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8.

Bereits kurz vor Anbruch des nächsten Tages wurde Beatrice von einer Dienerin geweckt. Rasch kleidete sie sich an und nahm ein hastiges Frühstück aus Brot, Käse und mit Zitronensaft gewürztem Wasser zu sich. Ihre Füße taten zwar immer noch weh, als sie langsam die Treppe zum Hof hinunterstieg, doch die konsequente Behandlung mit Myrrhe und der stark riechenden Salbe aus Ziegenfett hatte ebenso wie die Ruhe dazu beigetragen, dass sie nicht mehr auf die starken Arme eines Dieners angewiesen war, um sich zu bewegen. Allerdings war sie froh darüber, dass sie kein Gepäck zu tragen hatte.

Im Hof wurde Beatrice schon von Yasmina und Malek erwartet. Die Diener liefen kreuz und quer durcheinander, sodass man meinen konnte, an diesem Tag würde eine zweite Hochzeit stattfinden. Allerdings fehlte die durchdringende, aufgeregte Stimme der Hausherrin. Diese stand mit vom Weinen geröteten Augen dicht bei Yasmina und hielt deren Arm umklammert, als wollte sie ihre Tochter nun doch nicht fortgehen lassen. Und auch Yasmina hatte Tränen in den Augen. Verständlicherweise. Vermutlich würden sie sich höchstens einmal im Jahr wiedersehen, wenn überhaupt. Die Reise nach Gazna schien nicht gerade ungefährlich zu sein. Und nur für einen kurzen Besuch zum Tee nahm man die damit verbundenen Strapazen gewiss nicht in Kauf.

»Beeilt euch«, drängte Malek die Frauen ungeduldig. »Meine Brüder warten sicher schon auf uns. Wir wollen gemeinsam zum Treffpunkt mit unserem Karawanenführer gehen.«

»Guten Morgen!«, wurden sie fröhlich von Assim begrüßt, als sie vor das Haus traten. Er lachte ihnen zu, verneigte sich vor Yasminas Eltern und Malek und ging dann zu Beatrice. »Es freut mich, dass du wieder mit uns reist, Sekireh.«

»Mich auch«, sagte Beatrice und erwiderte sein Lächeln. Sie mochte Assim. Die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit dieses Jungen wirkte ansteckend. »Allerdings werde ich dir diesmal nicht wieder zur Last fallen und hinter dir auf deinem Pferd reiten müssen.«

Assim zuckte mit den Schultern. »Das war doch nicht schlimm. Weder ich noch mein Pferd haben deine Anwesenheit als Last empfunden. Aber du hast Recht, diesmal wirst du gemeinsam mit Yasmina und ihren beiden Dienerinnen in der Sänfte reisen.« Er verzog sein hübsches Gesicht. »Ich kann mir das zwar nicht vorstellen, es muss ziemlich stickig unter den dicken Stoffen werden, aber für eine Frau ist diese Art zu reisen sicherlich viel angenehmer.«

Wenig später marschierten Malek, Yasmina, ihre Eltern und Brüder sowie alle Diener des Hauses und Beatrice quer durch das Dorf. Alles war still. Ein einzelner Hund schlug an und bellte hysterisch, offensichtlich kam ihm die Menschenansammlung im Morgengrauen verdächtig vor, doch eine durchdringende Frauenstimme brachte ihn schnell zum Schweigen.

Der Himmel über ihnen war noch dunkel, und die Sterne schimmerten, doch am Horizont zeigte sich bereits ein schmaler Silberstreif als erster Vorbote der nahen Morgendämmerung. Sie hatten den Treffpunkt am Rande der Oase noch nicht erreicht, als ihnen auch schon eine Gestalt entgegenkam. Das bodenlange weiße Gewand, das Kopf und Körper gleichermaßen einhüllte, hob sich so deutlich von der noch herrschenden Dunkelheit ab, dass es im ersten Augenblick aussah, als würde sich ihnen ein Geist nähern.

»Allah sei gepriesen. Ihr kommt spät, aber Ihr kommt!«, sagte der Mann mit einer tiefen, rauen Stimme, deren spöttischer Unterton nur schwer zu überhören war. »Ich wollte mich gerade zu Euch auf den Weg machen. Ich dachte schon, Ihr habt es Euch kurz vor Beginn der Reise anders überlegt.«

Beatrice lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Etwas an diesem Mann kam ihr bekannt vor, erinnerte sie an etwas oder jemanden. Doch es war nicht die Stimme. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es sein weicher, leicht singender Akzent war, der ihr so vertraut zu sein schien. Dieser Mann war ein Nomade. Wie Saddin.

»Sei auch du gegrüßt, Jaffar«, entgegnete Malek kühl und berührte flüchtig Mund und Stirn mit der linken Hand. Sein hübsches Gesicht nahm einen überraschend hochmütigen Ausdruck an. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er nur deshalb die Regeln der Höflichkeit wahrte, um allen Anwesenden zu zeigen, welche unüberbrückbare Kluft zwischen ihm und dem Nomaden lag. »In meiner Familie ist es üblich, dass ein Mann zu seinem Wort steht. Wie ausgemacht möchten wir, dass ihr uns nach Gazna begleitet.«

Jaffar hob seine buschigen Augenbrauen und verneigte sich. Offensichtlich spürte auch er den Unterschied, der zwischen ihm und Malek bestand. Allerdings hätte Beatrice Wetten darauf abschließen mögen, dass er ganz anders darüber dachte.

»So bitte ich Euch, mir zu folgen, Ihr edlen Herren!«, sagte er. »Ich werde Euch zu unserem Sammelpunkt geleiten.«

»Sammelpunkt?«, fragte Malek überrascht. »Weshalb ...«

»Wir erwarten noch einige Juwelenhändler, die ebenfalls auf dem Weg nach Gazna sind. Sie hörten gestern Abend von unserer Karawane und haben sich entschieden, sich uns anzuschließen.« Jaffar lächelte, doch diesmal hatte sein Lächeln etwas Drohendes. Seine weißen Zähne blitzten im flackernden Schein der Fackeln auf. Er sah aus wie ein zähnefletschendes Raubtier. »Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen einzuwenden, edler Herr?«

»Nein«, beeilte sich Malek zu versichern, und Beatrice konnte ihm nur beipflichten. Sie an Maleks Stelle hätte auch auf eine Konfrontation mit diesem Mann verzichtet. »Du führst die Karawane. Es ist alles in Ordnung.«

»Gut, Herr«, erwiderte Jaffar und verneigte sich erneut. »Ich wusste, dass Ihr ein kluger und verständiger Mann seid.«

Inzwischen hatten sie den Rand der Oase erreicht. Sie passierten die letzte Baumreihe und standen auf einer Grasfläche, die nach etwa hundert Metern beinahe nahtlos in die Wüste überging. Die Sonne tauchte langsam über dem Horizont auf, und die dunklen Silhouetten der zahlreichen Pferde und Reiter hoben sich deutlich vom silbrigen Himmel ab. Yasmina war umringt von ihrer Familie und den Dienern, die in lautes Jammern und Wehklagen ausbrachen. Jeder Einzelne von ihnen wollte ausgiebig Abschied von ihr nehmen. Beatrice stand allein etwas abseits der Familie. Sie kam sich fremd und verloren vor, und gleichzeitig war es ihr peinlich, einfach dazustehen und dabei in die Intimsphäre einer ihr letztlich vollkommen fremden Familie einzudringen. Also beschloss sie, sich ein wenig umzusehen. Gemächlich schlenderte sie über den Platz zu den Pferden, die bereits fertig gesattelt und gezäumt auf ihre Reiter warteten. Mitten unter den gewöhnlichen Pack- und Reitpferden standen zehn Schimmel. Sie waren ein Geschenk von Yasminas Vater an Maleks Familie. Schon auf den ersten Blick erkannte Beatrice, wie wertvoll die Tiere waren. Sie waren ohne Zweifel Vollblüter edelster Herkunft, möglicherweise ließ sich ihr Stammbaum sogar bis zu den fünf Lieblingsstuten des Propheten zurückverfolgen. Alle zehn Pferde hatten die schlanke, zierliche Statur der Araber- Pferde. Ihr schneeweißes Fell schimmerte im Morgenlicht silbern, und ihre langen, vollen Mähnen und Schweife glänzten wie kostbare Seide. So schöne Pferde wie diese hatte Beatrice erst einmal in ihrem Leben zu Gesicht bekommen - in Shangdou, im Garten von Khubilai Khan, dem berühmten Herrscher der Mongolen und Chinesen. Beatrice streckte ihre Hand aus und ließ sie von einem der Tiere beschnuppern. Sie tätschelte den schlanken Hals. Das Fell war so weich, als würde es aus Flaumfedern bestehen. Sie flüsterte dem Pferd gerade ein paar Koseworte ins Ohr, als plötzlich Jaffar und einer seiner Männer auftauchten. Die beiden kamen näher und sahen sich um, als ob sie sich vergewissern wollten, dass niemand außer ihnen in der Nähe war.

