19.
Die Sonne ging gerade auf, als sich Mustafa und Os- man der Stadt Qazwin näherten. Sie waren erst vor knapp zwei Tagen in Alamut aufgebrochen und seither ohne Unterbrechung geritten. Sie hatten nicht geschlafen und ihre kargen, aus trockenen Weizenfladen bestehenden Mahlzeiten stets im Sattel eingenommen. Lediglich zu den Gebetszeiten waren sie von den Pferden gestiegen, um ihre Pflichten Allah gegenüber nicht zu versäumen. Und manchmal hatten sie an einem Bachlauf oder einer Zisterne angehalten, um ihre Wasserflaschen aufzufüllen und die Tiere trinken zu lassen. Mittlerweile war Mustafa völlig erschöpft. Er war das Reiten nicht gewöhnt. Jetzt war er müde und hungrig, jeder Knochen und jeder Muskel in seinem Leib taten ihm weh. Vor seinen Augen tanzten Trugbilder auf und ab, verlockende Bilder von mit dampfenden Hirsebrei gefüllten Schüsseln und mit weißen Laken bedeckten Lagern aus goldfarbenem Stroh.
Erschrocken zuckte Mustafa zusammen und setzte sich wieder aufrecht in den Sattel. Er konnte es kaum glauben, doch er war tatsächlich im Sitzen eingeschlafen. Um ein Haar wäre er dabei einfach zur Seite gekippt und vom Pferd gefallen. Mustafa warf Osman einen kurzen Blick zu. Ob der Meister dieses Zeichen seiner Schwäche bemerkt hatte? Anscheinend nicht, denn er sah weiterhin mit unbewegtem Gesicht geradeaus. Mustafa seufzte. Er bewunderte und verehrte Meister Osman. Er saß immer noch so kerzengerade auf seinem Pferd, als wären sie gerade erst vor kurzem aus Alamut aufgebrochen. Und dabei hatte der Meister noch viel größere Strapazen hinter sich gebracht, war er doch erst zwei Tage zuvor aus Gazna zurückgekehrt. Mustafa schüttelte sich, straffte die Schultern und kniff sich in den Oberschenkel. Wenn dieser Mann seinen Dienst für Allah so gewissenhaft versah, dass er darüber sogar Hunger, Durst und Müdigkeit vergaß, durfte auch er nicht einschlafen. Dann musste er stark sein, um der Ehre, ein Fidawi sein zu dürfen, gerecht zu werden. Und stark sein für Allah bedeutete vor allem, an jedem Tag und in jeder Stunde die eigenen Schwächen zu überwinden. Das hatte Meister Osman gesagt.
Mustafa lächelte, als er an jenen Augenblick vor zwei Tagen zurückdachte, als Meister Osman ihn zu sich rufen ließ und vor allen versammelten Brüdern die Botschaft des Großmeisters vorgelesen hatte, durch die Mustafa zu einem Fidawi ernannt wurde. Vor Freude und Aufregung hatten ihm die Knie gezittert, als er vor den hohen Stuhl getreten war, den Meister Osman in Vertretung des Großmeisters besetzt hielt. Mit heftig klopfendem Herzen hatte er die Weihe empfangen. Osman war zu ihm getreten und hatte eigenhändig Mustafas linken Arm entblößt, um ihm mit einem im Kohlefeuer zum Glühen gebrachten Eisen das Zeichen der Fidawi auf den Oberarm zu brennen - ein Oval mit dem Schriftzug »Es gibt keinen Gott außer Allah«. Vor Schmerz waren ihm die Tränen in die Augen gestiegen, als sich das Eisen durch seine Haut bis tief ins Fleisch hineingefressen hatte. Trotzdem war es ihm gelungen, nicht zu schreien. Und er hatte in Meister Osmans Augen gesehen, dass dieser zufrieden mit ihm war. Dann endlich hatte er die Insignien der Fidawi erhalten - den schlanken, leicht gebogenen Dolch mit der Aufschrift »Allah ist groß« auf Griff und Klinge, die Würgeseile für die besonders schwierigen, die heimlichen Aufträge und den langen Säbel, der so scharf war, dass man sogar ein Haar damit hätte spalten können. Nachdem seine Wunde verbunden worden war und sie bei einem ausgiebigen Festmahl mit allen Brüdern gefeiert hatten, hatte Meister Osman ihn schließlich beiseite genommen. Er war mit ihm auf den Turm der Festung gegangen, dorthin, wo alle Fidawi ihre Aufträge mitgeteilt bekamen, und hatte ihm erklärt, dass es so weit sei. Er sollte seine erste Aufgabe bekommen, um sich vor Allah und allen Mitgliedern der Bruderschaft der Ehre, ein Fidawi zu sein, würdig zu erweisen. Und jetzt waren er und Meister Osman - jener Mann, den Mustafa neben dem Großmeister am meisten verehrte und bewunderte - gemeinsam auf dem Weg nach Qazwin, um dort einen gottlosen Mann ausfindig zu machen, der eine Vielzahl von Verbrechen gegen Allah und Seine Kinder begangen hatte. Mustafa konnte sein Glück, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, immer noch nicht fassen.
»Wir sind bald am Ziel«, sagte Osman, ohne ihn anzusehen. Der Meister sprach nicht oft, doch wenn er das Wort an Mustafa richtete, saugte dieser jede einzelne Silbe ebenso in sich auf wie die Worte aus dem Koran. »Wenn wir die Tore von Qazwin erreichen, verhältst du dich still. Wir wissen nicht, wie aufmerksam die Stadtwachen sind und wie sie sich Fremden gegenüber benehmen.«
Mustafa nahm seinen ganzen Mut zusammen, um endlich jene Frage zu stellen, die ihn beschäftigte, seit sie aus Alamut aufgebrochen waren.
»Meister, was werden wir tun, wenn wir in Qazwin sind? Wie wollen wir diesen gottlosen Ketzer finden?«
Osman runzelte missbilligend die Stirn. »Wir dürfen kein Aufsehen erregen«, antwortete er. »Also halte deinen Mund und tue nur, was dir gesagt wird. Du wirst alles erfahren, was du wissen musst - wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
Mustafa senkte den Blick und wurde rot bis zu den Ohren. Er wollte nicht den Zorn des Meisters auf sich lenken. Aber vielleicht antwortete Meister Osman auch nur deshalb so ausweichend, weil er selbst nicht so genau wusste, wie sie weiter vorgehen und unauffällig den gefährlichen Ketzer in Qazwin suchen sollten? Vielleicht war er sich noch nicht einmal sicher, ob sie diesen Mann überhaupt in Qazwin finden würden?
