Das Grab im Dschungel

Mit schweren Schritten bahnen sich zwei Männer einen Weg durch das Dickicht des Dschungels. Raschelnd fahren ihre Füße durch das trockene Laub am Boden, während sie sich mit ihren Buschmessern durch das Unterholz schlagen. Hin und wieder bleiben sie stehen und binden rote Stoffbänder an die Bäume: Markierungen, die ihnen helfen sollen, den Rückweg zu finden.

»Da!« Der Erste hält an, winkt den anderen zu sich und deutet in den Dschungel hinein, wo unter Moosen, Baumwurzeln und Ranken die Überreste einer verwitterten Steinmauer zu sehen sind.

»Das Fundament einer Pyramide!« Ehrfurcht liegt in der Stimme des Mannes. Seine Augen leuchten, als er den Blick nach oben richtet und den grünen Hügel betrachtet, der sich unmittelbar vor ihm inmitten des Urwalds erhebt. Längst hat die Natur zurückerobert, was tausend Jahre zuvor von Menschenhand geschaffen wurde; zerstören konnte sie es nicht.

Sofort machen sich die Männer daran, die Pyramide zu erklimmen. Die Freude über den Fund lässt sie alle Mühsal vergessen. Stufe um Stufe steigen sie hinauf. Höher und höher.

Oben angekommen, erwartet sie eine bittere Überraschung. Frische Einschnitte unterhalb der Tempelspitze zeigen, dass sie nicht die ersten Suchenden an diesem Ort sind. Grabräuber sind ihnen zuvorgekommen.

Das kratzende Geräusch ihrer Stiefelsohlen auf dem harten Stein begleitet sie wie das hämische Lachen einer alten Frau, als sie wenig später die verwitterten Stufen hinabsteigen. Sie gehen nun hintereinander. Niemand sagt ein Wort. Zu groß ist die Enttäuschung, zu schmerzlich das Wissen, auch diesmal zu spät gekommen zu sein.

Plötzlich hallt ein erstickter Schrei durch den Dschungel.

Es kracht und poltert, dann ist es still.

»Fernando?« Der Mann an der Spitze fährt erschrocken herum. Von seinem Begleiter fehlt jede Spur. Es ist, als hätte der Boden ihn verschluckt.

»Bei allen Toren des Himmels!« Mit einem Ruck richtete sich die Schicksalsgöttin von der gepolsterten Liegestatt auf, auf der sie eine zeitlose Weile geruht hatte, schwang die Beine von dem bronzenen Diwan und ging zu dem marmornen Brunnen in der Mitte der großen Halle, die sie ihr Heim nannte.

Sie wusste: Der Traum war ein Zeichen. Ein Zeichen, wie sie es in den vergangenen Jahrhunderten schon oft erhalten hatte. Nun war es an ihr, das Geheimnis zu entschlüsseln, das sich dahinter verbarg, und die nötigen Schritte einzuleiten.

Mit einer anmutigen Bewegung nahm sie einen gläsernen Krug zur Hand, tauchte ihn in das kristallklare Wasser und goss etwas davon in eine silberne Schale.

Als sich die Oberfläche beruhigt hatte, strich sie mit der Hand über das Wasser, murmelte leise Worte in einer altertümlichen Sprache und beobachtete, was geschah.

Für eine Weile war ihr Gesicht das einzige Bild, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Dann begann es zu verschwimmen. Nach und nach formten sich im Wasser die Umrisse von tönernem Geschirr, von Schmuck und Gebeinen, die irgendwo am Boden einer Höhle lagen, wo sie ganz oder nur zum Teil aus einer dicken Staubschicht hervorschauten. Die Göttin seufzte und fuhr mit der Hand erneut über das Wasser. Knochen und Schmuck waren nicht das, wonach sie suchte.

Das Bild bewegte sich. Langsam wanderte es über den Höhlenboden. Fragmente einer Trommel und Überreste eines Jaguarfells tauchten auf und verschwanden, ohne dass die Göttin sie eines Blickes würdigte. Doch dann …

»Ich wusste es!« Mit einer herrischen Geste gebot die Göttin dem Bild innezuhalten. Es zeigte nun eine Knochenhand, die aus dem Humus der Jahrhunderte hervorragte. Aber nicht die bleichen Gebeine waren es, denen ihre Aufmerksamkeit galt. Sie hatte nur Augen für das, was neben dem Toten auf der Erde lag. Im ersten Augenblick sah es aus wie ein zerbrochener Tonkrug, auf dem das Bildnis eines Kriegers prangte, der einen Hirsch erlegt hatte. Aber die Göttin wusste, dass es weit mehr war als nur das. Unter den Scherben lugte etwas Helles hervor, das wie ein Stofffetzen aussah. Doch auch das war ein Trugschluss. Was dort lag, war kein altes Stück Gewebe. Es war ein wertvolles Schriftstück, das nicht in falsche Hände gelangen durfte.

Der Schlüssel zum Geheimnis der Maya.

Plötzlich kam Bewegung in das Bild. Ein Lichtschein, wie von einer Taschenlampe, fuhr suchend über den Höhlenboden, verharrte auf der Knochenhand und schwenkte dann auf das Tongefäß. Hände tauchten auf, entfernten vorsichtig Schmutz und tönerne Bruchstücke und trugen das Schriftstück fort, das niemals hätte gefunden werden dürfen. Zurück blieben Scherben und bleiche Finger, die das Geheimnis nicht länger hatten hüten können.

Für einen Augenblick schien es, als sei die Göttin verärgert. Doch der Moment verstrich schnell, und nur Sekunden später hatte sie ihren Gleichmut wiedergewonnen.

»Nun denn, ich sehe, es gibt Arbeit«, sagte sie zu sich selbst, stieß einen leisen Seufzer aus und löschte das Bild in der Schale mit einem Handstreich aus.

Sie hatte genug gesehen und wusste, was zu tun war.

Ascalon – Das magische Pferd, Band 1: Ascalon – Das magische Pferd. Die Wächter des Schicksals
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