Beatrice dachte nicht lange nach, sondern versteckte sich hinter dem Pferd. Natürlich hätte sie einfach davonschleichen, ja, vermutlich hätte sie sogar unbefangen an den beiden Männern vorbeigehen können. Sie war schließlich ein Mitglied der Karawane, sie hatte das Recht, sich hier umzusehen. Trotzdem blieb sie in ihrem Versteck. Eine Stimme in ihrem Innern sagte ihr, dass es besser wäre, wenn sie wüsste, was die beiden Männer zu besprechen hatten. Sie duckte sich und spähte unter dem Hals des Pferdes hindurch.

»Es ist niemand da, Aziz«, sagte Jaffar zu dem anderen Mann und sah sich noch einmal nach allen Seiten hin um. »Schnell, sprich, bevor einer von ihnen kommt. Was hast du herausgefunden?«

»Wenig, Jaffar, leider nur wenig«, erwiderte der Mann. Er war mindestens einen Kopf kleiner als der Karawanenführer und dabei so schmal und zierlich, als wäre er eigens dafür geschaffen worden, durch Gitterstäbe, Türspalten und Fenster zu huschen.

Eigentlich sieht er aus wie ein Frettchen, dachte Beatrice.

»Das Mädchen mit dem goldenen Haar und den blauen Augen war hier in Qum, Jaffar«, fuhr er fort. »So viel steht fest. Aber wohin sie und ihr Begleiter dann geritten sind, scheint niemand zu wissen.«

Beatrice hielt die Luft an und presste instinktiv die Hand auf den Mund, um vor Überraschung nicht zu schreien. Ihr Herz begann einen Trommelwirbel zu schlagen, und ihr wurde glühend heiß. Diese beiden Kerle sprachen von Michelle! Da war sie sich ganz sicher. Aber was wollten sie von ihrer Tochter? Waren sie etwa diejenigen, vor denen Michelles Begleiter angeblich auf der Flucht war?

»Hm«, brummte Jaffar sichtlich verärgert. »Das ist wahrlich nicht viel.«

Der kleine Mann hob entschuldigend die Schultern.

»Es tut mir Leid, ich kann nichts dafür. Die Spur ist bereits einige Wochen alt. Wir können überhaupt von Glück sagen, dass sich hier noch jemand an die Kleine erinnert. Immerhin kommen Tag für Tag viele Reisende durch Qum.«

»Ich weiß, Aziz, ich weiß«, sagte Jaffar ungeduldig. »Aber kannst du mir verraten, was ich jetzt denen in Gazna erzählen soll?« Er stöhnte. »Sie werden nicht besonders erfreut sein von uns zu hören, dass wir keine deutliche Spur von dem Mädchen gefunden haben.«

»Und was nun?«, fragte der kleine Mann. »Soll ich voraus- reiten und den Fidawi ...«

Beatrice zuckte zusammen. Fidawi? Sie kannte dieses Wort, hatte es irgendwo schon einmal gehört. Aber wo und in welchem Zusammenhang? Fidawi. Was auch immer dieses Wort bedeuten mochte, es hatte keinen guten Klang. Ganz und gar nicht.

»Beim Barte des Propheten! Bist du dumm? Wie kannst du dieses Wort in den Mund nehmen!«, herrschte Jaffar seinen Untergebenen an und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Dann sah er sich um, als wollte er erneut sichergehen, dass sie nicht belauscht wurden. »Habe ich dir nicht eingeschärft, dass wir vorsichtig sein müssen? Dass unter gar keinen Umständen jemand etwas erfahren darf?«

»Ja, aber ...«

»Schweig jetzt. Wir werden diese Leute nach Gazna begleiten, so wie wir es besprochen haben. Vielleicht schickt mir Allah ja auf dem Weg dorthin einen rettenden Gedanken. Wir wollen nur hoffen, dass alles gut geht und wir nicht noch zusätzlich in einen Hinterhalt geraten. Ich habe wirklich andere Sorgen, als mich jetzt auch noch mit Räubern und Sklavenhändlern herumzuschlagen. In Gazna wartet schon genug Ärger auf uns. Und jetzt verschwinde. Ich glaube, dieses junge Großmaul und seine Brüder sind im Anmarsch.« Er knirschte hörbar mit den Zähnen. »Wenn ich nicht wüsste, welch gutes Geschäft mir entgehen würde, würde ich diesen Burschen am liebsten in der Wüste verdursten lassen.«

Von einem Augenblick zum nächsten verschwand der kleine Mann nahezu lautlos zwischen den Pferden.

Wirklich wie ein Frettchen. Oder wie eine Ratte, dachte Beatrice voller Abscheu. Fidawi - was war das noch? Wenn ich mich doch bloß erinnern könnte.

Inzwischen waren Malek und seine Brüder näher gekommen.

»Ah, hier bist du, Jaffar. Endlich finden wir dich.«

»Junge edle Herren!«, rief Jaffar übertrieben herzlich aus und verneigte sich tiefer, als es üblich war. »Weshalb habt Ihr mich denn gesucht? Womit kann ich Euch behilflich sein? Es wird mir eine Freude sein, Euch zu dienen.«

Wie gut sich doch manche Menschen verstellen können, dachte Beatrice voller Zorn und beschloss, den Karawanenführer auf ihrer Reise ganz besonders im Auge zu behalten.

»Wo sind deine Männer, Jaffar?«, fragte Malek, ohne auf die Worte des Nomaden einzugehen. Seine Stimme klang streng. »Die Sonne zeigt sich bereits am Horizont. Ich wäre erfreut, wenn deine Leute dies auch täten. Wir hatten die Absicht, früh aufzubrechen.«

»Ich verstehe Euren Unmut nicht«, sagte Jaffar und deutete vage in alle Richtungen. »Meine Männer sind doch schon lange hier. Noch während Ihr Eure Pflichten als frisch vermählter Ehemann erfüllt habt, haben sie damit begonnen, ihrerseits ihre Pflicht zu tun. Sie füllen die Wasserschläuche auf, überprüfen die Vorräte, die Pferde, geben den Tieren noch etwas zu trinken ...«

»Ja, ja, ja. Das habe ich auch gesehen. Aber ich habe nur vier Männer gezählt«, unterbrach ihn Malek unwirsch. »Ist das dein Ernst? Du hast wirklich nur vier Männer dabei? Oder warten die restlichen außerhalb der Oase auf uns?«

Jaffar schüttelte den Kopf. »Ich versichere Euch, fünf von unserem Schlag sind mehr als genug, um Euch, Eure junge Gemahlin und Euren wertvollen Besitz auf dieser Reise zu beschützen«, erwiderte er und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Jeder, der es wagen sollte, dieser Karawane zu nahe zu kommen, wird seinem Schöpfer eher gegenüberstehen, als er es sich je zu träumen gewagt hat.« Zur Bekräftigung seiner Worte griff der Nomade an seinen Gürtel, sodass seine Dolche und Säbel klirrten. Dabei lachte er, als ob das Ganze für ihn nichts weiter als ein amüsanter Ausflug wäre. »Entschuldigt mich, Ihr edlen Herren«, sagte er schließlich und verneigte sich vor Malek und seinen Brüdern. »Ich muss mich jetzt um meine Männer kümmern.«

Er ging mit selbstsicheren, schwingenden Schritten davon.

Das Pferd schnaubte und stieß Beatrice auffordernd an.