Diese Gedanken blitzten so jäh und unerwartet in seinem Kopf auf, dass Mustafa erschrocken zusammenzuckte. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. So etwas durfte er nicht denken, das war Frevel. Er sollte gehorsam sein bis in den Tod - das hatte er erst vor wenigen Tagen geschworen. Schickte der Teufel ihm jetzt diese Gedanken, um ihn in Versuchung zu führen? Oder handelte es sich um eine jener Prüfungen, von denen Meister Osman bei seiner Einweihung gesprochen hatte? Eine jener Prüfungen, denen sich die Fidawi immer wieder unterziehen mussten - Zweifel an ihrem Auftrag, Ablehnung der Worte des Großmeisters, Furcht vor dem, was sie tun sollten. Das sei die wahre Herausforderung der Fidawi, hatte Meister Osman bei seiner Weihe gesagt. Jeden Tag erneut gegen sich selbst zu kämpfen - und zu siegen.
Mustafa schüttelte den Kopf und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, um diese ungehörigen, verbotenen Gedanken zu vertreiben. Meister Osman hatte ihm diese Aufgabe anvertraut. Der Großmeister selbst hatte ihm diese Aufgabe anvertraut. Allah erwartete von ihm, dass er seinen Dienst gehorsam und gewissenhaft verrichtete. Er würde lieber sterben als einen von ihnen zu enttäuschen. Mustafa straffte wieder die Schultern. Ja, er würde stark sein. Er würde seine Zweifel, seinen Spott, seine aufkeimende Unsicherheit besiegen. Er würde Allah um Vergebung bitten und genau das tun, was Meister Osman von ihm verlangte.
Wie sich herausstellte, waren Osmans Bedenken bezüglich des Verhaltens der Stadtwachen völlig unbegründet. Das Tor stand einladend offen, und von den Wachen war weit und breit nichts zu sehen. Ungehindert und ohne dass sich jemand um sie gekümmert hätte, ritten sie in die Stadt hinein.
Mustafa sah sich staunend um. Er stammte aus einem kleinen Dorf in den Bergen, weit entfernt von jeder Stadt. Sie waren alle Ziegenhirten und so arm, dass sie eben gerade genug hatten, um ihren Hunger zu stillen. Niemand aus dem Dorf konnte es sich leisten, in die Stadt zu reisen. Nur sein Vater hatte einmal mit Mustafas älterem Bruder, der sehr krank gewesen war, den langen und beschwerlichen Weg auf sich genommen, um in der Stadt einen Arzt aufzusuchen, dessen Ruf sogar in ihr kleines Dorf gedrungen war. Mustafas Vater wurde es nie müde, von den Wundern, der Schönheit und der Pracht der Stadt zu erzählen - und der Großzügigkeit des Arztes, der seinen Sohn geheilt und als Lohn nur um ein Zicklein gebeten hatte. Die Kinder des Dorfes hingen jedes Mal wie gebannt an seinen Lippen. Doch jetzt, da Mustafa alles zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, wusste er, dass die Worte seines Vaters nichts als ein trüber Schatten der Wirklichkeit waren. In Wahrheit war alles noch viel schöner, größer und prächtiger, als er es sich vorgestellt hatte.
Er bestaunte die engen Straßen, die trotz der frühen Morgenstunde voller Menschen waren. Er begegnete Frauen, die Körbe und Krüge auf ihren Köpfen balancierten, Kindern, die Lämmer trugen oder Schafe und Ziegen geschickt durch die engen Gassen trieben, Männern, die schwere Säcke schleppten, breiten Ochsenkarren, schwer beladen mit Brennholz und Körben voller Steine, und Reitern in kostbaren Gewändern. Überall auf den Plätzen, den Straßen, auf Tischen und auf Decken hatten Händler ihre Waren ausgebreitet. Es gab Gemüse und Obst im Überfluss, köstlichen goldgelben Honig, Säcke voller namenloser Kräuter und Gewürze, die in allen Farben leuchteten und die zwar fremdartig, aber dennoch verführerisch dufteten, feine Lederwaren und reich verziertes Geschirr aus schimmerndem Messing und Kupfer. Mustafa konnte sich an all den Herrlichkeiten nicht satt sehen.
»Hüte dich davor, den Verlockungen der Stadt zu erliegen«, sagte Osman leise. Erneut zuckte Mustafa erschrocken zusammen. Hatte der Meister etwa seine Gedanken gelesen? »Alles, was du hier siehst, ist nichts als Blendwerk. In Wahrheit handelt es sich um die Fallstricke des Teufels, so kunstvoll gewebt und unsichtbar gespannt, dass nur der Weise, dessen Herz rein ist vor Allah, sie wahrnehmen kann. Hüte dich also, damit du nicht strauchelst und der Teufel seinen Sieg über dich erringt.«
Mustafa nickte und hielt von nun an seine Augen starr geradeaus gerichtet, um sich nicht von den vor ihm ausgebreiteten Reizen ablenken und in die Irre führen zu lassen. Doch ein Teil von ihm wünschte sich nichts sehnlicher, als frei und unbeschwert durch die engen Gassen der Basare zu streifen, hier das knusprige weiße Brot zu kosten, dort von den Melonen zu probieren, die herrlich schimmernden Stoffe zu berühren, die wohl aus jener Faser gewebt waren, die Seide genannt wurde, und ein Stück von den Würsten zu kaufen, deren Duft allein einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Frei und unbeschwert? Allah allein war in der Lage, wahre Freiheit zu schenken. Mustafa seufzte. Er musste wohl noch sehr viel lernen, bevor er auch in seinem Innern ein echter Fidawi war. Oder hatte der Teufel etwa schon Besitz von ihm ergriffen?
»Willst du immer noch wissen, was wir als Nächstes tun werden?«, fragte Osman in spöttischem Ton.
Mustafa senkte den Blick. Seine Wangen brannten vor Scham.
»Meister, es war niemals meine Absicht ...« Sein hilfloses Stammeln brach ab. Er hatte den Meister erzürnt. Zweimal an einem Morgen. Wie sollte er das nur wieder gutmachen? »Verzeiht mir.«
»Nicht mich, sondern Allah solltest du um Vergebung bitten«, sagte Osman. »Doch ich will deine Neugierde befriedigen. Wir werden eine Moschee aufsuchen. Während ich mich um alles andere kümmere, wirst du ausreichend Gelegenheit haben, diesen schändlichen Flecken von deiner Seele zu waschen.«
»Ja, Meister«, erwiderte Mustafa kläglich. Am liebsten hätte er sich tief in einem der Säcke verkrochen, die an seinem Sattel hingen, so sehr schämte er sich.
