Ein Pflegepferd für Muriel

Nachdem Muriel Ascalon fertig geputzt hatte, besorgte sie einen Heuballen und eine große Portion der Getreide-Kraftfutter-Mischung, die ihre Mutter nach den Angaben von Madame de Chevalier für ihn zusammengestellt hatte. Während er fraß, blieb sie in seiner Nähe.

Am späten Nachmittag wagte sie dann den nächsten Schritt.

Ascalon hatte viel zu lange in der Box gestanden und brauchte dringend Bewegung. Da ihre Mutter es noch nicht erlaubte, ihn aus dem Stall zu lassen, entschied sich Muriel, ihn in der kleinen Halle zu longieren, die unmittelbar an den Patientenstall grenzte.

Und auch dabei verhielt sich Ascalon vorbildlich.

Auf Zuruf wechselte er augenblicklich die Gangart; trabte, galoppierte und lief die Zirkel, ohne dass Muriel eingreifen musste. Der lange, buschige Schweif und die sorgfältig gekämmte Prachtmähne wallten im Takt der Schritte, während er sich kraftvoll im Kreis bewegte.

»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, ich würde es nicht glauben.« Renata Vollmer, die ihre Tochter nun schon eine halbe Stunde beim Longieren beobachtete, war begeistert. »Ascalon ist wie ausgewechselt. Es ist unglaublich!«

»Das sieht aber toll aus!«, ertönte in diesem Augenblick Viviens Stimme aus der hinteren Ecke des Stalls. »Wie ein richtiges Zirkuspferd.«

»Vivien!« Renata Vollmer drehte sich um und schaute ihre jüngste Tochter erbost an. »Wer hat dir erlaubt hier reinzukommen?«

»Niemand!« Vivien setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging an der Wand entlang auf ihre Mutter zu. »Im Haus ist es sooo langweilig«, sagte sie mit perfekt einstudierter Unschuldsmiene und fügte hinzu: »Bitte, Mama, darf ich Muriel zusehen? Ich bin auch ganz leise.«

»Also gut.« Renata Vollmer seufzte und deutete neben sich. »Du kannst dich hier auf den Strohballen setzen. Aber keinen Mucks, hörst du?«

Vivien nickte ernst und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Versprochen«, flüsterte sie.

Das Versprechen hielt sie ungefähr fünf Minuten.

»Immer nur Trab ist doof!«, sagte sie so laut, dass Muriel es hören musste. »Kannst du ihn nicht mal galoppieren lassen?«

»Du kannst ja wieder rausgehen, wenn es dir zu langweilig ist«, erwiderte Muriel mürrisch. »Das ist schließlich keine Zirkusvorführung.«

Vivien zog einen Schmollmund und verschränkte die Arme vor der Brust. Für wenige Augenblicke herrschte Ruhe, dann rief sie: »Du lässt die Longe zu weit durchhängen! Andrea sagt, dass sie …«

»Mam!« Muriel sandte einen flehenden Blick an ihre Mutter. »Kannst du sie nicht fortschicken?«

»Vivien, so geht das nicht.« Renata Vollmer legte den Notizblock aus der Hand und schaute ihre jüngste Tochter kopfschüttelnd an. »Du hast versprochen leise zu sein.«

»War ich doch.«

»Ja, ganze fünf Minuten.« Ascalon mit sich führend, ging Muriel auf Vivien zu, hielt aber einen großen Abstand, weil sie nicht wusste, wie der Wallach auf die Nähe der beiden Zuschauer reagieren würde.

»Vivien, du nervst«, sagte sie gereizt. »Merkst du das nicht? Dauernd plapperst du dazwischen. So kann ich nicht arbeiten.«

»Muriel hat recht«, pflichtete Renata Vollmer ihrer Ältesten bei. »Du hast versprochen ruhig zu sein. Wie wäre es, wenn du …«

»Ich gehe nicht weg!«, verkündete Vivien und schob trotzig die Unterlippe vor. »Ich will Muriel zusehen!«

»Dann höre ich sofort auf mit dem Longieren.« Muriel war so wütend, dass sie glaubte, platzen zu müssen. Warum war ihre Mutter nur immer so nachsichtig mit ihrer kleinen Schwester? Vivien tanzte allen auf der Nase herum, aber niemand hielt es für nötig, sie in ihre Schranken zu weisen. »Hau ab!«, zischte sie Vivien zu.

»Nö!« Demonstrativ machte Vivien es sich auf den Strohballen bequem. »Mama hat gesagt, ich darf bleiben.«

»Das war, bevor du angefangen hast zu stören!« Am liebsten hätte Muriel ihre Schwester am Arm gepackt und eigenhändig aus dem Stall geschleift. Das Letzte, was sie beim Longieren gebrauchen konnte, waren Viviens neunmalkluge Kommentare.