»Pst, sei leise!«, flüsterte sie erschrocken und fuhr fort, den Hals des Tieres zu tätscheln.

Malek und seine Brüder waren noch da, kaum drei Meter von ihr entfernt. Auch wenn sie - im Gegensatz zu Jaffar - nichts zu verbergen hatten, so wären sie bestimmt nicht erfreut gewesen zu entdecken, dass sie belauscht wurden. Noch dazu von einer Frau.

»Was ist mit dir, Malek?«, fragte Assim seinen ältesten Bruder, der Jaffar immer noch gedankenverloren nachschaute. »Stimmt etwas nicht?«

»Und ob!«, antwortete Murrat an Maleks Stelle. Der drittälteste Bruder war ein stämmig gewachsener junger Mann, der immer aussah, als ob er schlechte Laune hatte. »Ich sagte dir gleich, wir können diesem Kerl nicht trauen. Wir hätten die Reise nach Gazna besser allein antreten sollen.«

»Ich weiß, Murrat, ich weiß«, erwiderte Malek. » Auch ich traue Jaffar nicht eine Handbreit über den Weg. Aber du vergisst, dass wir durch gefährliches Gebiet reisen müssen. Räuber und Sklavenhändler lauern überall, hinter jedem Hügel, hinter jedem Felsvorsprung. Wie sollten wir allein meine junge Gemahlin vor dieser tödlichen Gefahr beschützen?«

»Und doch wäre es klüger gewesen«, sagte Murrat grimmig, »denn jetzt müssen wir auch noch die Nomaden im Auge behalten. Wer weiß, vielleicht steckt dieses Pack sogar mit den Räubern unter einer Decke. Möglich, dass sie uns geradewegs in einen Hinterhalt führen. Lohnen würde es sich. Allein die Schimmel sind ein Vermögen wert. Und ich möchte nicht wissen, welche Schätze die Juwelenhändler in ihren Taschen herumtragen.«

»Murrat, glaubst du nicht, dass du mal wieder alles viel zu schwarz siehst?«, fragte Kemal, der Zweitälteste der vier Brüder mit seiner stets ruhigen und sanften Stimme. »Nur weil diese Männer zum Volk der Nomaden gehören, muss das noch lange nicht heißen, dass sie Betrüger sind.«

Doch Murrat verzog verächtlich die Mundwinkel. »Ich habe noch nie einen Nomaden getroffen, dem ich vertrauen konnte. Du etwa?«

»Nun, wenn ich ehrlich bin, steht mir darüber kein Urteil zu«, erwiderte Kemal mit einem sanften Lächeln. »Diese Männer sind nämlich die ersten Nomaden, deren nähere Bekanntschaft ich machen darf.«

Murrat schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. Es sah nicht so aus, als würden ihn die Worte seines Bruders überzeugen.

»Hast du denn nie zugehört, wenn Großvater berichtet hat, wie er ...«

»Kemal hat Recht, Murrat«, lenkte Malek ein. »Wir wissen nichts über Jaffar und seine Männer. Wir sollten erst einmal abwarten.«

»Ja habt ihr denn alle keine Augen im Kopf?«, rief Murrat aus. »Vier Männer als Begleitung für eine Karawane! Noch dazu eine, welche die Mitgift einer wohlhabenden frisch vermählten Frau und die Waren von Juwelenhändlern transportiert. Das stinkt doch zum Himmel! Allah allein mag wissen, was diese Kerle im Schilde führen. Aber wenn ihr tatsächlich erst darauf warten wollt, dass sie uns ausrauben, verschleppen oder gar töten, so solltet ihr euch besser jetzt gleich ...«

»Murrat!« Maleks Stimme klang scharf. »Sei jetzt sofort still. Assim beginnt bereits sich zu fürchten!«

»Tu ich gar nicht«, mischte sich Assim empört ein. »Ich fürchte mich überhaupt nicht. Behandle mich nicht immer wie ein Kind, Malek. Ich bin schon fast vierzehn. Ich kann selber ...«

»Schweig!«, riefen Murrat und Malek gleichzeitig. Assim hielt seinen Mund. Doch er verschränkte seine Arme vor der

Brust, runzelte zornig die Stirn und stampfte mit dem Fuß auf. Ohne dass er es wollte, sah er jetzt wirklich wie ein Kind aus. Wie ein schmollender unzufriedener, kleiner Junge, der es nicht ertragen konnte, von seinen großen Brüdern fortgeschickt worden zu sein, die lieber ohne ihn Fußball spielen wollten.

»Malek, höre mir zu. Diese Karawane besteht aus mindestens dreißig Personen. Dazu kommt noch etwa die doppelte Anzahl an Pferden«, begann Murrat die Diskussion wieder. »Sogar für den Fall, dass die Nomaden nicht mit dem Räubergesindel unter einer Decke stecken sollten, wird so eine stattliche Karawane Schurken aus dem ganzen Land anlocken wie Pferdemist die Fliegen. Dieses elende Geschmeiß wird sich wie ausgehungerte Geier auf uns stürzen. Und wenn sich dann nicht herausstellen sollte, dass die Nomaden über besondere Fähigkeiten oder gar Zauberkräfte verfügen, werden wir Gazna niemals lebend erreichen.«

Malek seufzte hörbar. »Ich weiß, Murrat. Auch ich kann mir nur schwer vorstellen, woher Jaffar seine Selbstsicherheit nimmt, mit nur vier Männern diese Karawane ausreichend beschützen zu wollen«, sagte er. »Aber du vergisst eines, mein Bruder. Jaffar und seine Männer sind nicht die Einzigen auf unserer Reise, die es verstehen, mit Schwert und Dolch umzugehen. Über die Juwelenhändler und ihre Diener kann ich zwar kein Urteil fällen, aber wir sind immerhin auch noch da. Und mit uns, mein Bruder, sind es mindestens acht Männer, die in der Lage sind ...«

»Neun!«, rief Assim empört dazwischen. »Immer vergesst ihr mich. Ich kann doch auch ...«

Murrat packte den Griff seines Schwertes.

»Jawohl«, sagte er grimmig, ohne auf Assims Einwand zu achten. »Beim Heiligtum von Mekka, du kannst dich darauf verlassen, dass ich meine Augen offen halten werde. Ich werde deine junge Braut beschützen, Malek, zur Not mit meinem Leben.«

Malek legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ich danke dir, mein Bruder. Ich danke dir von ganzem Herzen für deine Treue«, sagte er. »Doch nun lasst uns gehen. Vermutlich werden wir gleich aufbrechen, und ich will nicht, dass Yasmina unruhig wird. Oder gar einer von Jaffars Männern ihr zu nahe kommt.«

Beatrice wartete noch eine Weile, bis die vier Brüder außer Sichtweite waren. Erst dann wagte sie sich aus ihrem Versteck hervor. Gedankenverloren ging sie zu Yasmina zurück. Was sie innerhalb weniger Augenblicke erfahren hatte, gab ihr genügend Stoff zum Nachdenken.

»Wo warst du, Sekireh?«, erkundigte sich Assim, als sie schließlich die anderen erreichte. Anscheinend hatte er bereits die Auseinandersetzung mit seinen Brüdern vergessen, denn er strahlte über das ganze hübsche Jungengesicht, als läge ein spannendes Abenteuer vor ihm. »Wir wollen gleich aufbrechen. Bist du schon einmal mit so einer großen Karawane unterwegs gewesen? Ich nicht. Malek und Murrat und Kemal meinen sogar, dass es gefährlich werden könnte, dass in den Bergen Räu... «

»Assim!« Murrats scharfe Stimme ließ ihn zusammenzucken. »Haben wir dir nicht gesagt, du sollst den Mund halten? Du bist klatschsüchtiger als ein Waschweib. Ich habe Malek gleich gesagt, dass wir dich zu Hause lassen sollen. Du machst nichts als Ärger.«

»Mach ich gar nicht«, widersprach Assim, und vor lauter Empörung traten ihm sogar Tränen in die Augen. »Ich wollte doch nur ...«

»Hör nicht auf ihn, Assim«, sagte Kemal sanft und legte seinem jüngsten Bruder beschwichtigend eine Hand auf den

Kopf. »Geh jetzt zu deinem Pferd und prüfe noch einmal nach, ob die Gurte auch wirklich fest angezogen sind, ob du deine Verpflegung dabei hast und dein Wasserschlauch aufgefüllt ist und keine Löcher aufweist. Wir brechen gleich auf.«

Der Junge wischte sich rasch mit dem Ärmel seines Reisemantels die Tränen aus den Augenwinkeln und ging dann ohne ein weiteres Wort zu seinem Pferd.