»Du musst noch viel lernen, sehr viel«, sagte Osman und richtete seinen Blick wieder wie üblich nach vorne. Manchmal fragte sich Mustafa, ob Meister Osman fern am Horizont die Herrlichkeiten des Paradieses sehen und sich deshalb von diesem Anblick nur schwer losreißen konnte. »Aber du bist auch noch jung, Mustafa. Wir dürfen die Hoffnung jetzt noch nicht aufgeben.«
Wie es Brauch war, zogen sich Mustafa und Meister Osman die Schuhe aus, bevor sie in den Innenhof der Moschee gingen. In einem Becken aus weißem Marmor wuschen sie sich die Füße. Das Wasser war klar und herrlich kühl, sodass es nicht nur den Schmutz, sondern auch die Müdigkeit von ihnen abspülte. Erst dann wagten sie es, das Innere der Moschee zu betreten.
Meister Osmans Ermahnungen, kein Wort zu sagen, waren überflüssig. Die Moschee war das schönste, prächtigste Gebäude, das Mustafa jemals gesehen hatte, und sprachlos vor Staunen schaute er sich die Herrlichkeiten an. Zierliche Säulen aus weißem Marmor trugen die Kuppel. Sie war mit blauen und goldenen Mosaiksteinchen ausgelegt und erhob sich so hoch über ihren Köpfen, dass sie aussah wie der Himmel voller goldener, blinkender Sterne. Er betrachtete voll Bewunderung die farbenprächtigen Mosaike, die mit Koranversen in goldenen Lettern geschmückt waren, die prächtigen glänzenden Messinglampen und die kostbaren weichen Teppiche, die den Boden bedeckten. Doch am schönsten und prächtigsten war der Mihrab, die Gebetsnische, die wie in jeder Moschee in der Welt der Gläubigen auch hier in Qazwin die Richtung von Mekka anzeigte, der heiligen Stadt des Propheten.
Der Gebetsraum war so gut wie leer. Ein junger Mann kniete in der Nähe des Mihrab und betete, ein älterer Mann erteilte einem Jungen geflüsterte Anweisungen, der das Öl in den Lampen auffüllte. Meister Osman gab Mustafa einen Wink, ihm zu folgen, und wandte sich dann an den Mann, der seiner Kleidung und seinem langen Bart nach zu urteilen der Imam oder der Muezzin der Moschee sein musste.
»Herr«, sagte Meister Osman und verneigte sich ehrfürchtig, »verzeiht, dass ich es wage, Euch zu belästigen.«
Der Mann musterte sie beide mit einem kurzen Blick, dann nickte er.
»Nur zu, mein Sohn«, sagte er und lächelte. »Was ist dein Begehr?«
»Herr, ich komme von weit her. Mein Sohn«, er deutete auf Mustafa, »ist krank. Wir haben den weiten Weg nach Qazwin auf uns genommen, in der Hoffnung, dass er durch Eure Fürsprache, Allahs Wille und einen gottesfürchtigen Arzt wieder gesund werden möge.«
Der alte Mann lächelte wieder und legte eine Hand auf Mustafas Kopf.
»Ich bin sicher, dass Allah barmherzig sein und Eure Bitten erhören wird. Er sorgt stets für jene, die Ihm treu ergeben sind. Doch einen gottesfürchtigen Arzt kann ich Euch leider nicht nennen.« Er schien kurz nachzudenken. »Wie stark ist dein Glaube, mein Sohn?«
Meister Osman sah auf. »Ich habe zweimal die Kaaba gesehen, und ich wäre bereit zu sterben, wenn dies Allahs Wille sein sollte.«
Der Alte wirkte beeindruckt.
»So kann ich dir den Arzt nennen, der deinem Sohn vielleicht helfen kann. Sein Name ist Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina. Er ist ein ... Nun ja, ich habe bereits den Emir gebeten, ihn wegen seines schändlichen Lebenswandels einzukerkern oder der Stadt zu verweisen.« Der Muezzin sah Mustafa mitleidig an. »Doch auch wenn er kein gottesfürch- tiger Mann ist, so kann er vielleicht trotzdem deinem Sohn helfen.«
»Allah allein hat die Macht, sich der Bösen zu bedienen, um Seinen Kindern beizustehen«, erwiderte Osman. »Er wird uns in Seiner unermesslichen Güte vor dem ansteckenden Odem des Frevels beschützen.«
»Wahr gesprochen«, stimmte der Alte zu. »Einen Mann mit weniger gefestigtem Herzen würden die Verlockungen, die im Hause dieses Arztes warten, vom rechten Weg abbringen. Doch ich bin sicher, dass ihr beide die Prüfung bestehen werdet.«
Der alte Mann nannte ihnen den genauen Weg zum Haus des Arztes. Dann knieten Mustafa und Meister Osman Seite an Seite nieder, um zum Mihrab gewandt Allah für Seine weise Führung zu danken und Ihn um Seinen Beistand zu bitten, bevor sie sich auf den Weg zum Haus des Arztes machten.
Mustafa war ganz aufgeregt, als sie wenig später das Haus erreichten, in dem der Ketzer wohnen sollte. Denn dass es sich bei dem genannten Arzt um jenen verabscheuungswürdi- gen Verbrecher handelte, daran bestand für ihn kein Zweifel mehr. Doch während sie darauf warteten, dass ihnen endlich das Tor geöffnet wurde, stellte er sich immer wieder dieselbe Frage: Wie konnte ein Mann, dem Allah in Seiner allumfassenden Barmherzigkeit die Fähigkeit und das Wissen geschenkt hatte, Menschen zu heilen und ihre Leiden zu lindern, sich von Allahs Wort abwenden?
Endlich, als sie schon glaubten, sie hätten an das falsche Tor geklopft, wurde eine Luke geöffnet, und das breite Gesicht eines Wächters kam zum Vorschein.
»Was wollt ihr?«, brummte er und warf ihnen beiden einen derart finsteren Blick zu, dass Mustafa bestimmt wieder gegangen wäre, wenn er allein hier gestanden hätte. Doch Meister Osman ließ sich nicht einschüchtern.
»Wenn dies das Haus des Arztes Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina ist, so wie man mir gesagt hat, erbitte ich Ein- lass«, antwortete er in höflichem Ton, obwohl Mustafa keinen Augenblick daran zweifelte, dass der Meister den Torwächter ebenso gut hätte töten können, um sich Einlass zu verschaffen. »Mein Sohn ist schwer erkrankt. Und mir kam zu Ohren, dass dein Herr über das Wissen verfügt, ihn wieder gesund zu machen.«
»Das stimmt«, erwiderte der Wächter mit einem höhnischen Grinsen. »Allerdings ist mein Herr nicht da. Er ist fortgegangen. «
»Das vergrößert unser Unglück«, sagte Meister Osman. »Doch ich bitte dich, wenigstens so lange warten zu dürfen, bis er wieder nach Hause zurückgekehrt ist, damit wir ihm dann unser Anliegen vortragen können.«
Der Wächter zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Es kann aber lange dauern.«
»Das ist uns gleich«, entgegnete Meister Osman. »Wir haben einen weiten Weg auf uns genommen, um deinen Herrn aufzusuchen. Wir können warten.«
Da der Torwächter keine Anstalten machte, sie in das Haus zu lassen, breitete Meister Osman seinen Reisemantel direkt auf der Straße vor dem Tor aus, setzte sich darauf und zog Mustafa neben sich.