»Vivien, ich finde, es reicht«, mischte sich ihre Mutter in das Streitgespräch ein. »Wenn es Muriel stört, dass du ständig dazwischenredest, kannst du nicht hierbleiben. Ganz gleich, was ich vorher gesagt habe.«

»Da hörst du es«, griff Muriel die Worte ihrer Mutter auf. »Also, geh jetzt!«

Ein freches Grinsen huschte über Viviens Gesicht. »Du kannst mir gar nichts befehlen.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber Ascalon kam ihr zuvor. So rasch, dass Muriel nicht reagieren konnte, schnellte er vor und schnappte nach Vivien.

»Ma-ma!« Kreischend rettete sich die Sechsjährige auf den Strohballen und presste den Rücken fest an die Wand. Blass, die Augen vor Schreck geweitet, starrte sie Ascalon an, als sei er ein leibhaftiger Dämon. Von der Bewunderung, mit der sie ihn eben noch angesehen hatte, war nichts geblieben.

»Nimm ihn weg, Mama!«, kreischte sie außer sich vor Angst. »Nimm ihn weg! Nimm ihn weg!«

»Muriel!« Renata Vollmer sprang auf, schloss die schluchzende Vivien in die Arme und blickte Muriel tadelnd an. »Kannst du denn nicht aufpassen? Du weißt doch, wie sensibel er ist. Das hätte böse enden können. Führ Ascalon sofort zurück in die Mitte der Halle.«

»Er ist ein Teufel!« Vivien schniefte, wischte die Tränen fort und warf Muriel über die Schulter ihrer Mutter hinweg einen vernichtenden Blick zu. »Ich hasse ihn.«

Muriel sagte nichts. Es war ihr ziemlich schnuppe, wen oder was Vivien gerade zu hassen glaubte. Meistens hatte sich das am nächsten Tag sowieso schon wieder geändert.

Sie beschäftigte etwas anderes.

Ascalon hatte genau in dem Augenblick nach Vivien geschnappt, als sie sich gewünscht hatte, dass sie verschwinden möge.

Ein Zufall? Oder nicht?

Während sie Ascalon zurück in die Halle führte, sah sie, wie Vivien aus der Halle lief.

Erleichtert nahm sie das Longieren wieder auf.

Ascalon lief die Zirkel, als sei nichts geschehen, aber Muriel ging der Vorfall nicht aus dem Kopf. Sie war überzeugt, dass Ascalon ihre Gedanken gelesen hatte, und nahm sich vor von nun an sorgfältig auf Hinweise zu achten, die diesen Verdacht bestätigten.

An diesem Wochenende wich Muriel nicht von Ascalons Seite. Nadine war zu einer Taufe bei Verwandten eingeladen und so konnte sie sich guten Gewissens der neuen Aufgabe widmen, ohne ihrer Freundin absagen zu müssen.

Am Samstagmorgen stand sie vor allen anderen auf und lief in den Stall, um nach Ascalon zu sehen. Für das anschließende gemeinsame Frühstück mit der Familie hatte sie kaum Zeit, denn sie hatte sich in den Kopf gesetzt, einen kleinen Trialparcours in der Halle aufzubauen, um Ascalon ein wenig Abwechslung zu bieten.

Der Tag verging wie im Flug. Am Abend fiel sie glücklich und erschöpft ins Bett und konnte es gar nicht erwarten, am nächsten Morgen weiterzumachen.

»Traust du dir schon zu, mit Ascalon spazieren zu gehen?« Die Frage ihrer Mutter am sonntäglichen Frühstückstisch kam so überraschend, dass Muriel sich an ihrem Orangensaft verschluckte.

»Klar«, presste sie zwischen zwei Hustenanfällen hervor.

»Na, dann ist ja alles bestens!« Renata Vollmer lächelte und schaute zum Fenster hinaus. »Das Wetter ist so herrlich, da wäre es geradezu Tierquälerei, mit Ascalon in der Halle zu arbeiten. Außerdem habe ich in den vergangenen zwei Tagen den Eindruck gewonnen, dass du mit ihm wunderbar harmonierst.« Sie blickte Muriel anerkennend an. »Ehrlich. Das machst du wirklich gut. Ich bin schon sehr gespannt, wie er sich draußen verhält.«

»Und wer fährt mich zum Punktspiel?«, mischte sich Mirko etwas genervt in das mal wieder sehr pferdelastige Gespräch ein.

»Mi chico, ich natürlich!« Teresa grinste und strich Mirko mütterlich über das dunkle Haar. »Glaubst du wirklich, ich lasse es mir entgehen zu sehen, wie der zukünftige Libero der deutschen Nationalmannschaft den Aufstieg in die Kreisliga schafft?«

»Teresa, du bist wirklich eine Perle.« Renata Vollmer lachte. »Ich wüsste nicht, wie ich den dreien ohne dich gerecht werden könnte.«

»Du meinst wohl mir.« Mirko schnitt eine Grimasse. »Muriel und Vivien haben ja ihre Pferde.« Er seufzte. »Wenn Paps eine normale Arbeit hätte, wäre das alles kein Problem.«

»Ich weiß, dass du ihn vermisst«, sagte Renata Vollmer mitfühlend. »Wir vermissen ihn alle. Aber es geht nun mal nicht immer danach, was man sich wünscht.«