»Verzeih, Sekireh«, sagte Kemal. »Ich hoffe, Assim hat dir mit seinem Geschwätz keine Angst gemacht. Er ist noch ein Kind. Und Allah hat diesen Jungen mit einer ausgeprägten Einbildungskraft gesegnet, die manchmal zu erschreckenden Einfällen führt.«

»O nein, du kannst beruhigt sein, er hat mir keine Angst gemacht«, erwiderte Beatrice und dachte, dass Assim keinesfalls ein Kind war, das sich Geschichten ausdachte. Vermutlich war er einfach noch zu jung, um erkennen zu können, wann es besser war zu lügen. Im Gegensatz zu seinen Brüdern. »Ich kann Wahrheit und Fantasie in der Regel gut unterscheiden. «

Sie strahlte Kemal unbefangen an.

»Ja ... ja, natürlich«, stammelte er, und sein freundliches Lächeln wurde ein wenig unsicher. »Ich muss mich jetzt auch um mein Pferd kümmern. Entschuldige mich.«

Er verneigte sich hastig und verschwand.

Yasmina küsste und umarmte noch ein letztes Mal ihre Eltern und Brüder, bevor sie, Beatrice und die beiden Dienerinnen eine Sänfte bestiegen, die von vier Pferden getragen wurde. Beatrice war wenig begeistert über diese Aussicht. Wenn sie selbst hätte entscheiden dürfen, wäre sie viel lieber den ganzen Weg bis nach Gazna geritten. Doch man ließ ihr keine Wahl. Sie war eine Frau. Und eine ehrbare Frau hatte nur in seltenen Ausnahmefällen etwas auf einem Pferderücken verloren. Im Übrigen sollte sie bescheiden, sittsam und vor den Augen fremder Männer verborgen in ihrer Sänfte bleiben. Mit einem flauen Gefühl im Magen bestieg sie mit Hilfe eines treppenähnlichen Podests die Sänfte. Ihre Erfahrungen mit dieser Form der Fortbewegung hatten bisher jedes Mal zu blauen Flecken, Rückenschmerzen und Übelkeit geführt. Doch diese Sänfte schien anders zu sein. Sie war sehr lang und breit und so geräumig, dass die vier Frauen nicht nur bequem beieinander sitzen konnten, ohne sich gegenseitig einzuengen, sie konnten sich richtig ausstrecken und hinknien, wenn sie wollten. Es gab sogar zwei Tische, auf denen bereits Schalen mit frischem Obst und vier Becher standen. Eine große Zahl dicker Polster und noch mehr Kissen versprach eine wenigstens einigermaßen stoßfreie Reise. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass es unter den dichten, schweren Stoffen im Laufe des Tages nicht zu heiß im Innern der Sänfte werden würde.

Als es sich alle vier Frauen bequem gemacht hatten, öffnete eine der Dienerinnen den Vorhang einen Spaltbreit und spähte hinaus.

»Seht nur, Herrin, es geht los!«, rief sie aufgeregt, als sich die Karawane auf einen schrillen Pfiff hin in Bewegung setzte.

Yasmina tupfte sich mit einem seidenen Tuch die Tränen von den mit Kohle geschminkten Augen. Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie die Freude und Erregung ihrer Dienerin teilen würde.

»Ja«, erwiderte sie tonlos. »Etwa zehn Tage sind wir unterwegs, bis wir Gazna erreichen. Und was dort auf mich wartet, weiß nur Allah.«

»Du hast mir gestern erzählt, dass Gazna eine große Stadt sei«, sagte Beatrice und sah Yasmina bedeutungsvoll an. »Meiner Erfahrung nach sind in großen Städten viele Dinge möglich, die anderswo nie geschehen könnten. Man erzählt sich so viel. Wer weiß, vielleicht ist Gazna sogar ein Ort, an dem Träume wahr werden können.«

Unter ihrem Blick verschwand die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit von Yasminas Gesicht, und schließlich lächelte sie sogar.

»Du hast Recht. Ich sollte nicht traurig sein über das, was ich hinter mir lasse«, erwiderte Yasmina. »Vielmehr sollte ich mich auf das freuen, was vor mir liegen mag. Natürlich ist alles ungewiss, verborgen hinter den dichten Schleiern der Zukunft. Doch gerade diese Ungewissheit birgt viele Möglichkeiten, unendlich viele. Und es mag sein, dass bei näherer Betrachtung die meisten davon sogar sehr schön sind.«

»Seid nicht betrübt, Herrin, wenn Euch Ängste plagen. Ihr seid noch jung und unerfahren. Doch ich bin sicher, dass Euch das Leben an der Seite Eures Ehemannes gefallen wird«, sagte die Dienerin, die natürlich nicht begriff, dass Yasmina von anderen Dingen als der Ehe sprach. »Euer Gemahl ist so ein edler, schöner und großmütiger Herr. Wenn Ihr meine eigene Tochter wärt, ich würde Euch keinen anderen Gemahl wünschen. Ihr werdet sehen, dass ich Recht habe, Herrin. Ihr werdet glücklicher sein, als Ihr es je zuvor wart. Und wenn sich dann eines Tages alle Eure Hoffnungen erfüllen und Euch die ersehnten Söhne geboren werden ...«

Ein derart seliges Lächeln verklärte das Gesicht der Dienerin, dass man den Eindruck gewinnen konnte, in Wahrheit sei sie es, die gerade frisch vermählt worden war.

»Du hast Recht, Mahtab«, sagte Yasmina, doch ihr Lächeln wirkte gequält. »Mich erwartet gewiss ein schönes Leben voller Glück und Zufriedenheit.«

»Und Liebe, Herrin«, fügte die andere Dienerin hinzu.

»Ja, natürlich, Liebe.« Yasmina sprach so leise, dass nur noch Beatrice direkt neben ihr sie verstehen konnte. »Ich denke die ganze Zeit über an nichts anderes.«

Bereits vom ersten Tag ihrer Reise an begann sich die Landschaft zu verändern. Sie war bei weitem nicht mehr so karg und lebensfeindlich wie die, die Beatrice auf ihrem Weg nach Qum durchquert hatte. Die Grasbüschel wurden immer dichter, und ihre Farbe wechselte von dem halb vertrockneten, ungesunden Grau zu einem lebendigen, saftigen Grün. Vereinzelt wuchsen sogar kleine verkrüppelte Bäume, die trockene, wie verschrumpelte Lederbeutel aussehende Früchte trugen. Die Steine schienen zu wachsen, bis aus dem überall herumliegenden Geröll richtige Felsen geworden waren, manche von ihnen so riesig, dass ein Reiter sich ohne Schwierigkeiten dahinter verstecken konnte. Das Land wurde immer hügeliger, und der dunkelgraue Schatten, anfänglich kaum mehr als ein Streifen, der sich am Horizont in die Höhe erhob, wurde beinahe von Stunde zu Stunde größer. Je näher sie dem Gebirge kamen, umso fruchtbarer wurde auch das Land. Wenn sie die dichten Vorhänge einen winzigen Spalt öffnete, sah Beatrice immer öfter schmale Bäche, in denen das Wasser träge über die Steine floss, als würde es sich vor der nahen Wüste fürchten. Sie sah Schaf- und Ziegenherden, Gemüsebeete und Getreidefelder. Anfangs waren die Tiere noch mager, und Obst und Gemüse wuchs nur vereinzelt auf den kargen grobscholligen Äckern. Doch Schafe und Ziegen wurden allmählich dicker und Gurken und Melonen immer größer. Und sie sah Häuser. Niedrige Häuser mit flachen Dächern und winzigen Schießscharten ähnlichen Fenstern. Schließlich erblickte sie sogar vereinzelte Wälder.

