Wärme. Hitze. Feuer. Auf ihrer Stirn brannte es, und Hunderte wirre, ungeordnete Gedanken schossen durch Beatrices Kopf. Es fühlte sich an, als würde jemand gerade ein glühendes Eisen auf ihre Stirn pressen. Waren das Erste-Hilfe-Maßnahmen im Krankenhaus? Hatte sie vielleicht einen Herzstillstand erlitten? War das, was sie als Hitze empfand, in Wahrheit das Kontaktgel, mit dessen Hilfe ihr die EEG-Elektroden auf die Stirn geklebt wurden? Fieberhaft suchte Sie nach einer Erklärung.
Oder aber war es schon wieder passiert. Vielleicht hatte der Stein sie an einen Ort gebracht, an dem sie jetzt gefoltert wurde. Gefoltert für ein Vergehen, das sie gar nicht begangen haben konnte, weil sie sich bis vor wenigen Sekunden an einem anderen Ort und in einem anderen Zeitalter aufgehalten hatte. Oder war sie etwa wieder in die schmierigen Hände brutaler Sklavenhändler gefallen, die mit einem Brandeisen ihren »Neuzugang« für den Rest des Lebens als ihr Eigentum kennzeichneten? Doch warum tat es dann nicht weh? Sie spürte zwar die Hitze, und ihre Stirn brannte, aber sie fühlte dabei keinen Schmerz. Im Gegenteil, die Hitze breitete sich in ihrem Körper aus und durchflutete sie mit wohliger Wärme; wie ein heißer Ofen jemanden durchwärmt, der den ganzen Tag bei eisiger Kälte draußen gewesen ist. Und woher kam diese Stimme, die leise, aber eindringlich immer das Gleiche wiederholte: »Talitha kumi – Mädchen, ich sage dir, stehe auf«?
Wenn du jemals herausfinden willst, was hier los ist, musst du wohl die Augen öffnen, sagte sich Beatrice.
Aber sie wagte es nicht. Sie dachte daran, was sie das letzte Mal erlebt hatte, als der Stein sie entführt hatte. Nachdem ihr in der OP-Schleuse schwindlig geworden war, war sie im Kerker des Sklavenhändlers von Buchara wieder zu sich gekommen. Auch heute noch konnte sie deutlich die erbärmliche, schmutzige Umgebung vor sich sehen, das feuchte, schimmlige Stroh, bedeckt mit den Ausscheidungen der Gefangenen. Und natürlich erinnerte sie sich auch an die mitleiderregenden Kreaturen mit ihren schiefen, verfaulten Zähnen und den eiternden Wunden, die sie nur mit viel Fantasie als menschliche Wesen hatte identifizieren können. Sie hatten sie angestarrt, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern. Wollte sie sich das alles wirklich noch einmal antun? Wieder in den Armen eines fetten, schmierigen Sultans landen? War es nicht besser, die Augen einfach geschlossen zu halten, liegen zu bleiben und darauf zu warten, dass der Stein sie eines Tages zurückbringen würde – ganz von selbst?
»Talitha kumi.«
Da war diese Stimme wieder – drängend, fordernd, wie eine Zauberformel. Und plötzlich blieb ihr nichts anderes übrig. Ob sie wollte oder nicht, sie musste dieser Stimme gehorchen.
Beatrice öffnete die Augen und setzte sich auf. Im selben Moment stieß jemand einen Schrei aus. Der schmächtige Mann, der offenbar neben ihrem Bett gestanden hatte, sprang zurück und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Er schien überrascht, als hätte er nicht damit gerechnet, dass seine Zauberformel so gut wirken würde.
Beatrice ließ hastig den Blick umherschweifen. Sie musste schließlich wissen, was sie jetzt erwartete. Das, was sie sah, erstaunte sie sehr. Vermutlich war sie sogar überraschter als der Mann neben ihrem Bett. Sie befand sich nämlich weder in einem Kerker noch in einem anderen unerfreulichen Milieu. Das Erste, was ihr beim Anblick ihrer neuen Umgebung einfiel, war ein einziges Wort – China. Dieses Wort beschrieb alles.