»Er wird es nicht lange aushalten«, raunte der Meister Mustafa ins Ohr. »Bald wird er uns ins Haus lassen, um weiteres Aufsehen zu vermeiden, und dann werden wir feststellen, ob dies hier wirklich das Haus jenes Mannes ist, den wir suchen.«
»Aber Meister!«, wagte Mustafa endlich zu sagen. »Dieser Mann ist Arzt! Wie kann solch ein Mann ...«
»Als Allah den Menschen erschuf, wollte Er keine Untertanen, die Seinem Wort folgen wie das Vieh seinem Hirten. Deshalb hat es Allah in Seiner unendlichen Gnade gefallen, Seinen Kindern einen freien Willen zu geben. Und manche nutzen diesen Willen, um sich von Allah, ihrem Schöpfer, loszusagen.«
Mustafa erschauderte. Es war ihm unverständlich, wie ein Mensch so etwas tun konnte. Wie er sehenden Auges das Paradies gegen die Hölle eintauschen konnte.
Der Laden des Ölhändlers Levi war still und strahlte Ruhe und Frieden aus. Warmes Sonnenlicht flutete durch die geöffnete Tür herein und setzte den Verkaufstisch und das dahinter stehende Regal in dezentes, nahezu sakral anmutendes Licht. Wären sie nicht in Qazwin, sondern in Paris oder London gewesen, es hätte sich bei diesem Geschäft ohne weiteres um eine Galerie oder exklusive Parfümerie handeln können, eingerichtet in jenem minimalistischen Stil, der Anfang des 21. Jahrhunderts bei der Designer-Elite so beliebt war. Doch Beatrice gab sich dieser Illusion nicht hin. In den großen Krügen, die in dem Regal standen, wurden keine teuren Hautcremes aufbewahrt. Und was hier so intensiv duftete, waren weder handgefertigte Seifen noch Parfüms, es waren die aus einer Vielzahl stark duftender Kräuter hergestellten Öle und Salben, die bei orientalischen Bestattungen benötigt wurden. Wer diesen Laden betrat, wollte nicht sein Bedürfnis nach Schönheit und Luxus befriedigen. Wer zu Moshe Ben Levi kam, hatte einen Toten zu beklagen.
Ali und Beatrice waren allein im Laden. Von draußen drang das Hämmern der Steinmetze und das Klappern der Webstühle zu ihnen herein, friedliche Geräusche, die beinahe vergessen ließen, dass in dieser Straße nur Grabsäulen und Leichentücher hergestellt wurden. Ein Schauer lief Beatrice über den Rücken, als sie an die Schar weiß gekleideter weinender Frauen dachte, die einem von mehreren jungen Männern getragenen Sarg gefolgt waren. Sie waren ihnen nur wenige Meter vom Haus des Juden entfernt begegnet. Und ihr Ziel war eindeutig. Ein großes schwarzes Tor stand weit offen, und in der Ferne konnte man die steinernen Grabmale sehen, die Grabstätten der wohlhabenden Bürger von Qazwin, die sich wie eine Fortsetzung der gesellschaftlichen Ordnung der Lebenden über die schlichten Gräber der Armen und Mittellosen erhoben.
Als auch nach einer Weile niemand kam, räusperte Ali sich laut, und gleich darauf waren aus dem hinteren Teil des Ladens Schritte zu hören.
»Verzeiht, dass ich Euch warten ließ«, sagte ein junger Mann mit einem freundlichen Lächeln auf dem schmalen Gesicht. Er trug makellos weiße Kleidung, eine runde weiße Kappe auf dem Hinterkopf und lange Schläfenlocken. »Womit kann ich Euch dienen?«
Beatrice spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Es war dasselbe Gefühl, das sie empfunden hatte, als sie auf einem Spaziergang in Paris durch Zufall in das jüdische Viertel gestolpert war - eine Mischung aus Verlegenheit, Unsicherheit und Scham, verbunden mit dem Gefühl des Verlustes, einem Gefühl, wie Beinamputierte es beschreiben, wenn sie ein Kribbeln in ihrem Fuß spüren, der gar nicht mehr existiert. Es waren die Nachwirkungen der von den »Braunen Horden« begangenen Verbrechen gegen ein Volk, das einst ein wesentlicher kreativer Teil der deutschen Kultur gewesen war. Es war ihr persönlicher Anteil an der Strafe. Sie war nur froh, dass Ali bei ihr war und für sie das Sprechen übernehmen konnte.
»Der Friede sei mit Euch«, sagte Ali mit seltsam heiserer Stimme, und für einen Moment hatte Beatrice den Verdacht, dass es ihm nicht besser erging als ihr. Auch er schien sich den Juden gegenüber unsicher zu fühlen. Vielleicht sogar unterlegen? »Wir möchten mit Rabbi Moshe Ben Maimon sprechen.«
Der junge Mann hob überrascht eine Augenbraue.
»Oh, Herr, verzeiht, aber Ihr müsst Euch irren. Jemand hat Euch eine falsche Adresse genannt. Hier wohnt kein Rabbi dieses Namens. Ihr solltet Euch an ...«
»Gebt Euch keine Mühe«, unterbrach ihn Ali. »Ich habe mit Moshe Ben Maimon bereits vor einiger Zeit gesprochen. Hier in diesem Haus. Außerdem schickt mich Saddin.«
Der junge Mann neigte seinen Kopf.
»Ich verstehe«, sagte er. »Dann betrübt, es mich umso mehr, Euch mitteilen zu müssen, dass Rabbi Ben Maimon schwer erkrankt ist. Er ist kaum in der Lage, das Bett zu verlassen, und kann zurzeit leider niemanden empfangen.«
»Aber ...«
Ali und Beatrice sahen sich entsetzt an.
»Es ist wirklich wichtig!«, platzte Beatrice heraus. »Verzeiht, es muss Euch ungehörig erscheinen, dass wir trotz seiner Krankheit um ein Gespräch mit ihm bitten, aber wir haben keine andere Wahl. Wir ...« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Was sollte sie sagen? Wie wäre es mit der Wahrheit? In diesem Haus wussten bestimmt alle Bescheid. »Geht zu Rabbi Ben Maimon und sagt ihm, dass wir Fragen zu den Steinen der Fatima haben. Fragen, die niemand anders als er selbst beantworten kann. Und wir brauchen diese Antworten schnell. Die Fidawi sind uns auf den Fersen.«
»Wenn das so ist ...«Er schien nachzudenken, dann nickte er. »Gut, ich werde sehen, was ich für Euch tun kann. Aber versprechen kann ich Euch nichts. Wartet bitte einen Augenblick«, meinte er und verschwand.