Von diesen optischen »Höhepunkten« einmal abgesehen, verlief ihre Reise überaus eintönig. Den ganzen Tag ertrugen sie tapfer die Hitze und ließen sich träge von den gleichmäßigen Bewegungen hin und her schaukeln, die zwar lästig, aber keinesfalls so schlimm waren, wie Beatrice befürchtet hatte. Vermutlich lag es an der Größe der Sänfte. Das ständige Auf und Ab war kaum schlimmer als das leichte Schaukeln einer Elbfähre bei ruhigem Seegang. Zu tun hatten sie nichts. Sie konnten sich noch nicht einmal mit Stickerei oder anderen Handarbeiten die Zeit vertreiben. Das Gespräch war die einzige Beschäftigung. Und da Yasmina sich zunehmend in Schweigen hüllte und Amina, die andere Dienerin, eher von stiller Natur war, blieb Beatrice das einzige Opfer der schwatzhaften Mahtab. Schon nach zwei Tagen wusste Beatrice alles, was es an Wissenswertem über die beiden Dienerinnen, Yasminas Eltern, Brüder und die Dienerschaft in ihrem Elternhaus gab. Sie wusste, dass die schwatzhafte Mahtab überall Zeichen und Omen sah und auch die Existenz von Dschinnen, Hexen, Feen und Elfen nicht ausschloss. Sie las Beatrice die Zukunft aus den Handlinien und prophezeite ihr ein langes, glückliches Leben, einen wohlhabenden Ehemann und nicht weniger als vier Söhne und zwei Töchter.

Was Beatrice zu Beginn der Reise noch amüsiert hatte, begann ihr schon bald lästig zu werden. In den Jahren ihrer Tätigkeit in der Chirurgie hatte sie sich die Fähigkeit erworben, in jeder nur erdenklichen Lage und Position einschlafen zu können - und sei es aufrecht auf dem Stuhl in der Morgenbesprechung vor den Augen aller Kollegen. Jetzt zahlte sich diese Fähigkeit aus. Sie hörte einfach nicht mehr auf Mahtabs Geschwätz, sondern döste vor sich hin, horchte auf die Stimmen der Männer, die an der Sänfte vorbeiritten, und dachte über die Gespräche nach, die sie in der Oase belauscht hatte. Sie wusste immer noch nicht, wer oder was die Fidawi waren, doch jedes Mal, wenn ihr dieses Wort einfiel, bekam sie aus unerklärlichen Gründen vor Angst Bauchschmerzen. Während sie sich den Kopf darüber zerbrach, nickte sie in unregelmäßigen Abständen ein und gab zustimmende Laute von sich, sodass Mahtab nicht einmal bemerkte, dass sie ihr gar nicht wirklich zuhörte. Dabei hoffte sie inständig, dass die

Eintönigkeit ihrer Reise irgendwann ihre Wirkung auch auf Mahtab zeigen und ihrem Redefluss endlich ein Ende setzen würde.

Jeden Abend, wenn die Sonne unterging, hielt die Karawane an. Dann schlugen die Männer rasch ein Zelt für die vier Frauen auf, in dem sie mit verhüllten Gesichtern verschwanden und das sie bis zum nächsten Morgen nicht mehr verließen. Malek war der Einzige, der jeden Abend zu ihnen ins Zelt kam, um sich nach dem Wohlergehen seiner jungen Frau zu erkundigen. Ansonsten langweilten sie sich auch hier tödlich. Zum ungewohnten Nichtstun verdammt, sank Beatrices Laune auf den Tiefpunkt. Sie war so weit, dass sie sogar mit Freuden damit begonnen hätte, ihren Keller aufzuräumen, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte. Allerdings schien es Yasmina noch schlimmer zu ergehen. Beatrice merkte ihr an, wie es ihr in den Fingern juckte, ihre Erlebnisse und Gedanken niederzuschreiben. Doch vor den wachsamen Augen ihrer Dienerinnen schien sie es nicht zu wagen, Pergament und Federkiel hervorzuholen. Die junge Frau war wie eine Süchtige auf Entzug. Von Stunde zu Stunde wurde sie nervöser und reizbarer, und die Atmosphäre zwischen den vier Frauen knisterte geradezu vor unterdrückten Spannungen.

Es war gegen Mittag des sechsten Tages. Sie hatten etwa die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als die Karawane so plötzlich anhielt, dass Amina einen Becher umstieß. Das Wasser ergoss sich über Yasminas Kleidung. Sofort begann sie so laut zu schimpfen und zu zetern, als hätte die Dienerin ein verabscheuungswürdiges Verbrechen begangen. Die ganze angestaute Gereiztheit der vergangenen Tage entlud sich mit der Gewalt einer vulkanischen Eruption. Es war, als hätte Amina versehentlich einen Tropfen Wasser in ein Fass mit Nitroglyzerin fallen lassen.

Während sich Yasminas ungerechter Zorn immer noch über Aminas geduldigem Haupt ergoss und Mahtab hektisch versuchte die Kleidung ihrer Herrin mit einem Seidentuch zu trocknen, öffnete Beatrice den Vorhang einen Spalt, um zu sehen, was eigentlich geschehen war. War es jetzt etwa so weit? Wurden sie überfallen? Ihr Herz klopfte wie ein Dampfhammer, während sie sich alle möglichen Horrorszenarien ausmalte. Sie sah sich sogar schon nur leicht bekleidet mit Hand- und Fußfesseln auf dem Sklavenmarkt stehen, schutzlos den lüsternen Blicken einer geifernden Schar von dickbäuchigen Männern mit grauen Vollbärten und Halbglatzen ausgesetzt.

Doch da war nichts. Die Landschaft war mittlerweile so frisch und grün wie der Garten Eden selbst. Das war aber auch schon alles. Sie sah weder Reiterhorden in der Ferne, die sich ihnen rasch näherten, noch Staubwolken, und es gab auch keinen Lärm, der auf einen Kampf hätte schließen lassen. Das Einzige, was sie hörte, war Murrats gereizte Stimme. Aber nicht einmal das war ungewöhnlich.

»Wir hätten den Kleinen zu Hause lassen sollen!«, sagte er gerade zu seinem Bruder Kemal, während die beiden an der Sänfte vorbeiritten.

Das klang, als ob sie über Assim sprachen. Aber warum? War etwas geschehen? Hatte der Junge eine Dummheit begangen? Angestrengt schaute Beatrice hinaus, verrenkte sich beinahe den Hals und versuchte zu verstehen, was draußen vor sich ging, während Yasmina in ihrem Rücken immer noch schimpfte. Jetzt richtete sich ihr Zorn jedoch gegen Mahtab.

Endlich, nachdem mindestens eine halbe Ewigkeit vergangen sein musste, kam Malek her angeritten. Gerade noch im richtigen Augenblick zog Beatrice den Vorhang wieder zu, bevor er den Kopf zu ihnen in die Sänfte steckte. Und sofort wusste sie, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Der junge Mann war kreidebleich.

»Was ist los, Malek?«, fragte Yasmina, die sich offenbar durch den Anblick ihres Ehemannes schlagartig wieder beruhigt hatte. »Warum bleiben wir stehen und setzen unsere Reise nicht fort?«

»Assim«, antwortete Malek mit so unheilschwerer Stimme, dass Beatrice mit dem Schlimmsten rechnete. »Er ist weit vorausgeritten, weil er die Gegend erkunden wollte. Er war allein, niemand war bei ihm, als es geschehen ist. Einer der Nomaden hat ihn gefunden. Er muss vom Pferd gestürzt sein.«

»Und?«, mischte sich Beatrice ein. »Wie geht es ihm? Ist er verletzt?«

Vielleicht war Malek ein fortschrittlicher junger Mann, der die strengen Sitten seiner Landsleute nicht so ernst nahm. Vielleicht war er aber auch einfach nur zu schockiert durch den Unfall seines Bruders, um Beatrices unverschämtes Verhalten zu bemerken und sie dafür zu tadeln. Oder es lag an ihrer ungeduldigen »Chirurgenstimme«, wie ihr Vater es immer nannte, wenn sie etwas sofort wissen wollte und keinen Widerspruch duldete. Malek sah sie zwar überrascht an, antwortete jedoch gehorsam.