Beatrice saß in einem schmalen Bett mit zierlichen Pfosten aus dunklem, auf Hochglanz poliertem Holz. Warme Decken lagen über ihren Beinen, und neben dem Bett stand ein Becken mit glühenden Kohlen. Abgesehen von dem Bett gab es nur zwei niedrige Tische aus dem gleichen dunklen Holz, zwei Stühle mit niedrigen Sitzflächen und einen Schrank mit bestimmt mehr als einem Dutzend kleiner Schubladen. Trotz allem machte der Raum keinen armseligen Eindruck. Im Gegenteil. Jemand, der seine Wohnung so geschmackvoll einrichten konnte, musste wohlhabend sein. Die wenigen, mit Bedacht ausgewählten und platzierten Möbelstücke verliehen dem Zimmer eine wohltuende Ruhe. Hier herrschten der Friede und die Gelassenheit eines Bergs; vielleicht war es ja die Gelassenheit jenes Bergs auf der farbigen Tuschezeichnung, die als einziger Schmuck an der holzgetäfelten Wand gegenüber dem Bett hing.
Nachdem sie sich ausreichend umgesehen hatte, wandte Beatrice ihren Blick dem Mann zu. Er war schon etwas älter, sie schätzte ihn auf mindestens fünfzig, vielleicht sogar sechzig Jahre. Sein dichtes, leicht krauses Haar und seine Augenbrauen waren grau, sein freundliches, gütiges Gesicht war von Falten durchzogen. Er trug ein weites, bunt gefärbtes Obergewand, das fast bis zu seinen Knien reichte, einen breiten ledernen Gürtel mit einer schlichten Schnalle, eine braune Hose und kniehohe, fellbesetzte Lederstiefel mit flacher Sohle, die aussahen, als hätte er sie im Laden des Museums für Völkerkunde erworben, als dort gerade eine Ausstellung zum Thema Nomadenvölker stattfand. Seine Kleidung erinnerte Beatrice ein wenig an die Bilder von antiken chinesischen Soldaten, die sie in Bildbänden über die chinesische Kunst und Kultur gesehen hatte; oder eher noch an die Darstellungen mongolischer Krieger. Nur das Gesicht des Mannes passte nicht zu seiner Kleidung. Es war kein asiatisches Gesicht. Ihm fehlten die schräg geschnittenen Augen, die dunklere Hautfarbe, die flache Nase und die breiten Wangenknochen. So chinesisch der Raum und die Kleidung des Mannes auch waren, Beatrice hätte Wetten darauf abschließen mögen, dass er selbst Europäer war. Er betrachtete sie misstrauisch aus sicherer Entfernung, als würde er fürchten, sie könnte jeden Augenblick aus dem Bett springen und über ihn herfallen.
Nachdem sie sich eine Zeit lang gegenseitig stumm angestarrt hatten, kam der Mann schließlich näher. Er sagte etwas in einer Sprache, die Beatrice überhaupt nicht einordnen konnte. Es hörte sich an wie eine Mischung zwischen Chinesisch und einem indianischen Dialekt. Als er merkte, dass sie ihn nicht verstand, schüttelte er den Kopf und versuchte es mit einer anderen Sprache. Diesmal klang es schon vertrauter. Beatrice war nicht wenig überrascht, als sie nach einer Weile erkannte, dass er wohl Italienisch sprach.
»Io non parlo italiano«, sagte sie und kramte die wenigen Worte wieder hervor, die ihr von einer Reise durch die Toskana noch im Gedächtnis geblieben waren, »Parlo Tedesco, Inglese, Latino, Arabo…«
»Arabisch? Du sprichst arabisch? Das ist gut!«, rief der Mann aus. »Das erleichtert vieles. Ich fürchtete schon, dass wir uns vielleicht gar nicht verständigen können. Die Sprachen, die du genannt hast, sind mir nämlich unbekannt, und mein Latein…« Er lächelte verlegen. »Nun ja, vergessen wir das lieber. Wie ist dein Name?«
Wenn Beatrice sich eben nur gewundert hatte, so war sie jetzt fassungslos. Sie traute ihren Ohren kaum und starrte den Mann an, als wären plötzlich Hörner aus seiner Stirn gewachsen. Ob sie es nun wahrhaben wollte oder nicht, er sprach tatsächlich denselben Dialekt, den sie während ihres Aufenthalts in Buchara gelernt hatte. Aber wie war das möglich? So viele verschiedene Sprachen in Europa gesprochen wurden, so viele Dialekte gab es im arabischen Raum. Einen arabisch sprechenden Europäer zu treffen, war allein schon eine Seltenheit. Aber wie hoch mochte die Wahrscheinlichkeit sein, dass man einen Europäer traf, der denselben mittelalterlichen Dialekt beherrschte? Es konnte sich also nur um einen Zufall handeln. Einen überdimensional großen Zufall, oder sie war wieder in Buchara gelandet. Aber wieso trug er dann asiatische Kleidung?
