29. KAPITEL
Häherpfote lag in der Schlafkuhle, wo
immer noch der Geruch seiner Wurfgefährten hing. Er schlief nicht,
sondern wartete mit gespitzten Ohren auf die ersten Geräusche der
heimkehrenden Krieger. Sein Magen verkrampfte sich vor Sorge. Was,
wenn Distelpfote oder Löwenpfote im Kampf starben? Was würde aus
der Prophezeiung werden, wenn aus drei plötzlich zwei wurden –
oder gar nur einer? Wie könnte er ein Leben ohne seine Geschwister
ertragen?
Das ewige Rauschen des Wasserfalls klang anders
als sonst, hohl und hallend, weil die Höhle fast leer war. Die
beiden Katzenmütter waren mit ihren Würfen in der Kinderstube. Die
Ältesten, Wolke mit Sturm im Bauch und Regen der auf Steine
prasselt, hatten sich in ihre Schlafplätze auf der anderen Seite
der Höhle zurückgezogen. Flügelschatten über Wasser, die
Beutejägerin, die beim Kampf um den Adler böse verletzt worden war,
schlief in der Nähe. Alle anderen Katzen waren weg, um zu kämpfen,
denn es war unnötig, Wächter zum Schutz in der Höhle
zurückzulassen, wenn alle Eindringlinge in den Kampf verwickelt
sein würden.
Schließlich hielt Häherpfote es nicht mehr aus,
nur herumzuliegen. Er stand auf und tappte durch die Höhle.
Unterwegs leckte er ein paar eiskalte Tropfen auf, die von den
Felsen in den Teich mit dem frischen Wasser sickerten. Dann schlich
er durch den Durchgang zu der Höhle der spitzen Steine.
Dort war alles still. Häherpfote spürte die
schwache Bewegung des Windes an seinem Gesicht und sog den
frischen, starken Geruch des Stammesführers in sich ein.
»Steinsager?«, miaute er.
»Ich bin hier, Häherpfote.« Die Stimme der
alten Katze kam vom anderen Ende der Höhle; sie klang traurig und
niedergeschlagen. »Was willst du?«
»Hast du etwas vom Stamm der ewigen Jagd
gehört?«, fragte Häherpfote.
»Nein. Ich habe in die Pfütze geschaut und
nichts gesehen, nur Mondlicht auf Wasser.«
Ein stechender Schmerz bohrte sich scharf wie
ein Dorn in Häherpfotes Bauch. Er wusste, dass Steinsager seine
Katzen über den Stamm der ewigen Jagd belogen hatte. Dann hatte er
sie dazu bringen wollen, sich für die Flucht zu entscheiden, um
Brombeerkralle und den Clan-Katzen zu beweisen, wie wenig Einfluss
sie hatten. Aber sein Plan war fehlgeschlagen. Der Stamm hatte den
Kampf gewählt und ihn hier zurückgelassen mit dem Wissen, dass sie,
wenn sie überlebten, ohne die Hilfe ihrer Vorfahren sein würden.
Steinsagers Schmerz strömte wie ein Fluss durch die Höhle, und
Häherpfote konnte nicht anders, als ihn zu bemitleiden.
»Es tut mir leid«, miaute er.
»Vielleicht haben sie den Glauben an uns
verloren«, erwiderte Steinsager mit ausdrucksloser Stimme.
»Das ist es bestimmt nicht, da bin ich mir
sicher.« Häherpfote dachte an den Teich zwischen den steilen
Felsen, wo er dem Stamm der ewigen Jagd gegenübergestanden hatte.
Immer wieder hatte er über diesen Traum nachgedacht und meinte nun
zu verstehen, was er bedeutete. Aber welchen Nutzen ihm dieses
Wissen brachte, dessen war er sich nicht sicher.
»Häherpfote«, erklang eine krächzende Stimme
hinter ihm.
Häherpfote fuhr herum. Jedes Haar in seinem
Pelz stellte sich auf, als er den schlaffen, haarlosen Körper und
die blinden Augen von Stein erblickte. Aber ich schlafe doch gar
nicht! Die alte Katze leuchtete, als stünde sie im Mondlicht,
obwohl es um sie herum völlig dunkel war. Sie schien im Schatten zu
schweben.
Mit pochendem Herzen streckte Häherpfote all
seine Sinne nach Steinsager aus, aber der Geruch des alten Katers
änderte sich ebenso wenig wie der dumpfe Schmerz, der von ihm
ausströmte. Er gab keinen Laut von sich.
»Steinsager kann mich nicht hören oder sehen«,
miaute Stein. »Nur du kannst es.«
»Warum bist du gekommen?« Häherpfotes Stimme
zitterte.
»Der Kampf ist gewonnen. Ihr könnt wieder nach
Hause gehen – ihr alle.«
Häherpfote schluckte seine Freude hinunter.