Die Zeit verstrich unendlich langsam und qualvoll. Beatrice wagte kaum sich zu rühren, während Ali in dem Geschäft auf und ab ging wie ein nervöses Tier. Beatrice kam schon der Verdacht, dass dies eine effiziente Taktik sein könnte, um unliebsame Besucher loszuwerden, als der junge Mann endlich doch wiederkam. Aber diesmal war er nicht allein. Ein Junge begleitete ihn, ebenso in ein knöchellanges weißes Gewand gekleidet wie er.
»Seid willkommen, Ali al-Hussein«, sagte der Junge und verneigte sich vor Ali und Beatrice. »Benjamin hat dem Rabbi alles erzählt. Rabbi Ben Maimon ist bereit, Euch zu empfangen.«
Beatrice schloss vor Erleichterung die Augen und schickte ein Dankgebet zum Himmel.
»Doch ich muss Euch bitten, nicht zu lange zu bleiben«, sagte der junge Mann, der Benjamin hieß. »Der Rabbi ist sehr schwach. Selbst die geringste Aufregung oder Anstrengung könnte ihn töten.«
»Wir werden uns daran halten«, erwiderte Ali und verneigte sich vor dem jungen Juden.
»Ich muss mich auf Eure Worte verlassen, Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina«, sagte Benjamin, und Beatrice fragte sich, woher er wohl Alis Namen kannte. Waren sie sich schon früher begegnet? »Isaac, begleite die beiden jetzt zum Rabbi.«
Im Zimmer des Rabbi war es heiß. Die Vorhänge waren zum Schutz vor der Sonne zugezogen, und obwohl draußen sommerliche Temperaturen herrschten, brannte in einer Ecke des Raums ein Feuer. In einem breiten Lehnstuhl saß ein Greis. Er war klein, mager und so blass, dass er fast durchsichtig zu sein schien. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, seine Wangen waren eingefallen. Schlaff ruhten seine mageren, von Arthrose und Rheuma entstellten Hände auf den Armlehnen seines Stuhls. Mehrere Decken waren über seine Knie gebreitet, um ihn vor einer Kälte zu schützen, die im schottischen Hochland herrschen mochte, aber bestimmt nicht hier in dieser Stadt. Ein einziger Blick reichte aus, und Beatrice wusste, dass Benjamin keineswegs übertrieben hatte. Moshe Ben Maimon war wirklich sehr krank. Mehr noch, dieser Mann war vom Tod gezeichnet.
Gut, dass wir nicht länger gewartet haben, dachte sie, während sie gemeinsam mit Ali näher an den Lehnstuhl herantrat. Wer weiß, morgen wäre es vielleicht schon zu spät gewesen.
»Ali al-Hussein«, sagte der Alte mit einer Stimme, die so zittrig und brüchig klang, dass man befürchten musste, er würde keine Luft mehr bekommen. »Ich habe nicht erwartet, Euch noch einmal zu sehen.«
»Falls ich Euch bei unserer letzten Begegnung erzürnt haben sollte ...«
Doch der Greis winkte ab. »Lasst gut sein, Freund. Ihr seid jung und ungestüm. Früher oder später hättet Ihr selbst die Wahrheit herausgefunden. Aber ich habe nicht daran geglaubt, dass ich es noch erleben würde.« Er hustete und schloss erschöpft die Augen. »Wie ihr seht, sind meine Tage gezählt.«
»Ihr solltet nicht so reden«, widersprach Beatrice und warf Ali einen flehenden Blick zu. »Wir sind Ärzte. Vielleicht können wir Euch ...«
»Ihr müsst Beatrice sein«, sagte der Greis und lächelte sie an, »die Frau, von der Saddin immer erzählt hat. Er sagte, dass Ihr einen der Saphire besitzt, die man die Steine der Fatima nennt.«
»Ja, deshalb sind wir ...«
»Habt Ihr ihn jetzt bei Euch?«
Beatrice nickte. Und noch bevor sie darüber nachgedacht hatte, holte sie den Saphir aus dem Beutel heraus, den sie immer in einer geheimen Tasche ihres Kleides bei sich trug, und hob ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Das Licht des flackernden Feuers brach sich in dem Saphir und tauchte die Hälfte des Raums in ein unwirkliches blaues Licht.
»U-bina«, flüsterte Moshe Ben Maimon, und in seine Augen trat ein seltsames Leuchten. »Die Einsicht. Er ist der zweite der sieben. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war ich noch ein junger Mann. Und Gott allein weiß, wie lange das her ist.«
»Ihr erkennt den Stein aus dieser Entfernung?«, fragte Beatrice ehrlich verblüfft und legte den Saphir in Moshes ausgestreckte Hand. »Und Ihr habt ihm sogar einen Namen gegeben?«
»Jeder der Steine der Fatima trägt einen Namen. Jeder der sieben«, erwiderte der Alte und lächelte, während seine Finger beinahe zärtlich die Konturen des Saphirs entlangfuhren, als wäre dieser ein seit langer Zeit vermisster Freund. »Doch nicht ich habe ihnen diese Namen gegeben, sie tragen sie seit ihrer Erschaffung. Habt Ihr das nicht gewusst?«
Beatrice schüttelte den Kopf. Es gab viel, was sie über die Steine der Fatima nicht wusste. Im Grunde genommen hatte sie bisher nichts gewusst, außer dass es sich um mehrere Bruchstücke handelte, die - der Legende nach - aneinander gefügt ein Auge darstellen sollten. Und dass diese Steine die Macht hatten, ihre Träger kreuz und quer durch die Weltgeschichte zu schicken.
»Es sind sieben? Aber ich dachte, die Zahl der Steine der Fatima sei unbekannt. Woher wisst Ihr, dass ...«
»Langsam, langsam, alles der Reihe nach. So viel Zeit werde ich wohl noch haben«, sagte der Rabbi mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. Dann winkte er Isaac zu sich. »Schaffe zwei Stühle und etwas zu essen herbei. Vergiss auch die Mandeln nicht.«
Ali wurde dunkelrot im Gesicht und starrte auf den Boden, während der Junge zwei bequeme Stühle heranschleppte und sie gegenüber vom Lehnstuhl des Alten aufstellte. Dann lief er hinaus und kam wenig später mit einem Tablett mit frischem Obst, getrockneten Feigen und Datteln und einem Teller mit frisch gerösteten Mandeln zurück.
»Danke, Isaac«, sagte Moshe Ben Maimon. »Und jetzt bring mir bitte den Kasten.«
Isaac reichte dem Rabbi einen viereckigen schmucklosen Kasten aus dunklem Holz. Der Alte nahm den Kasten auf seinen Schoß. Seine knorrigen Finger streichelten den Deckel, als würde sich darin nichts Geringeres als der Heilige Gral befinden.