»Schade. Ich fürchte, du verstehst mich doch nicht«, fuhr der Mann fort. Der Ausdruck seiner braunen Augen wurde traurig. »Oder willst du mir deinen Namen nicht sagen? Wenn ich dir mit meiner Frage zu nahe getreten bin, so bitte ich dich um Verzeihung. Aber ich wollte nur…«
»Nein, nein«, fiel Beatrice ihm rasch ins Wort. »Ich habe dich sehr gut verstanden. Ich war nur… ein wenig überrascht.« Sie lächelte verlegen. »Mein Name ist Beatrice. Beatrice Helmer.«
»Ich bin erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Beatrice Helmer«, sagte der Mann und verbeugte sich steif und umständlich. »Mein Name ist Maffeo Polo. Ich…«
»Polo?«, rief Beatrice aus. »Sagtest du eben, du heißt Marco Polo?«
»Nein, nicht Marco. Mein Name ist Maffeo«, antwortete der Mann und sah Beatrice forschend an. »Marco ist mein Neffe. Du kennst ihn?«
Beatrice räusperte sich und musste husten. Irgendjemand hatte wohl den Sauerstoff aus der Luft in diesem Raum entfernt. Oder weshalb konnte sie plötzlich nicht mehr richtig atmen?
»Nein«, brachte sie schließlich mühsam hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Marco Polo! Maffeo Polo! Wenn ihre Geschichtskenntnisse sie nicht im Stich ließen, so konnte das nur bedeuten, dass sie sich hier und jetzt, genau in diesem Augenblick, etwa im 13. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in China am Hofe von Khubilai Khan…
Das Zimmer begann sich um sie zu drehen. Beatrice schloss die Augen. Als sie sie kurz darauf öffnete, waren Möbel und Wände wieder vernünftig geworden. Sie standen still an ihren Plätzen, so wie es sich gehörte.
»Nein«, sagte sie noch einmal. Ihre Stimme klang beinahe wieder normal. »Ich kenne Marco Polo, deinen Neffen, nicht – wenigstens nicht persönlich. Aber ich habe bereits von ihm gehört.«
Das ist noch nicht einmal gelogen, dachte Beatrice und musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu lachen. Mit einem Mal fühlte sie sich heiter und beschwingt. So musste jemandem zumute sein, der gerade einen Joint geraucht hatte. Die Realität war nicht nur meilenweit weg, sie war noch dazu urkomisch.
Maffeo seufzte und senkte den Blick. Etwas schien den alten Mann zu bedrücken. Beatrice bemühte sich, ernst zu bleiben, obwohl das Lachen aus ihr herauszuplatzen drohte wie Popcorn. Aber sie wollte diesen netten älteren Herrn auf keinen Fall durch unbedachtes Gelächter verletzen.
