichtert. »Ich werde es ihm sagen.«
Im Innern des Baus entstand Bewegung, als
würden die Katzen sich auf ihre Pfoten erheben. Rasch schnippte
Häherpfote einen losen Stein über den Pfad, damit sie dachten, er
sei gerade erst angekommen. Er trat in den Eingang des Baus und
miaute: »Feuerstern?«
»Komm herein«, antwortete sein Anführer.
»Sind das meine Reisekräuter?«, fragte
Brombeerkralle. »Danke, Häherpfote. Sind die anderen Katzen
bereit?«
»Fast«, antwortete Häherpfote. »Ich gehe
schnell zurück zu Blattsee und frage sie, ob sie noch was für mich
zu tun hat.«
Er senkte kurz den Kopf und zog sich aus dem
Bau zurück. Während er die Felsen hinuntereilte, versuchte er,
Löwenpfote und Distelpfote ausfindig zu machen. Er wollte ihnen
unbedingt erzählen, dass Graustreif Zweiter Anführer wurde, solange
sie noch ungestört reden konnten. Doch als er den Boden des
Felsenkessels erreichte, liefen seine Wurfgefährten mit Frischbeute
im Maul an ihm vorbei zum Ältestenbau. Distelpfote rief ihm im
Vorbeigehen »Hallo, Häherpfote« zu, aber sie waren zu beschäftigt,
um stehen zu bleiben.
Enttäuscht ging Häherpfote zum Heiler-Bau.
Blattsee war immer noch dort und fummelte an irgendwelchen Kräutern
herum, obwohl nun sämtliche Reiseportionen verteilt waren.
»Was machst du da?«, wollte er wissen. »Soll
ich ein paar Kräuter mitnehmen?«
»Was?« Blattsee klang überrascht, als hätte sie
seine Rückkehr gar nicht bemerkt. »Oh, nein – das hätte keinen
Sinn. Es wäre zu lästig, sie die ganze Zeit mit herumzutragen, und
außerdem wissen wir nicht, was benötigt wird.«
»Aber ich habe keine Ahnung, welche Kräuter in
den Bergen wachsen«, widersprach Häherpfote.
Blattsee scharrte mit einer Pfote am Boden.
Obwohl sie versuchte, es zu verbergen, spürte Häherpfote, dass sie
aus irgendeinem Grund sehr nervös war. »Den größten Teil des Weges
verbringst du sowieso nicht in den Bergen«, erklärte sie ihm. »Und
wenn ihr beim Stamm seid, kann Steinsager dir die Bergkräuter
zeigen. Du wirst viel von ihm lernen.«
Hoffentlich – und nicht nur über
Kräuter.
»Nun mach schon, Häherpfote, steh nicht einfach
so rum. Friss deine Kräuter.« Häherpfote spürte die Pfote seiner
Mentorin an seinem Fell, als sie ihm die restlichen Kräuter
zuschob. »Brombeerkralle will sicher bald aufbrechen.«
Häherpfote leckte das Maul voll Kräuter auf.
»Igitt«, murmelte er.
»Sobald ihr unterwegs seid, wirst du froh darum
sein«, miaute Blattsee scharf. »Häherpfote, du kannst dich
glücklich schätzen, dass du an dieser Reise überhaupt teilnehmen
darfst.«
Glücklich, weil ich blind bin und deshalb
eigentlich hierbleiben müsste?, dachte Häherpfote rebellisch.
Aber er sagte nichts, sondern schluckte das letzte bittere Blatt
hinunter.
»Du wirst die Berge faszinierend finden«, fuhr
Blattsee fort, die nun wieder fast normal klang. »Nutze die
Gelegenheit und lerne so viel wie möglich über sie.«
Genau das habe ich auch vor, sagte sich
Häherpfote, obwohl er den Verdacht hatte, dass er etwas ganz
anderes meinte als seine Mentorin. Oh ja, er würde neue Kräuter
kennenlernen und neue Lebensweisen, aber was er wirklich wissen
wollte, war etwas anderes: wie es dazu gekommen war, dass der Stamm
sich in den Bergen niedergelassen hatte, und wie sie mit Stein
verbunden waren und den Katzen, die früher einmal hier gelebt und
ihre Pfotenabdrücke um den Mondsee herum zurückgelassen hatten.
Aber er hütete sich, Blattsee das zu sagen.
»Häherpfote?« Brombeerkralles Stimme erklang
von der Lichtung. »Bist du bereit?«
»Ich komme!«, rief Häherpfote zurück. Er
flitzte zum Brombeervorhang und drehte sich dort noch einmal zu
Blattsee um: »Kommst du nicht zum Verabschieden?«
Blattsee stieß einen langen Seufzer aus,
Spannung flackerte um sie wie ein Sturm in der Blattfrische.
»Ich – ich habe mich schon verabschiedet«, murmelte sie.