Ein Tagebuch, dachte Beatrice und spürte, wie die Aufregung in ihren Fingerspitzen kribbelte. Bestimmt bewahrt Moshe darin ein Tagebuch mit den Aufzeichnungen über alle seine Reisen auf. Oder es ist eine Liste mit den Orten, an denen die einzelnen Bruchstücke des Auges der Fatima zu finden sind.
»Zuerst muss ich euch ein paar Dinge erklären, damit ihr verstehen könnt. Allerdings werden meine Ausführungen wohl eher religiöser denn wissenschaftlicher Natur sein«, sagte Moshe und warf Ali einen auffordernden Blick zu. »Es ist nicht meine Absicht, Euren Zorn heraufzubeschwören.«
»Das ist...«, Ali räusperte sich. Er wirkte so verlegen und befangen, wie Beatrice es von ihm gar nicht gewohnt war. »Das ist gleich. Dank Eurer scharfen Worte habe ich mittlerweile eingesehen, dass Ihr Recht hattet. Nicht alles, was auf dieser Welt geschieht, kann wissenschaftlich erklärt werden. Wenigstens vorläufig nicht. Und ich stimme Euch zu, dass jeder wahre Wissenschaftler bereit sein muss, seine eigenen Thesen zu überprüfen und - falls nötig - zu widerrufen.«
Der Rabbi nickte anerkennend, aber auch amüsiert, sodass Beatrice sich fragte, was wohl beim ersten Treffen der beiden Männer vorgefallen war, auch wenn sie sich das gut vorstellen konnte. Sie kannte schließlich ihren Ali - seinen scharfen Verstand, seine rasche Auffassungsgabe, seinen unerschütterlichen Glauben an Vernunft und Wissenschaft, aber auch seinen zuweilen bis an Arroganz grenzenden Starrsinn, wenn es um die Verteidigung seiner eigenen Theorien ging.
»Das >Auge der Fatima<... «, sagte Moshe und streichelte gedankenverloren den Kasten auf seinem Schoß. »Ihr wisst vermutlich, wie es der Legende nach entstand?«
»Nach dem Tod des Propheten entbrannte ein Streit unter seinen Nachfolgern«, antwortete Beatrice und kam sich dabei vor wie im Deutschunterricht der zehnten Klasse. Damals hatte ihr Lehrer auch immer diese völlig sinnlosen und langweiligen »Verständnisfragen« gestellt, die selbst der letzte Trottel beantworten konnte. Trotzdem hatte sie sich immer gemeldet. Klar, früher hatte es dafür schließlich auch Zensuren gegeben. Und jetzt? Jetzt konnte sie wenigstens einem alten, sterbenden Mann eine Freude machen. »Sie konnten sich nicht einigen, wer von ihnen im Besitz der Wahrheit war. Um diesen Streit endlich zu beenden, hat Fatima auf dem Sterbebett ein Auge geopfert, das Allah in einen wunderschönen großen Saphir verwandelt haben soll. Doch anstatt sich jetzt zu einigen, entbrannte der Streit nur noch heftiger. Jeder wollte das Auge für sich haben.«
»Richtig«, Moshe nickte ihr zu. »So oder so ähnlich erzählen es die Legenden, und so oder so ähnlich könnte es tatsächlich gewesen sein. Als Gott in Seinem großen Zorn über die Habgier und den Starrsinn der Menschen das Auge der Fatima schließlich zerschmetterte, zerschlug Er es in sieben Teile, denn selbst in Seinem großen Zorn wollte Er die Menschen nicht bestrafen.« Der alte Mann schloss die Augen und lächelte. »Gottes Güte und Geduld mit Seinen Kindern ist wahrlich unbegrenzt. Jedes einzelne Teil des Auges steht für eine der sieben Gaben des Geistes. Jeder einzelne Saphir ist die Verkörperung einer der sieben Gaben und bildet eine Stufe auf dem Weg zur Wahrheit oder zur >Erleuchtung<, wie es ein guter Freund von mir einmal bezeichnet hat. Ein Freund übrigens, in dessen Obhut u-bina lange Zeit gewesen ist, Beatrice. Dort wurde er über viele Jahre hinweg beschützt und ...« Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. »Verzeiht, ich schweife ab. Das ist eine andere Geschichte. Sie hat für euch und eure Fragen keine Bedeutung. Die sieben Saphire sind Weisheit, Einsicht, Rat, Erkenntnis, Stärke, Frömmigkeit und Gottesfurcht. Und jeder der Steine hat die Macht, seinem Träger dieses in ihm wohnende Wissen zu offenbaren. «
»Und Ihr ...«
»Ja, ich hatte die große Ehre, bereits Hüter von jedem von ihnen gewesen zu sein«, sagte Moshe, und ein eigenartiges, fast trauriges Lächeln lag auf seinen Lippen. »Sie haben mich auf so vielen Reisen begleitet, dass sich die Spanne meines Lebens gut und gerne verdreifachen lässt. Ich habe viel von ihnen gelernt, sehr viel, und dabei leider auch viel über die Torheit der Menschen erfahren. Sie sind habgierig und neidisch, anstatt zu teilen. Es gefällt ihnen zu hassen, anstatt zu lieben. Sie vernichten sich gegenseitig und vergessen dabei, dass sie selbst nicht einmal in der Lage sind, einem Wurm neues Leben zu spenden.«
Er klappte den Deckel des Kastens auf, und plötzlich füllte sich der Raum mit einem warmen Licht. Vor Alis und Beatrices staunenden Augen lagen ausgebreitet auf dunklem Samt fünf Saphire. Sie waren so in kleine Mulden gebettet worden, dass ihre Bruchstellen direkt aneinander lagen und sie gemeinsam die Form eines etwas mehr als männerfaustgroßen Auges ergaben. Das heißt beinahe, denn unübersehbar fehlten zwei Teile.
»Ruach-chokma - die Weisheit, ruacheca - der Rat, ugebura - die Stärke, wejirat Jahwe - die Gottesfurcht und jirat Jahwe - die Frömmigkeit«, sagte Moshe, während sein knochiger Zeigefinger von einem Saphir zum anderen wanderte. »U-bina - die Einsicht habt Ihr jetzt in Eurem Besitz, Beatrice. Es fehlt nur noch ruach-daat - die Erkenntnis, der Stein, den Eure Tochter bei sich hat. Und dann ...«
»Dann ist das Auge vollständig!« Alis Stimme war vor Aufregung und Ehrfurcht leise. Nun, da das Auge sichtbar vor ihm lag, schien er keine Schwierigkeiten mehr zu haben, den Prophezeiungen zu glauben.