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Er liegt regungslos auf der Erde. Er steht nicht auf und gibt auch keine Antwort. Keiner wagt es, ihn anzurühren. Es macht fast den Eindruck, als hätte ihn ein Blitz getroffen und zu Boden geschmettert.«

»Ich muss sofort zu ihm«, sagte Beatrice und schob Amina unsanft zur Seite, um aus der Sänfte steigen zu können.

»Aber Sekireh, was ...«, begann Yasmina.

»Ich muss ihn mir ansehen«, erklärte Beatrice. »Vielleicht kann ich ihm helfen.«

Sie schob sich an Malek vorbei aus der Sänfte hinaus und blickte sich um.

»Wo ist er?«, fragte sie Malek.

»Dort«, antwortete er und zeigte sichtlich verwirrt zur Spitze ihres Zuges. »Dort vorne haben wir ihn gefunden. Aber ...«

»Lass mich zu dir in den Sattel steigen, Malek«, sagte Beatrice. »Dann bin ich schneller bei ihm. Und je eher, umso besser.«

»Aber was willst du von meinem Bruder?« Der junge Mann schien allmählich wütend zu werden. »Was führst du im Schilde, Weib? Bist du von Sinnen? Warum ...«

»Ich bin Ärztin«, antwortete Beatrice, ohne darüber nachzudenken, dass diese Botschaft wohl kaum in Maleks Weltbild passte. »Ich bin der Heilkunde mächtig, wenn du so willst. Und ich versichere dir, wenn es jemanden in dieser Karawane gibt, der deinem Bruder - vielleicht - noch helfen kann, dann bin ich es.« Sie machte eine Pause und sah ihn streng an. »Nun, was ist? Willst du mich jetzt endlich zu ihm bringen, bevor wirklich jede Hilfe zu spät kommt?«

Offenbar wusste Malek der Autorität einer Frau, die sich im 21. Jahrhundert als allein erziehende Mutter in einem Männerberuf zu behaupten verstand und zusätzlich Erfahrungen mit zwei Zeitreisen hatte, nichts entgegenzusetzen. Sprachlos vor Überraschung klappte er seinen Mund wieder zu und zog Beatrice gehorsam zu sich in den Sattel hinauf. Dann trat er seinem Pferd in die Flanken, und sie ritten los, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.

Schon von weitem sahen sie die Männer, die einen engen Kreis bildeten. Die abergläubischen Nomaden murmelten vor sich hin und malten mit den Daumen seltsame Zeichen auf ihre Stirnen, einige der Händler riefen Allah um Hilfe und Vergebung an. Beatrice glitt vom Pferd und bahnte sich unter Schubsen und Drängeln einen Weg durch die Menge. Erst als sie den Verletzten erreicht hatte und neben ihm niederkniete, erhob sich um sie herum ein missmutiges Murren, so als hätten die Männer erst jetzt begriffen, dass es eine Frau gewesen war, die sie zur Seite gestoßen hatte. Zwei der Nomaden waren darüber sogar so erbost, dass sie ihr mit den Fäusten drohten, doch zum Glück gebot Malek ihnen Einhalt.

»Lasst sie«, sagte er. »Sie weiß, was sie tut. Und außerdem ist Assim mein Bruder.«

Beatrice sah kurz zu ihm auf. Malek nickte ihr zu. Allerdings machte er den Eindruck, als ob er ein halbes Vermögen gegeben hätte, um seinen eigenen Worten glauben zu können. Doch für beruhigende Worte hatte sie jetzt keine Zeit. Sie wandte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Verletzten zu.

Assim lag mit geschlossenen Augen auf der Seite.

»Assim?«, sprach sie ihn an, während ihr Blick rasch über ihn hinwegglitt. Er sah nicht aus, als ob er verletzt wäre, nirgendwo konnte Beatrice Blut entdecken, Arme und Beine wiesen keine Deformierungen auf. Selbstverständlich gab es Verletzungen, die keine oder nur geringe äußere Spuren hinterließen. Besonders beim Sturz vom Pferd. Und das war unter Umständen viel gefährlicher als ein Knochenfragment, das sich für jeden Trottel sichtbar durch die Haut gebohrt hatte.

»Assim, bitte nicht erschrecken, ich werde dich jetzt anfassen, um dich zu untersuchen«, sagte sie, obwohl sie nicht sicher war, dass er sie hörte. Er schien bewusstlos zu sein. Trotzdem. Dies war eine der obersten Regeln aller Notfallmediziner: Immer den Patienten ansprechen, egal, wie tief das Koma zu sein schien.

Rasch und ohne ihn zu bewegen tastete sie Assims Schädel ab. Glücklicherweise spürte sie dabei nicht das ekelhafte Knirschen und Reiben unter ihren Fingerspitzen, das die Chirurgen Crepitatio nennen und das nur dann auftritt, wenn die Bruchkanten von Knochenstücken gegeneinander reiben. Weder aus den Ohren noch aus der Nase floss Blut, er schien auch kein Brillenhämatom zu entwickeln. So weit sie es in der

Kürze der Zeit beurteilen konnte, hatte Assim also keine Fraktur des Schädels oder der Schädelbasis erlitten. Das war doch schon mal etwas.

»Assim?«, fragte sie nochmals und hob seine Augenlider. Der plötzliche Lichteinfall ließ seine Pupillen rasch enger werden. Wunderbar. Er hatte eine Pupillenreaktion, und das sogar gleichmäßig auf beiden Seiten. Ein weiterer Punkt für die Guten. »Assim, kannst du mich hören? Ich bin es, Bea... « Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich bremsen. Sie hustete, um ihre Verlegenheit zu verbergen. »Sekireh«, verbesserte sie sich.

»Ich weiß!«, flüsterte Assim, ohne die Augen zu öffnen. »Ich habe deine Stimme erkannt.«

»Schön, dass du bei uns bist, Assim«, sagte sie und strich ihm beruhigend über das dichte schwarze Haar. »Ist dir übel? Hast du irgendwo Schmerzen?«

»Mein Rücken ...« Assim stöhnte und versuchte seinen Arm so zu drehen, dass er Beatrice die Stelle zeigen konnte, doch sie hielt ihn zurück.

»Nicht, Assim, jetzt nicht bewegen. Ich werde deinen Rücken zuerst untersuchen. Dafür brauche ich deine Hilfe. Du musst meine Fragen beantworten und genau das tun, was ich dir sage, aber auf gar keinen Fall mehr. Hast du mich verstanden?«

»Ja.«

»Gut.«

Überaus vorsichtig tastete sie die Hals- und Brustwirbelsäule des Jungen ab. Sie hatte noch nicht einmal die Mitte der Wirbelsäule erreicht, als Assim vor Schmerz stöhnte.

»Dort tut es weh?« »Ja.«

Sie tastete vorsichtig den Bereich ab, und trotz der Erfahrungen von zehn Jahren chirurgischer Tätigkeit wurde ihr schlecht. Die Dornfortsätze zweier Wirbelkörper ließen sich bewegen wie bei diesen Gummiskeletten, die es um Halloween herum überall in den Läden zu kaufen gab. Anatomisch gesehen war das eine Unmöglichkeit.

»Was ist passiert?«, fragte sie, während sie noch vorsichtiger als bisher Wirbelkörper für Wirbelkörper bis zur Lendenwirbelsäule nach unten abtastete und dabei nach weiteren Frakturen suchte. »Kannst du dich daran erinnern?«

»Mein Pferd' hat gescheut. Vielleicht war eine Schlange im Gras oder eine Maus, ich weiß es nicht. Jedenfalls konnte ich mich nicht mehr im Sattel halten. Und dann bin ich gefallen.«

»Auf den Rücken?«

»Ja.«

Beatrice presste die Lippen zusammen. Eine Wirbelkörperfraktur war immer eine überaus heikle Angelegenheit. Noch schlimmer wurde die Sache dadurch, dass sie hier keine vernünftigen diagnostischen Möglichkeiten hatte. Sie konnte ja noch nicht einmal ein Röntgenbild machen, um herauszufinden, welche Wirbelkörper gebrochen waren und ob es Trümmer gab, die den Rückenmarkskanal einzuengen drohten. Das Einzige, was ihr blieb, waren ihre fünf Sinne und ihr Verstand. Damit konnte sie allerdings nur feststellen, ob die Frakturen jetzt bereits das Rückenmark in Mitleidenschaft gezogen hatten oder nicht.