»Sí, Señora.« Teresa nickte und fügte zu Mirko gewandt hinzu: »Deine Mutter hat recht. Der Job in Mexiko ist eine große Herausforderung für deinen Vater. Ihr könnt wirklich stolz auf ihn sein.« Sie stand auf und ging an den Kühlschank, um eine Saftflasche zu holen. »Dios mío!«, rief sie mit einem Blick auf die Küchenuhr aus. »Es ist gleich zehn Uhr! Wenn du rechtzeitig auf dem Platz sein willst, musst du dich jetzt aber wirklich beeilen. Rápido! In zehn Minuten fahren wir los.«

Wenn Teresa etwas sagte, dann war daran nicht zu rütteln. Auf die Sekunde genau zehn Minuten später setzte sie sich ans Steuer ihres betagten Golfs und fuhr mit Mirko vom Hof.

Darauf hatte Muriel nur gewartet. Geräuschvoll ließ sie die letzten Frühstücksmesser in den Geschirrkorb der Spülmaschine fallen, klappte die Tür zu und rief: »Fertig! Ich lauf schon mal rüber und bereite alles vor!«

»Ja, mach nur!« Renata Vollmer, die den Küchendienst übernommen hatte, damit Teresa mit Mirko zum Fußball fahren konnte, steckte den Kopf aus der Speisekammer und nickte ihrer Tochter zu. »Aber warte mit dem Spaziergang, bis ich da bin. Ich räume hier nur noch auf, dann komme ich.«

In rekordverdächtiger Zeit zog Muriel sich um und lief zum Patientenstall hinüber, um Ascalon für den geplanten Spaziergang zu rüsten. Als sie mit dem Kappzaum in der Hand und der Longierleine über dem Arm an die Box trat, streckte Ascalon ihr freudig die Nüstern entgegen.

»Hallo, Ascalon«, begrüßte sie ihn und verkündete: »Heute gehen wir mal im Wald spazieren.«

Ascalon schnaubte und schüttelte die blonde Mähne.

»Ja, ich freue mich auch.« Lachend kramte Muriel eine Handvoll Leckerli aus ihrer Tasche hervor und hielt sie Ascalon auf der flachen Hand hin.

»Aber du musst schön brav sein, hörst du?«, ermahnte sie ihn, während sie ihm das Zaumzeug überstreifte. »Mam hat es zwar erlaubt, aber sie hat immer noch Sorge, dass du mir ausreißen könntest.« Sie schaute Ascalon an, der nun so ruhig dastand, als hätte er sich ihre Worte schon jetzt zu Herzen genommen.

Was für große dunkle Augen er hat …

Da war es wieder: das Gefühl, dass da mehr war als nur ein Blick. Etwas, das sich ihr aber nicht erschließen wollte.

Wie von selbst formte sich vor ihrem geistigen Auge wieder das Bild der jungen Frau, während die Geräusche um sie herum so schlagartig verstummten, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Diesmal stand die Frau nicht auf dem Hügel am See – sie stand vor der Hütte, die Muriel schon einmal gesehen hatte. Dichte Nebelschwaden strichen um ihr langes Gewand, als sie langsam über die Lichtung schritt und auf Muriel zukam. Dann hob sie die Hand und winkte ihr zu.

Sie kann mich sehen! Der Gedanke jagte Muriel einen eisigen Schauer über den Rücken.

Das Bild verblasste.

Keuchend und mit klopfendem Herzen stand Muriel im Stall, reglos und still und lauschte auf die Geräusche, die ihr nun wieder so selbstverständlich an die Ohren klangen, als sei nichts geschehen. Alles war wie immer. Nichts hatte sich verändert. Und dennoch …

Ich fantasiere, schoss es ihr durch den Kopf. Ich träume am helllichten Tag. Sie konnte es nicht fassen. So etwas war ihr noch nie passiert. Wurde sie langsam verrückt? Es war geradezu beängstigend.

Noch ganz in Gedanken versunken, spürte sie die geisterhafte Berührung einer Hand auf der Schulter. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und fuhr erschrocken herum.

»Mam!«

»Alles bereit?« Renata Vollmer lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Sag mal, was ist denn mit dir los?«, fragte sie besorgt. »Du bist ja kreideweiß im Gesicht. Man könnte meinen, du hättest gerade ein Gespenst gesehen.«

»Es geht schon wieder.« Obwohl sie noch ganz weiche Knie hatte, gelang Muriel ein Lächeln. »Ich … ich hab dich nicht kommen hören und mich furchtbar erschreckt, als du mir die Hand auf die Schulter gelegt hast.«

»Oh, wirklich?« Ihre Mutter schaute betroffen drein. »Das wollte ich nicht. Das nächste Mal kündige ich mich vorher an – versprochen.«

»Schon gut.« Muriel versuchte gefasst zu klingen. »Ich bin ja auch ein wenig selbst schuld. In Zukunft mache ich meine Nickerchen nur noch oben in meinem Zimmer.« Sie drehte sich um. »Also meinetwegen können wir los.«

Ascalon – Das magische Pferd, Band 1: Ascalon – Das magische Pferd. Die Wächter des Schicksals
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