»Ja«, sagte Moshe. »Dann ist das Auge vollständig.«
»Was geschieht, wenn alle Teile wieder beisammen sind?«, fragte Beatrice in die entstandene Stille hinein. Ihr Herz klopfte heftig. Das alles war so unwahrscheinlich, so fabelhaft, so fantastisch, dass sie nicht glauben konnte, es wirklich zu erleben. Es war ein Märchen, eine Fantasiegeschichte, die Vorlage zum Drehbuch Indiana Jones und das Auge der Fatima. Und doch musste es wahr sein, denn sie spürte die Gänsehaut, die über ihren Körper kroch. Und sie spürte die sengende Hitze des Feuers im Kamin, die ihr gleichzeitig den Schweiß aus allen Poren trieb.
»Die Legende sagt, dass sich die Söhne Allahs wieder vereinen werden«, antwortete Moshe, und Beatrice schüttelte verwundert den Kopf. Sie dachte an den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, die Selbstmordattentäter, die Militäraktionen im Gazastreifen und die zahlreichen sinnlosen, unschuldigen Opfer auf beiden Seiten. Und die Fidawi. Moshe selbst war Jude. Auch wenn er von den Konflikten des 20. Jahrhunderts noch nichts wissen konnte, so waren Juden und Araber bereits im Mittelalter nicht gerade freundschaftlich miteinander verbunden. Bestenfalls waren sie gleichgültige Nachbarn. War ein geeintes arabisches Volk aus jüdischer Sicht gesehen nicht viel zu gefährlich?
»Vielleicht hat die Legende Recht«, fuhr der Alte fort. »Vielleicht werden die Söhne Allahs wirklich wieder ein Volk sein. Meiner Erfahrung mit den Steinen nach zu urteilen wird diese Einheit jedoch anders aussehen, als sich das viele arabische Führer erträumen.« Sein leises, heiteres Lachen ging rasch in Husten über. Der Anfall wurde so heftig, dass Beatrice sich in Gedanken bereits auf eine Reanimation vorbereitete, als Isaac ihm einen Becher mit einer stark duftenden Flüssigkeit an die Lippen hielt und Moshe Ben Maimon sich ebenso schnell und überraschend wieder erholte. »Doch was wirklich geschehen wird, wenn das Auge jemals wieder vollständig sein sollte, weiß nur Gott allein.«
Beatrices Blick ruhte auf dem beinahe vollständigen Auge. Nie zuvor hatte sie etwas so Schönes gesehen. Sie konnte den Blick gar nicht mehr abwenden. Es war, als hätte sich die Trost spendende Wärme, die sie schon immer in ihrem Stein gefühlt hat, potenziert. Und sie stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie ihre beiden Teile hinzufügen würde. Wie ein geheimnisvolles gleißendes Licht die Bruchstücke nahtlos aneinander schweißen und das Auge, endlich wieder vollständig nach Jahrhunderten der Trennung, sie ansehen würde - klar und überirdisch schön. Ob es dann wohl auch blinzelte?
»Und was ist mit den Fidawi?«, fragte Ali.
Moshe Ben Maimon stieß einen tiefen Seufzer aus, der aus dem Mund des Alten wie sein letzter Atemzug klang.
»Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, dass sie gefährlich sind«, antwortete er leise. »Sie haben bereits Saddin getötet und können es sicher kaum erwarten, ihre getöteten Brüder zu rächen. Allerdings wisst ihr nicht, wie gefährlich sie wirklich sind. Denn sie werden getrieben von den mächtigsten Gefühlen, zu denen Menschen fähig sind - Angst und Hass. Sie hassen alles, was nicht denselben Glauben hat wie sie. Und deshalb fürchten sie die Steine der Fatima. Sie fürchten sich vor dem, was geschehen könnte, wenn das Auge eines Tages wieder vereint sein sollte. Sie fürchten die Erkenntnis, dass alle Wege zur Quelle führen.« Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Eine Angst, die sie übrigens mit vielen anderen teilen, nicht nur Muslimen. Sie behaupten, sie wollen die Steine der Fatima vor der Hand der Ungläubigen und Frevler retten, doch letztlich versuchen sie nur mit allen Mitteln die Vereinigung der Saphire zum Auge zu verhindern.«
»Aber wenn wir das Auge jetzt zusammenführen, dann ist es doch sicher? Dann ist die Voraussetzung erfüllt, und die Prophezeiung kann eintreten. Wenn wir es jetzt, in diesem Augenblick ...«
»Tragt Ihr auch ruach-daat bei Euch?«
»Nein«, antwortete Beatrice. »Er ist bei Michelle in Alis Haus. Doch wir können ...«
»So hat es keinen Sinn.« Er lehnte sich erschöpft in seinem Sessel zurück. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte dabei sein, wenn das Auge endlich zusammengefügt wird.«
»Aber was spricht denn dagegen?«, warf Beatrice ein. »Einer von uns könnte den fehlenden Saphir holen, und dann können wir hier ...«
»Nein. Wenn es Gott, dem Allmächtigen, gefallen hätte, mich an diesem Ereignis teilhaben zu lassen, es wäre schon längst geschehen. Ich war schon so oft nahe daran, alle Steine in meiner Obhut zu haben. Doch immer wieder ging einer von ihnen verloren oder wurde gestohlen, oder ist einfach verschwunden.« Moshe schüttelte den Kopf. »Es steht uns nicht zu, den Ratschluss Gottes zu kennen. Außerdem habe ich schon zu viel gesehen. Ich bin müde. Es wird Zeit, dass ich die Aufgabe, die Steine zu beschützen, an jemanden übertrage. Jemanden, der jünger und stärker ist als ich.« Er reichte Beatrice den Kasten.
Beatrice sah den alten Juden mit offenem Mund an, und es dauerte eine Weile, bis sie begriffen hatte.
»Ich?!«, rief sie schließlich aus und wusste in diesem Augenblick nicht, ob sie sich über die Ehre freuen oder daran verzweifeln sollte. Eigentlich hatte sie doch nichts anderes vorgehabt, als ihre Tochter wieder nach Hause zu bringen, um dort ein ganz normales Leben zu führen. Die Verantwortung für ein rätselhaftes archaisches Artefakt zu übernehmen, das die Welt vielleicht nicht gerade retten, aber immerhin besser machen sollte, war wohl etwas zu viel verlangt. Dies hier war nicht Hollywood. Sie war keine Heldin. Sie war Chirurgin, Mutter und mehr als zufällig in diese ganze Geschichte hineingestolpert. »Aber warum ausgerechnet ich? Ich wollte doch nur ...«
Moshe lächelte mild und verständnisvoll. »Ich kann Euch verstehen«, sagte er und brachte Beatrice damit auf die Palme. Wenn er sie so gut verstehen konnte, weshalb mutete er ihr das denn zu? »Niemand bewirbt sich um diese Aufgabe. Sie wird uns übertragen, als Zeichen des in uns gesetzten Vertrauens. Nicht ich habe Euch auserwählt. Das Auge hat es getan - und damit der Wille, der das Auge lenkt.«
Beatrice wurde schwindlig. Was sollte sie tun? Am besten, sie würde jetzt gleich einen Teil der Aufgabe erfüllen und ihren Stein zu den anderen legen. Vielleicht ließ Moshe sich doch noch überreden, selbst bis zum Schluss weiterzumachen. Sie streckte ihre Hand aus, um ihren Stein ebenfalls in den Kasten zu legen, als Moshe plötzlich ihr Handgelenk umklammerte. Seine dürren Finger waren so kalt, als ob er bereits tot wäre, und trotzdem hatten sie eine erstaunliche Kraft.