»Ich weiß, sein Ruf eilt ihm voraus«, sagte er leise und seufzte wieder. »Aber ich kann leider nichts dagegen tun. Marco hört schon lange nicht mehr auf mich. Selbst sein Vater, mein Bruder Niccolo, ist machtlos. Aber…«, er schaute auf und lächelte Beatrice an »… ich sollte dich nicht mit unseren Familiengeschichten langweilen. Erzähle mir von dir. Wo ist deine Heimat?«
»Ich komme aus Deutschland«, antwortete Beatrice. Dann fiel ihr plötzlich ein, dass es Deutschland zu Maffeos Zeit vermutlich noch gar nicht gegeben hatte und er folglich auch mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. »Meine Heimatstadt heißt Hamburg und liegt nördlich des Flusses Rhein.«
»Ich kenne den Rhein«, sagte Maffeo und nickte lächelnd. »Nicht, dass ich jemals selbst dort gewesen bin, aber ich habe davon gehört. Kaufleute aus Venedig, die venezianisches Tuch und Glas an den Hof eures Kaisers verkaufen, haben mir mal davon erzählt. Ihren Berichten nach zu urteilen, muss der Rhein ein ziemlich großer Fluss sein.« Er nickte wieder. »Darf ich dich fragen, wo du so ausgezeichnet Arabisch gelernt hast? In deiner Heimat doch gewiss nicht.«
Beatrice spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. So ein harmloser alter Mann, und dann plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, eine so gezielte Frage, dass sie einem Agenten aus einem amerikanischen Thriller alle Ehre gemacht hätte.
»Ich habe einige Zeit im Harem des Emirs von Buchara verbracht.«
»Verzeih mir, ich bin ein alter Narr.« Verlegen senkte Maffeo den Blick, und Beatrice beruhigte sich wieder. »Ich wollte dir mit meiner unbedachten Frage nicht zu nahe treten. Auch ich war in Buchara. Allerdings bin ich Kaufmann und… Nun, das ist alles nicht so wichtig. Du brauchst Ruhe und nicht das sinnlose Geschwätz eines alten Mannes. Außerdem hast du bestimmt Hunger.«
»Nein«, erwiderte Beatrice und war im gleichen Augenblick selbst überrascht. In den vergangenen fünf Monaten hatte sie eigentlich dauernd Hunger gehabt. Teilweise war es so schlimm, dass die Kollegen und Schwestern auf der Notaufnahme sogar damit begonnen hatten, Obst, Joghurt und Knäckebrot überall in den Schränken auf der Station zu verteilen, damit Beatrice nicht jede Weile zum Kühlschrank im Aufenthaltsraum zurücklaufen musste. Nicht hungrig zu sein war ein ganz neues Gefühl. Doch dann fiel Beatrice wieder ein, weshalb sie vor Antritt ihrer »Reise« ins Krankenhaus gekommen war. Und mit einem Schlag war ihre Heiterkeit verschwunden. War im Krankenhaus etwas schiefgegangen? War etwa…
Ihr wurde vor Angst übel, und ihr Herz begann zu rasen. Was sollte sie tun, wenn das Kind nicht mehr da war? Wie sollte sie eine… Es war ihr unmöglich, an dieses Wort auch nur zu denken, dieses furchtbare Wort, dass das unausweichliche Ende bedeuten würde. Das Ende für ein Leben, das noch nicht einmal richtig begonnen hatte.
Beatrice schloss die Augen. Sie traute sich kaum, eine Hand auf ihren Bauch zu legen. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um endlich zaghaft die Bauchdecke zu berühren. Die Wölbung war noch da. Aber das musste nichts heißen. Auch nach einer Fehlgeburt wurde der Bauch nicht sofort flach, sondern bildete sich erst im Laufe einiger Tage zurück. Außerdem war sie bei Weitem nicht so rundlich geworden wie andere Frauen in diesem Stadium der Schwangerschaft. Also, was… Doch in diesem Augenblick bewegte sich unter ihrer Hand etwas. Das Kind! Es fühlte sich an, als schmiegte es seinen Kopf in ihre Hand, um sie zu trösten. Und ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, begann Beatrice zu weinen. Wie Sturzbäche liefen die Tränen über ihr Gesicht, und sie schluchzte hemmungslos. Sie konnte gar nicht mehr aufhören.
Besorgt trat Maffeo an ihr Bett.
»Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung«, sagte er und strich ihr behutsam und ungeschickt über das Haar. Offensichtlich hatte er keine Erfahrung im Umgang mit hysterischen, schwangeren Frauen. »Alles wird gut. Ich hätte wissen müssen, dass dich unser Gespräch zu sehr anstrengt. Es tut mir leid.«
»Nein, es war nur…« Beatrice versuchte, sich die Tränen von den Wangen zu wischen. Es war sinnlos. Sofort flossen wieder neue nach. »Für einen Augenblick dachte ich, ich hätte mein Kind verloren.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Maffeo ein wenig ratlos und legte schließlich einen Arm um sie. »Aber glaube mir, du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Es wird alles wieder gut.«
Beatrice umschlang seinen Hals. Es war ihr schon fast peinlich, sich vor den Augen eines Wildfremden so gehen zu lassen. Aber musste es ihr wirklich peinlich sein? Sie kam sich vor wie ein kleines Mädchen, das der Vater in seine Arme genommen hatte, um es zu trösten. Und je mehr sie weinte, umso besser fühlte sie sich. Wie ein reinigender Regen spülten die Tränen alles aus ihr heraus, was sie in der letzten Zeit belastet hatte. Der Streit mit Markus, die Angst wegen der vorzeitigen Wehen, der Stress im Krankenhaus, die Furcht vor der Verantwortung, die bald auf sie zukommen würde und die sie allein würde tragen müssen, die Sorgen wegen einer unklaren Zukunft. Alles löste sich auf. Wie Schnee, der im Frühjahr in den Bergen schmolz und die Bäche zu reißenden Strömen anschwellen ließ, bis schließlich nur noch reines, klares Wasser über die Steine plätscherte. Nach einer Weile konnte Beatrice nicht mehr sagen, weshalb sie überhaupt noch weinte. Trotzdem hörte sie nicht damit auf. Es tat einfach gut. Und das lag nicht zuletzt an der väterlichen Güte und Wärme, die dieser freundliche Mann ausstrahlte.
Beatrice hörte, dass sich die Tür öffnete. Eine leise Stimme sagte etwas, und Maffeo antwortete in der seltsamen Sprache, die er auch vorhin benutzt hatte. Beatrice sah nicht auf. Erst als sich Schritte näherten und eine Hand, sanft und leicht wie eine Feder, ihre Schulter berührte, hob sie den Kopf.
Neben Maffeo stand ein asiatisch aussehender Mann. In seinem bodenlangen orangefarbenen Gewand wirkte er noch schmaler und kleiner als Maffeo, obwohl die beiden, objektiv betrachtet, gleich groß waren. Sein Kopf war kahl geschoren, und sein Gesicht war jugendlich glatt, sodass Beatrice sein Alter nicht schätzen konnte. Allerdings verrieten die feinen Linien um Mund und Augen, dass er kein junger Mann mehr war. Er musste mindestens fünfzig Jahre alt sein, ebenso gut konnte er aber auch auf die hundert zugehen. Der Mann lächelte. Es war ein Lächeln voller Gelassenheit, Heiterkeit, Wärme und Güte. Seine braunen Augen leuchteten vor Weisheit und Liebe. Und noch bevor er ein Wort gesagt hatte und Beatrice seinen Namen kannte, wusste sie, dass diesem Mann Bosheit, Neid und Habsucht fremd waren. Ein ehrfürchtiger Schauer lief ihr den Rücken hinunter. In diesem Raum, so nah, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um sein Gewand zu berühren, stand das Gute leibhaftig vor ihr und lächelte sie an.
»Dies ist Li Mu Bai«, erklärte Maffeo, Ehrfurcht und Freude schwangen in seiner Stimme mit. »Er hat dich bereits gestern Abend untersucht und behandelt. Er ist hier, um nochmals nach dir zu sehen.«
»Ist er ein Arzt?«, fragte Beatrice und kam sich ziemlich dumm vor. Natürlich, wenn er sie untersucht hatte, musste er ein Arzt sein. Aber sie konnte nicht begreifen, dass dieser Mensch so einen profanen, alltäglichen Beruf ausübte. Hätte Maffeo gesagt, dies sei der Dalai Lama oder gar Gautama Buddha selbst, sie wäre weniger überrascht gewesen.