Distelpfote und Löwenpfote waren in Sicherheit! Aber Stein war
bestimmt nicht gekommen, um ihm etwas zu sagen, das er noch vor dem
Morgengrauen selbst herausfinden würde. Sein Erscheinen musste noch
einen anderen Grund haben.
»Dann müssen die Stammeskatzen gut gekämpft
haben«, miaute er. »Vielleicht hat der Stamm der ewigen Jagd nun
mehr Vertrauen in sie.«
»Warum sollten sie?«, gab Stein zurück. Seine
Stimme klang verärgert. »Es waren die Clans, die den Stamm des
eilenden Wasser gerettet haben.«
»Und was ist daran so schlimm?«, wollte
Häherpfote wissen. Zu Hause am See hatte er sich so sehr danach
gesehnt, noch einmal mit Stein zu sprechen, aber jede Begegnung mit
der Geisterkatze enttäuschte ihn mehr.
»Der SternenClan hat euch nicht geschickt«,
erwiderte Stein, »und der Stamm der ewigen Jagd hat euch nicht
gerufen.«
»Aber …«
»Schweig!«, fauchte Stein. »Ihr seid gekommen
und ihr habt gewonnen – wenigstens diesen Kampf. Aber glaubt
ihr wirklich, dass die Grenzen Bestand haben werden? Der Stamm ist
kein Clan. Sie haben keine Erfahrung darin, ihr Territorium zu
verteidigen, und die Eindringlinge haben keinen Ehrenkodex, der sie
dazu verpflichtet, ihr Wort zu halten.«
»Dann waren wir also völlig umsonst hier?«,
fragte Häherpfote bestürzt.
Stein schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr habt viel
gelernt. Und der Stamm wird genug zu fressen haben, eine Weile lang
wenigstens.« Seine hervorquellenden Augen starrten in die
Dunkelheit auf etwas, das Häherpfote verborgen war.
Häherpfote holte tief Luft. »Du kanntest die
Stammeskatzen, ehe sie hierherkamen, nicht wahr? Sie kamen vom
See.«
Befriedigt sah er, wie Stein überrascht
zusammenfuhr. »Ja. Woher weißt du das?«
»Es war der See in den Bergen, den die
Stammesgeister mir gezeigt haben«, erklärte Häherpfote. »Sie haben
einen neuen Mondsee gefunden, so wie der bei unserem
Territorium.«
»Sie haben so vielen ihrer alten Bräuche den
Rücken gekehrt.« Schmerz lag in der Stimme der alten Katze.
»Trotzdem suchten sie Frieden am Wasser.«
Häherpfotes Herz pochte lauter, doch er musste
fortfahren.
»Der Stamm hat mich gekannt, genau wie du es
hast. Stammt die Prophezeiung aus der Zeit, als ihr alle noch
zusammengelebt habt?«
Stein senkte den Kopf. »Ja. Wir haben euch
schon sehr lange erwartet. Und nun seid ihr gekommen.«
Ein Schauer durchfuhr Häherpfote, eine Mischung
aus Furcht und Freude, als er den Blick der alten blinden Katze
erwiderte. »Auch die anderen sollten davon erfahren«, fuhr Stein
fort. »Das ist nicht nur dein Schicksal und du kannst diesen Pfad
nicht allein gehen.«
»Häherpfote! Häherpfote, wo bist du?«
Distelpfotes Stimme hallte durch die Haupthöhle. »Komm
schnell!«
Stein war verschwunden, als hätte sich ein
schwarzer Flügel über ihn gelegt, und Häherpfote stand allein in
der Höhle der spitzen Steine, abgesehen von dem schweigenden
Steinsager. Er fand den Durchgang und rannte hinaus zu seiner
Schwester.
»Es ist Löwenpfote!«, japste sie, als sie zu
ihm sprang und ihm zur Begrüßung rasch über das Ohr leckte. »Er ist
voller Blut. Er sagt, er sei nicht verletzt, aber das Blut muss
doch von irgendwo her kommen. Du musst ihm helfen.«
»Wo ist er?«
»Draußen, beim Teich«, miaute Distelpfote. »Ich
habe gesagt, er soll sich dort ausruhen.«
Häherpfote folgte ihr durch die Höhle zum
Wasserfall. Clan- und Stammeskatzen strömten an ihnen vorbei und
verkündeten jenen, die zurückgeblieben waren, die gute Nachricht.
Häherpfote entdeckte Fels’ Geruch und hörte den großen
Höhlenwächter miauen: »Ich gehe und sage es Steinsager.«
Distelpfote rannte den Pfad unter dem
Wasserfall entlang, ausnahmsweise ohne sich Gedanken darüber zu
machen, ob Häherpfote ihr auch folgen konnte. Häherpfote lief dicht
hinter ihr, den Pelz gegen den Fels gedrückt, und spürte, wie die
kalte Gischt sein Fell benetzte.