»Nein«, sagte er mit Nachdruck. »Noch nicht. Es ist zu gefährlich.«
»Warum?«
»Ihr müsst die Steine von hier fortbringen. Auf dem Weg zu eurem Haus könnten euch Fidawi begegnen und den Kasten in ihre Gewalt bringen. Sechs Steine wären dann für lange Zeit verloren.« Er nickte zur Bekräftigung seiner Worte. »Behaltet u-bina wie Ihr es gewohnt seid bei Euch in dem Beutel, bis ihr zu Hause seid und Ihr auch noch ruach-daat zu den anderen hinzufügen könnt. Sollten die Fidawi euch überfallen, wären wenigstens zwei der sieben immer noch beieinander.«
Beatrice warf Ali einen Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. Offensichtlich leuchteten auch ihm die Argumente des Alten nicht wirklich ein. Aber wenn sie ihm damit eine Freude machen konnte, wollte sie es tun. Immerhin würde er nicht mehr lange zu leben haben. Und da die Steine mittlerweile seit mehreren hundert Jahren getrennt waren, würde eine Stunde mehr oder weniger auch nicht ins Gewicht fallen.
»Bringt die Steine aus Qazwin raus«, fuhr Moshe Ben Maimon fort und ließ Beatrices Handgelenk endlich los. »Die Fidawi sind der Spur der Steine schon einmal bis hierher gefolgt. Meine Söhne konnten zwar die Toten unbemerkt verscharren und jeden Hinweis auf ihre Anwesenheit hier in der Stadt verwischen, doch ich bin sicher, es wird nicht mehr lange dauern, bis sie die Spur ein zweites Mal finden. Selbst wenn sie eine Niederlage hinnehmen müssen, geben sie nicht auf. Vielleicht sind sie sogar schon hier.« Er sank in seinem Sessel zusammen und wirkte noch kleiner als zuvor. »Und nun geht. Ich bin müde.«
Isaac eilte zu ihm, nahm seine Hand und schaute ihm in die Augen.
»Ihr habt den Rabbi gehört«, flüsterte er Ali und Beatrice zu. »Geht. Wenn ihr noch Fragen habt, kommt an einem anderen Tag wieder. Rabbi Ben Maimon braucht jetzt Ruhe.«
Beatrice und Ali sahen sich an, dann erhoben sie sich gemeinsam. Isaacs Worte klangen in Beatrices Ohren wie blanker Hohn. Und ob sie noch Fragen hatte! Sie hatte sogar den Eindruck, dass während des Gesprächs mehr neue Fragen aufgetaucht als alte beantwortet worden waren. Saddin hatte Recht, Moshe Ben Maimon vermochte ihr bestimmt alles über die Steine der Fatima zu erzählen, was ein Mensch nur darüber wissen konnte. Doch nach ihrer vorsichtigen Schätzung würde das ein intensives Studium von ein bis zwei Jahren erfordern. So viel Zeit hatten sie aber nicht. Moshe würde bald sterben. Und so sehr es sie auch ärgerte, sie konnten den alten kranken Mann unmöglich noch länger mit ihren Fragen belästigen. Also verließen sie das Haus.
Moshe Ben Maimon hörte die Schritte seiner Besucher, als sie den Innenhof durchquerten, und das Zuschlagen der Haustür. Wie gern hätte er den beiden mehr erzählt, ihnen all jene Fragen beantwortet, die er in ihren Augen gesehen hatte. Doch wie sollte er das in der Kürze der Zeit, die ihm noch blieb, tun, er, der selbst viele, kaum mehr gezählte Leben gebraucht hatte, um die Antworten zu finden? Und statt der Erleichterung darüber, dass nun endlich nach vielen Jahrzehnten die Bürde, die Steine der Fatima zu beschützen, von seinen Schultern genommen war, spürte er nur, wie seine Kraft ihn verließ. Endgültig.
»Ich bin so müde, Isaac«, flüsterte er dem Jungen zu, der sich besorgt über ihn beugte. »So unendlich müde.«
»Ich weiß, Rabbi, ich weiß. Ich bringe Euch in Euer Bett.« Isaac hob ihn auf seine jungen, starken Arme wie ein kleines Kind und trug ihn zum Bett. »Ihr müsst schlafen, Rabbi. Und morgen früh werdet Ihr Euch wieder kräftiger fühlen.«
Moshe lächelte. Morgen. Nein, morgen würde es für ihn nicht mehr geben. Aber er würde schlafen. Endlich nur noch schlafen. Nicht mehr reisen, nicht mehr kämpfen. Nie mehr.
»Geh jetzt, Isaac«, sagte er und schloss seine Augen. »Lass mich allein.«
»Wie Ihr es wünscht, Rabbi.«
Moshe hörte, wie sich die leichten, schnellen Schritte des Jungen entfernten. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Endlich. Ruhe.
Moshe Ben Maimon war beinahe eingeschlafen, als er plötzlich aufschreckte. Etwas Hartes, Spitzes bohrte sich in seine Rippen. Mit kalten zitternden Fingern tastete er in seinem Bett nach dem Gegenstand und erstarrte. Er brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, was es war. Er fühlte es. Er kannte jede Rundung, jede Spitze der Bruchkante ganz genau. Es war u-bina, die Einsicht. Wie der Saphir, den Beatrice noch vor wenigen Momenten vor seinen Augen wieder in ihren Beutel gesteckt hatte, in sein Bett gekommen war, war ohne Bedeutung; eine Frage, die ein Sterblicher ohnehin nicht beantworten konnte, eines der ungezählten Wunder der Steine der Fatima. Moshe atmete tief ein. Es war also noch nicht vorbei. Aus irgendeinem Grund war seine Aufgabe immer noch nicht erfüllt. Dabei war er so müde. Er hatte nicht einmal mehr genügend Kraft, um zornig zu werden. Zornig auf einen Ratschluss, der weit über das Maß hinausging, das ein Einzelner ertragen konnte.
»O Adonai, o Zebaoth«, flüsterte er nur, als er spürte, wie sich das Zimmer um ihn herum zu drehen begann. Seine gefühllosen Finger umklammerten den Stein fester, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Warum? Warum nur?«