»Ja«, antwortete Maffeo. »Aber Li Mu Bai ist nicht nur Arzt. Er ist außerdem ein Gelehrter, ein Weiser, dem die Lehren Buddhas vertraut sind und der…«
»Wer oder was ich bin, ist nicht von Bedeutung«, unterbrach der Arzt Maffeo lächelnd – auf Arabisch, eine weitere Geste seiner Freundlichkeit, denn Beatrice hörte deutlich, dass ihm diese Sprache nicht geläufig war. Er sprach langsam und mit starkem Akzent, und sowohl sein Satzbau als auch seine Wortwahl waren umständlich. »Allein, was ich für dich tun kann, ist wichtig. Wie fühlst du dich?«
»Recht gut«, stammelte Beatrice und fragte sich, ob sie sich verbeugen oder den Arzt mit »Meister« oder einem anderen Ehrentitel ansprechen sollte.
»Du hast geweint?«, fragte er weiter.
»Ja«, antwortete Beatrice und spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete. Hastig wischte sie ihre nassen Wangen trocken. »Es brach ganz plötzlich aus mir heraus. Und dann konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Die Tränen liefen und liefen und ich…«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Li Mu Bai mit seinem sympathischen Akzent und lächelte freundlich. Beatrice hätte ihm stundenlang zuhören können. »Es ist sehr gut, dass du geweint hast. Tränen sind ein Zeichen, dass sich die innere Kälte und Erstarrung, unter der du gelitten hast, auflöst und dein Chi wieder zu fließen beginnt.« Ein fröhliches Funkeln trat in seine Augen. »Mein Lehrer, der weise und verehrungswürdige Li Yue, pflegte zu sagen: Tränen sind das Schmelzwasser, das im Frühjahr die Berge hinunterfließt.«
Beatrice starrte den Arzt verblüfft an. Hatte sie laut gedacht? Oder weshalb wählte er denselben Vergleich, der ihr vorhin auch in den Sinn gekommen war? Konnte dieser Mann Gedanken lesen? Oder war es etwa ein Zufall, ein weiterer in einer ganzen Kette von Zufällen?
»Hat der ehrwürdige Maffeo Polo dich bereits darin eingewiesen, wo du bist und wie du hierher kommst?«
»Nein.«
Beatrice schüttelte den Kopf. Sie war so sicher gewesen, dass der Stein der Fatima sie in diese Situation gebracht hatte, dass sie es gar nicht für nötig gehalten hatte, diese Fragen zu stellen. Doch wenn Li Mu Bai sich darüber wunderte, so ließ er es sich nicht anmerken.
»Ich bin sicher, Maffeo Polo wird dir zur gegebenen Zeit alles erzählen.«
Er griff nach ihrem rechten Handgelenk. Beatrice spürte den wechselnden Druck seiner Finger, während er ihren Puls maß. Dann ließ er los und prüfte auch den Puls am linken Handgelenk. Beatrice runzelte die Stirn. Wozu tat er das? Glaubte er etwa, links eine andere Herzfrequenz zu ertasten als rechts?
»Streck bitte deine Zunge heraus«, sagte Li Mu Bai und betrachtete Beatrices Zunge, als wären dort die Lösungen der wichtigsten Rätsel der Welt niedergeschrieben. Schließlich verbeugte er sich. »Ich werde dir eine Rezeptur verordnen. Trink den Tee dreimal am Tag, verdünnt mit kochendem Wasser. Vermeide kalte und süße Speisen. Warme Getreidebreie und Suppen sind in dieser Zeit die beste Nahrung für dich. Wenn du möchtest, darfst du gern dein Bett verlassen und umhergehen. Aber nur kurze Spaziergänge, die dir nicht den Atem rauben. In drei Tagen komme ich wieder.«
Beatrice wusste nicht, was sie sagen sollte. Li Mu Bai hatte sie nicht richtig untersucht. Er hatte ihr nicht einmal in den Hals geschaut, geschweige denn den Bauch abgetastet oder sie nach ihren Beschwerden befragt. Woher wollte er denn wissen, was ihr fehlte und welche Arzneien ihre Krankheit lindern würden? Sollte sie ihm von den vorzeitigen Wehen erzählen?