Wieder klopfte ihm das Herz. Sollte ihm das
Leben seines Bruders doch entrissen werden, nachdem er eben noch
geglaubt hatte, Distelpfote und Löwenpfote seien unverletzt
zurückgekehrt?
Am Teich angekommen, beschnupperte er
Löwenpfote gründlich. Voller Schreck merkte er, wie dick sein Fell
mit getrocknetem Blut verkrustet war. »Das ganze Blut muss weg«,
miaute er ärgerlich, um seine Furcht zu verbergen. »Wie soll ich
sonst feststellen, ob er darunter verletzt ist?«
»Komm näher zum Wasserfall«, schlug Distelpfote
vor. »Mithilfe des Spritzwassers können wir es besser
abwaschen.«
Alle drei Katzen gingen um den Teich herum, bis
Häherpfote spürte, wie sein Fell durchnässt wurde.
»Ich wünschte, ihr würdet kein solches Theater
um mich machen«, protestierte Löwenpfote mit erhobener Stimme durch
das Donnern des Wasserfalls. »Mit mir ist alles in Ordnung.«
Seine Stimme jagte Häherpfote einen weiteren
Angstschauer über den Rücken. Sein Bruder klang abwesend und wie
betäubt, als hätte der Kampf nicht nur seinen Körper
beeinträchtigt, sondern auch seinen Geist.
»Dir geht es dann gut, wenn ich es sage«,
blaffte er.
»Ich bin nicht verletzt …« Löwenpfote
klang fast verwundert. »Keine Katze hat mich angerührt.«
»Halt den Mund und lass mich lecken«, schimpfte
Distelpfote.
Während er mit Distelpfote das Blut aus
Löwenpfotes Pelz entfernte, stellte Häherpfote fest, dass sein
Bruder recht hatte. Er war tatsächlich nicht verletzt, hatte nur
einen Biss im Ohr und wunde Pfoten.
»Ich glaube nicht, dass du Kräuter brauchst«,
miaute Häherpfote und versuchte zu verbergen, dass seine Pfoten vor
Erleichterung zitterten. »Du musst nur das Ohr sauber halten. Ich
werde es jeden Tag untersuchen, bis es verheilt ist.«
»Du bist tatsächlich unverletzt!« Distelpfotes
Stimme bebte. »Das ganze Blut stammte von anderen Katzen!
Häherpfote, du hättest dabei sein sollen, Löwenpfote hat wie ein
ganzer Katzen-Clan gekämpft!«
»Wir haben den Kampf gewonnen.« Löwenpfote
klang nun wieder fast normal, als hätte ihn das Lecken seiner
Geschwister von einem fernen Ort zurückgeholt.
»Wozu immer es auch gut sein mag.« Distelpfote
klang besorgt. »Ich traue diesen Fremden nicht. Und ich bin mir
nicht sicher, ob es dem Stamm gelingen wird, seine neuen Grenzen zu
verteidigen.«
Häherpfotes Herz tat einen Satz, als seine
Schwester die Warnung wiederholte, die Stein ihm in der Höhle der
spitzen Steine mit auf den Weg gegeben hatte.
»Warum sind wir hierhergekommen, wenn der
Erfolg dann doch nicht endgültig ist?«, fuhr sie niedergeschlagen
fort. »Hat der Stamm der ewigen Jagd sich vielleicht geirrt?«
Häherpfote legte ihr den Schwanz auf die
Schulter. »Die Vorfahren des Stammes wollten uns hier nicht haben«,
miaute er. »Und der SternenClan hat uns auch nicht geschickt. Wir
sind gekommen, damit wir den Kampf gewinnen konnten und weil wir
Antworten auf unsere Fragen suchten.«
Als weder Distelpfote noch Löwenpfote
reagierten, fuhr er fort: »Wir wollten doch alle in die Berge,
oder?« Seine Geschwister murmelten zustimmend. »Begreift ihr denn
nicht? Die Dinge sind so geschehen, damit wir hierherkommen
konnten. Es geht hier um uns, um uns drei. Ob der Stamm mit unserer
Hilfe überlebt oder nicht – das spielt keine Rolle. Aber sie
haben alle auf uns gewartet: der SternenClan, der Stamm der ewigen
Jagd, Stein …«
»Wer?«, fragte Distelpfote.
»Wovon redest du?«, miaute Löwenpfote. »Hast du
Bienen im Hirn?«
Häherpfote kauerte am Rand des Teichs und
winkte seinen Bruder und seine Schwester mit dem Schwanz zu sich
heran. »Hört zu«, murmelte er. »Es gibt da etwas, das ich euch
sagen muss …«