»Los, bringt eine Trage her, und zwar schnell!«, rief sie den umstehenden Männern zu.

»Was?«, rief Jaffar, und seine buschigen dunklen Augenbrauen zogen sich missmutig zusammen. »Wer bist du, elendes Weib, dass du es wagst, mir oder meinen Männern Befehle zu erteilen? Noch ein Wort, und ich werde dich ...«

Drohend trat er auf Beatrice zu, doch Malek stellte sich ihm in den Weg.

»Dieses Weib, Jaffar, ist eine sehr berühmte Heilerin«, stieß er zornig hervor. Beatrice sah angesichts dieser Lüge überrascht auf. »Sie sorgt seit vielen Jahren für das Wohlergehen aller Mitglieder unserer Familie. Und noch nie hat jemand es gewagt, Sekirehs Wort zu widersprechen, wenn es um die Genesung eines der Unsrigen ging. Ich rate dir also, dich ebenfalls an diese Regel zu halten, Jaffar, oder du wirst dich mit mir und meinen Brüdern messen müssen!«

Malek schlug seinen Mantel zurück und legte den Griff des Schwertes frei, das an seinem Gürtel hing. Jaffar bedachte ihn und Beatrice mit wütenden Blicken, doch schließlich zog er die Hand vom Griff seines Säbels zurück.

»Das ist die Sache nicht wert«, sagte er verächtlich, doch Beatrice hatte den Eindruck, dass er in Wirklichkeit Angst vor ihr bekommen hatte. Sie war blond und blauäugig, und viele Nomaden waren abergläubisch. Vielleicht hielt er die Geschichte über ihre Heilkünste nur für einen Teil der Wahrheit und glaubte, sie sei in Wirklichkeit eine Hexe. Und gegen die Zauberkraft von Hexen konnte man bekanntlich mit einem Schwert nichts ausrichten. »Sich zu streiten wegen eines Weibes ist eines Mannes nicht würdig.«

Der Nomade machte auf dem Absatz kehrt und rauschte mit hoch erhobenem Kopf davon. Malek atmete sichtlich erleichtert auf und nickte Beatrice zu.

»Sage mir, was du brauchst, Sekireh. Wir werden es dir schon beschaffen.«

»Zuerst benötige ich eine stabile, weich gepolsterte Trage. Und dann müssen mir zwei von euch dabei helfen, Assim auf diese Trage zu legen.«

»Aber woher sollen wir eine Trage nehmen?«, fragte Kemal. »Wir haben keine in unserem Gepäck, und außerdem ...

»Soviel ich weiß, befinden sich unter Yasminas Besitz doch auch Möbelstücke«, sagte Beatrice. »Sicher sind auch Tische dabei. Dreht zwei oder drei von ihnen um und nagelt oder bindet sie fest zusammen. Dann nehmt ihr Kissen und Decken und polstert die Trage damit aus.«

»Du willst wirklich auf das Geschwätz dieses Weibes hören, Malek?«, rief Murrat empört. »Bist du von Sinnen?«

Kemal warf Malek einen kurzen Blick zu. Auch er schien in diesem Moment an dem Verstand seines älteren Bruders zu zweifeln.

»Malek, du weißt, ich gebe Murrat für gewöhnlich nicht Recht, aber in diesem Fall ...«

»Ihr habt gehört, was Sekireh gesagt hat, Kemal«, unterbrach ihn Malek, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. »Lauft! Und beeilt euch!«

Murrat starrte auf Assim hinab, als wäre der Junge schuld an allem, was auf dieser Welt gerade schief lief.

»Ich habe doch gesagt, dieser Bursche macht nur Ärger«, brummte er, während Kemal bereits losgegangen war, um dem Wort seines älteren Bruders zu gehorchen. »Wir hätten ihn besser zu Hause lassen sollen.«

Widerwillig drehte auch er sich um und lief schließlich hinter seinem Bruder her. Malek wandte sich an Beatrice. Sein Gesicht war düster vor Sorge - aber auch vor Misstrauen.

»Du hast meine Brüder gehört, Sekireh«, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte. Die Art, wie er den Namen aussprach, ließ sie erkennen, dass er ihr nicht mehr glaubte. Ob ihm ihr Versprecher aufgefallen war? »Und ich traue dir ebenso wenig. Wir wissen nichts über dich, außer dass wir dich in der Wüste gefunden haben. Alles andere stammt nur aus deinem eigenen Mund.«

»Und weshalb vertraust du mir dann deinen Bruder an?«, fragte Beatrice. »Und warum hast du Jaffar belogen?«

»Weil ich glaube, dass Assim zurzeit keine andere Chance hat als dich. Außerdem, so abwegig es auch klingen mag, habe ich den Eindruck, dass du tatsächlich weißt, was du tust. Lass dir jedoch eines gesagt sein.« Er näherte sich Beatrice so, dass sie hören konnte, wie er die Zähne zusammen- biss. »Sollte Assim etwas geschehen, werde ich dich persönlich in siedendem Öl ertränken, so wie man es mit Hexen macht.«

Beatrice sah in seine dunklen, vor Zorn blitzenden Augen und schluckte. Malek meinte es ernst, daran gab es keinen Zweifel.

Allah, dachte Beatrice, da bin ich ja mal wieder in eine ganz tolle Lage geraten. Was mache ich, wenn Assim vom Scheitel bis zur Sohle gelähmt ist? Aber selber schuld. Warum musste ich auch schon wieder die Notärztin im Dienst spielen?

»In meiner Heimat habe ich geschworen, den Kranken zu dienen und sie nach bestem Wissen und Gewissen zu behandeln. Wir nennen es den >Eid des Hippokrates<«, sagte sie ebenso leise. »Sei also gewiss, selbst wenn mir Assim und sein Schicksal gleichgültig wären, wäre ich durch diesen Schwur dazu verpflichtet, alles zu tun, was in meiner Macht steht. Allerdings sind auch mir manchmal die Hände gebunden. Und da ich nicht über Zauberkräfte verfüge, kann ich dir also nichts versprechen.«

»Gut«, sagte Malek und richtete sich auf. »Wir werden sehen.«

Kurz danach kamen die beiden anderen Brüder mit der improvisierten Trage herbei. Sie hatten tatsächlich in Yasminas Besitz ein paar Tische gefunden, die sie aneinander gebunden hatten. Und viele der Kissen, die sie bei sich hatten, kamen Beatrice bekannt vor. Es sah so aus, als hätten sie die halbe Sänfte geplündert.

»Sehr gut«, sagte sie. »Jetzt legt die Trage direkt neben Assim auf den Boden.«

Der Junge lag immer noch mit geschlossenen Augen auf der Seite. Dann zeigte sie Malek und seinen Brüdern, wo und wie sie Assim anfassen mussten, um ihn vorsichtig und ohne die Wirbelsäule zu drehen oder zu quetschen auf die Trage hinüberzuheben.

»Auf drei!«, kommandierte Beatrice. »Eins, zwei und ... drei!«

Assim stöhnte auf, doch gleich darauf lag er sicher und weich gepolstert auf der Trage. Tränen rollten über sein hübsches Jungengesicht.

»An dir ist ein Mann verloren gegangen, Sekireh!«, sagte er und lächelte zaghaft. »Schon lange hat niemand mehr es gewagt, meinem Bruder Malek Befehle zu erteilen.«

Beatrice lächelte, auch wenn ihr gerade nicht danach zumute war. Am Krankenbett sollte ein Arzt nicht weinen. Nicht einmal dann, wenn die Tapferkeit eines vierzehnjährigen Jungen einem derart ans Herz ging.