»Also, dann auf Wiedersehen.« Häherpfote
wusste, dass er gehen sollte, aber etwas hielt seine Pfoten zurück.
Zwar ging ihm Blattsee furchtbar auf die Nerven, wenn sie ihn immer
so bemutterte, aber nun tat sie ihm leid, auch wenn er nicht
verstand, warum sie so unglücklich war. Er eilte zu ihr und grub
seine Nase in das Fell ihrer Schulter. »Leb wohl. Ich werde eine
Menge zu erzählen haben, wenn ich zurückkomme.«
»Auf Wiedersehen, Häherpfote.« Blattsees Stimme
zitterte. Ihre Zunge strich ihm über das Ohr. »Pass auf dich
auf.«
»Häherpfote!« Erneut ertönte Brombeerkralles
Stimme auf der Lichtung.
»Ich muss los«, miaute Häherpfote und rannte
durch den Brombeervorhang, erleichtert, Blattsee und ihrer
merkwürdigen Stimmung zu entkommen. Auf der Lichtung roch er
Eichhornschweifs Geruch und spürte, wie ihr Pelz ihn streifte, als
sie in den Heiler-Bau trat, um mit ihrer Schwester zu
sprechen.
Hoffentlich weiß sie, was hier los ist, denn
ich habe keine Ahnung, dachte Häherpfote.
Die Katzen, die aufbrachen, hatten sich in der
Mitte des Felsenkessels versammelt. Häherpfote entdeckte
Distelpfote und Löwenpfote und rannte zu ihnen.
»Wo warst du denn?«, fragte Distelpfote. »Wir
warten schon.«
»Jetzt bin ich ja da«, gab Häherpfote zurück.
»Und ich kann euch was erzählen.«
Die kühle Morgenluft war verschwunden, nachdem
die Sonne aufgegangen war. Häherpfote spürte ihre Strahlen durch
die Bäume auf seinen Pelz fallen. Der Morgen war perfekt zum
Reisen.
Er hörte es beim Kriegerbau rascheln, als
einige seiner Clan-Gefährten auftauchten, um die Reisenden zu
verabschieden. Vom Schülerbau drang eiliges Pfotengetrappel
herüber, und Häherpfote hörte Eispfote miauten: »Das ist ungerecht!
Ich will auch mit!«
»Vielleicht bist du ein anderes Mal dabei«,
sagte Weißflug freundlich zu ihr.
Neben Häherpfotes Ohr gähnte eine Katze
ausgiebig und Wolkenschweifs Geruch strömte über ihn hinweg. »Warum
geht ihr nicht endlich los?«, murmelte er. »Dann könnten andere
Katzen noch etwas schlafen.«
»Vergiss es!« Borkenpelz’ Stimme neben ihnen
klang scharf. »Du kommst mit mir und Sandsturm auf
Morgenpatrouille.«
»Mäusedung!«, murmelte Wolkenschweif.
Häherpfote witterte Feuersterns Geruch und
hörte seine Pfotenschritte sich der Reiseschar nähern. Graustreif
folgte direkt hinter ihm. Häherpfote konnte den grauen Krieger vor
sich sehen, dicht neben der Schulter seines Anführers und mit einem
Leuchten in den bernsteinfarbenen Augen.
Als wäre er schon Zweiter
Anführer!
»Lebt wohl, ihr alle«, miaute Feuerstern. »Möge
der SternenClan euren Pfad beleuchten – und möget ihr alle
gesund nach Hause zurückkehren.«
Eine plötzliche Nervosität stieg von der
Reisegruppe auf, als würden sich die Clan-Krieger und Stammeskatzen
anschauen und für die ersten Pfotenschritte ihrer Reise allen Mut
zusammennehmen. Eichhornschweif war zurückgekehrt und schlüpfte
neben Brombeerkralle.
»Bereit?«, fragte Brombeerkralle.
»Ja, wir sind bereit«, erwiderte
Sturmpelz.
Häherpfote stand ganz still da und nahm
sämtliche Gerüche und Geräusche des Felsenkessels in sich auf: den
würzigen Kräuterduft aus dem Bau, den er eben erst verlassen hatte,
die milchigen Gerüche der Kinderstube und den staubigen Dunst des
Bodens, die Stimmen seiner Clan-Gefährten und das Rascheln des
Windes in den Bäumen.
Was, wenn ich nie mehr zurückkehre? Der
SternenClan hätte mich dann doch gewarnt, oder? Gehört es nicht zu
seinen Aufgaben, den Katzen ihren Tod anzukündigen?
»Häherpfote!« Distelpfotes Stimme kam vom
Dornentunnel. »Wach auf! Wir gehen.«
Häherpfote fuhr zusammen. Er flitzte über die
Lichtung und folgte seiner Schwester in den Tunnel und hinaus in
den Wald.