»Assim, höre mir jetzt gut zu«, sagte sie und beugte sich so über ihn, dass er sie ansehen konnte, ohne den Kopf dabei zu drehen. »Ich werde jetzt mit der Untersuchung fortfahren. Du beantwortest bitte schnell und ohne zu überlegen meine Fragen. Dies ist keine Prüfung deines Wissens oder Könnens. Ich brauche nur eine ehrliche Antwort.«

Beatrice klopfte das Herz bis zum Hals, als sie einen langen Grashalm herausriss und mit ihm über die Innenseite der Arme des Jungen strich. Was, wenn er nichts spürte? Wenn beim Sturz nicht nur die Wirbelsäule, sondern auch das Rückenmark verletzt worden war? Wenn er querschnittsgelähmt war? In diesem Augenblick dachte sie nicht einmal mehr an Maleks Drohung. Sie hatte den fröhlichen, unbeschwerten Assim innerhalb dieser kurzen Zeit so fest in ihr Herz geschlossen, dass der Gedanke, ihn für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen zu sehen, schier unerträglich war.

»Fühlst du das?«, fragte sie und wartete unruhig auf die Antwort.

»Ja, das kitzelt«, sagte Assim, und Beatrice hätte ihn dafür küssen können. »Ist das ein Grashalm?«

»Richtig geraten. Und wie ist es damit?«

Sie krempelte die Beine seiner weiten Hose hoch und strich mit dem Grashalm über die Haut der Oberschenkel.

»Das kitzelt auch.«

Beatrice zog die Stiefel von Assims Füßen und berührte seine Zehen.

»Und das?«

»Beim Barte des Propheten! Willst du mich etwa foltern?«, rief Assim aus. »Hör auf damit, ich bin kitzlig!«

Beatrice fiel der erste Stein vom Herzen. Anscheinend hatte er keine Störungen in der Sensibilität. Aber was war mit seiner Motorik? Die musste sie auch noch prüfen.

»Das hast du alles sehr gut gemacht, Assim. Jetzt lege die Fingerspitzen aneinander.« Er schaffte es ohne Probleme. »Und nun drücke meine Hände so fest du kannst. Das reicht!«, rief sie lachend. »Du zerquetschst mir ja die Hand! Und jetzt, das ist auch schon das Letzte, was ich von dir verlange, wackle mit den Zehen.«

Alle zehn Zehen bewegten sich gleichmäßig. Beatrice schloss für einen Moment die Augen und schickte ein Dankgebet zum Himmel. Ihr war fast schwindlig vor Erleichterung.

»Was ist mit mir?«, fragte Assim.

Beatrice beugte sich wieder über sein Gesicht, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen konnte.

»Du hast dir beim Sturz die Wirbelsäule verletzt«, sagte sie und strich ihm über das Haar. »Aber du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst bald wieder gesund werden. In ein paar Wochen wirst du wieder aufstehen und reiten und vom Pferd fallen können. Vorausgesetzt, du bist ein braver Junge und tust genau das, was ich dir sage.«

»Ja«, erwiderte er und sah sie mit dem vertrauensvollen, treuen Blick eines Hundes an. »Ich werde alles tun, was du von mir verlangst.«

»Ich weiß«, sagte sie und lächelte. »Du wirst den Rest unserer Reise auf dieser Trage verbringen. Du darfst deine Arme bewegen und deinen Kopf nach rechts und links drehen, mehr nicht. Du mussf versuchen deine Beine still zu halten und den Kopf nicht anzuheben. Und auf gar keinen Fall und unter gar keinen Umständen darfst du dich aufsetzen. Hast du mich verstanden?«

Assim nickte vorsichtig und langsam.

»Ich lasse dich in die Sänfte bringen, Assim«, sagte Beatrice und erhob sich. »Yasmina wird sich um dich kümmern und versuchen dir die Zeit ein wenig zu vertreiben. Sie kennt viele Geschichten und Gedichte, die sie dir bestimmt gern erzählen wird. Du magst doch Geschichten?«

Der Junge nickte wieder.

»Murrat, Kemal!«, kommandierte Malek seine beiden Brüder. »Ihr habt Sekireh gehört. Bringt Assim in die Sänfte.«

»Aber seid um alles in der Welt vorsichtig«, ermahnte Beatrice sie noch. »Ihr dürft auf keinen Fall stolpern.«

Die beiden Brüder hoben behutsam die Trage vom Boden auf und trugen sie langsam, jeden Schritt sorgfältig erwägend, zu der Sänfte zurück. Nachdem sich Murrat und Kemal mit der Trage entfernt und die Menschenmenge sich etwas zerstreut hatte, packte Malek Beatrice am Arm und zog sie zur Seite.

»Was ist wirklich mit meinem Bruder?«, fragte er leise und eindringlich. »Du hast ihm nicht die volle Wahrheit gesagt, das sehe ich dir an. Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren. Solange mein Vater und meine Mutter nicht bei ihm sind, bin ich als sein ältester Bruder für Assim verantwortlich. Also sprich endlich!«

Beatrice holte tief Luft. Sie wollte Malek ja gern die Wahrheit sagen, aber wie?

»Assim hat sich die Wirbelsäule gebrochen«, begann sie. »Das ist, ähnlich wie ein Beinbruch, an sich nicht lebensbedrohlich. Außerdem habe ich ihn gründlich untersucht, er hat bisher keine Schäden davongetragen. Aber sollte er in der Zeit, die seine Knochen für die Heilung benötigen, eine falsche Bewegung machen oder abermals stürzen, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Verletzung schwerwiegender wird.«

»Was willst du damit sagen?« Malek sah sie voller Angst an. »Ich verstehe nicht, was du ...«

»Um es ganz deutlich auszudrücken, bei falscher Behandlung besteht die Gefahr, dass Assim gelähmt wird. Für immer.«

Malek wurde kreidebleich. »Ein Krüppel?«, flüsterte er. »Allah! Das darf nicht geschehen! Meine Eltern waren ohnehin dagegen, dass er uns nach Qum begleitet. Und sie haben nur eingewilligt, weil Assim nicht aufhören wollte, sie anzuflehen. Sie haben ihn mir anvertraut, und ich habe ihnen mein Wort gegeben, dass ihm nichts zustoßen wird. Wenn er nun für den Rest seines Lebens ein lahmer Krüppel bleiben sollte ... Ich würde es mir nie verzeihen. Nie wieder könnte ich meinem Vater oder meiner Mutter unter die Augen treten.« Er drückte Beatrices Arm so fest, dass es schmerzte. »Ich weiß nicht, wer oder was du bist, Weib, aber ich flehe dich an, tu alles, was in deiner Macht steht, um meinen jüngsten Bruder vor diesem furchtbaren Schicksal zu bewahren. Bitte!«

»Was ich konnte, habe ich bereits getan, Malek. Jetzt liegt Assims Schicksal in den Händen Allahs. Bitte Ihn um seine Gnade. Und sorge du ebenso dafür, wie ich es auch tun werde, dass Assim so lange ruhig liegen bleibt, bis die Knochen seiner Wirbelsäule geheilt sind. Dann wird er in einigen Wochen wieder fröhlich umherlaufen, als wäre niemals etwas gewesen.«

»Das verspreche ich«, sagte Malek eifrig. »Und ich schwöre bei Allah und allen Seinen Heiligen: Sollte mein Bruder wirklich wieder ganz gesund werden, so werde ich dich so reich belohnen, wie noch nie eine Frau vor dir belohnt wurde. Man soll dir den Titel »Größte Heilerin aller Zeiten< verleihen und ...«

»Lass gut sein, Malek. Darüber sollten wir besser erst dann reden, wenn es so weit ist.«

»Ja, ja, natürlich, ich wollte nur ...«

»Ich wäre dir dankbar, wenn ich jetzt ein Pferd bekommen könnte. Assim braucht Platz und Ruhe in der Sänfte, und ich habe nicht die Absicht, den Rest des Weges nebenherzulaufen.«

Maleks Gesicht übergoss sich mit Röte.

»Natürlich. Du wirst sogleich eines der besten Pferde zugewiesen bekommen.« Bevor er ging, drückte er ihr wieder die Hand und führte sie zu seiner Stirn. Eine ehrfürchtige Geste, wie Beatrice sie bisher nur von Enkeln ihren Großeltern oder Schülern ihren Lehrern gegenüber gesehen hatte. »Ich danke dir, Sekireh. Allah möge dich und deine Nachkommen segnen.«

»Malek!«, rief Beatrice ihm nach. Er blieb stehen und warf ihr einen überraschten, fragenden Blick zu. »Mein richtiger Name ist Beatrice.«