»Ich bin schwanger«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob Ihr…«
Sein Lächeln wurde warm. »Glaub mir, deinem Kind geht es gut. Und wenn du die Medizin einnimmst, so wie ich es dir geraten habe, wird das Kind auch nicht mehr darauf drängen, diese Welt schon jetzt zu betreten. Der kleine Tiger wird schlafen, bis seine Zeit gekommen ist.«
Der Arzt verbeugte sich erneut, und Maffeo brachte ihn zur Tür. Während sich die beiden Männer noch leise in jener seltsamen Sprache unterhielten, dachte Beatrice über Li Mu Bais Worte nach. Woher hatte er gewusst, dass sie unter vorzeitigen Wehen gelitten hatte? Wie konnte er davon wissen, wenn er sie noch nicht einmal richtig untersucht hatte? War er so eine Art Hellseher oder Geistheiler? Sie grübelte immer noch, als Maffeo wieder an ihr Bett zurückkehrte.
»Li Mu Bai wird einen Botenjungen mit den Kräutern schicken. Noch vor dem Mittag wirst du deine Medizin einnehmen können.«
»Danke«, erwiderte Beatrice zerstreut.
Dann fiel ihr ein, dass Li Mu Bai bereits gestern bei ihr gewesen war. Vermutlich hatte er sie bei der Gelegenheit körperlich untersucht. Also gab es doch keine Rätsel, und Zauberei war auch nicht im Spiel. Alles ging natürlich zu, so wie es sich gehörte.
Sie war regelrecht erleichtert. Nur in einem kleinen Winkel ihres Hirns regte sich so etwas wie Enttäuschung. Zauberei, Geistheiler, Telepathie – das wäre doch richtig spannend gewesen.
»Kann ich noch etwas für dich tun?«, erkundigte sich Maffeo.
»Nein, danke. Ich bin wunschlos… Doch, natürlich, du kannst etwas für mich tun.« Beatrice erinnerte sich plötzlich wieder daran, dass sie viele Fragen noch nicht gestellt hatte. Fragen, die in ihrer jetzigen Situation eigentlich völlig normal waren. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, wo ich bin und wie ich hierher komme.«
»Ich…«
Beatrice rückte ein Stück zur Seite und klopfte mit der flachen Hand auf die Bettkante.
»Bitte, setz dich neben mich. Es redet sich dann leichter.«
Maffeo lächelte. »Spätestens jetzt wüsste ich, dass du aus einem anderen Teil der Welt stammst als Shangdou. Sowohl die mongolischen Frauen als auch die Chinesinnen würden es einem Mann niemals gestatten, auf ihrer Bettkante Platz zu nehmen. Schon gar nicht, wenn er ein Fremder ist.«
Beatrice spürte, dass sie vor Scham wieder einmal dunkelrot anlief.
»Oh, verzeih. Ich wollte nicht gegen eure Sitten verstoßen.«
»Nein, nein, lass nur. Es ist ein sehr schöner Brauch. Er erinnert mich an meine Heimat – und an meine Kindheit.« Maffeo setzte sich lächelnd auf ihr Bett. Dennoch hatte Beatrice den Eindruck, dass er plötzlich wieder traurig war.
»Ich war mit meinem Bruder Niccolo und Dschinkim, dem Bruder und Thronfolger des großen Khans, auf der Jagd, als wir dich in der Steppe fanden. Du lagst mitten im Gras, der eisigen Kälte schutzlos ausgeliefert. Da es weit und breit kein Dorf und keine bekannte Karawanenstraße gibt, wussten wir nicht so recht, was wir mit dir anfangen oder wo wir dich hinbringen sollten. Deshalb haben wir beschlossen, dich nach Shangdou mitzunehmen. Und hier bist du jetzt – im Palast des großen und mächtigen Khubilai Khans.«
Beatrice schluckte. Also doch. Sie war sozusagen mitten in die Seiten eines Geschichtsbuchs katapultiert worden. Marco Polo, Khubilai Khan – das klang zu fantastisch, um wahr zu sein. Das war noch weniger vorstellbar, als Avicenna persönlich zu begegnen. Und doch lag sie hier, auf diesem chinesischen Bett, und sprach mit einem Mann, der von sich behauptete, Marco Polos Onkel zu sein. Das war verrückt.
»Wisst ihr, wie ich dorthin gekommen bin?«, fragte sie, als sie sich einigermaßen von dieser Nachricht erholt hatte.
»Wissen? Nein.« Maffeo schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber jeder von uns dreien hat seine eigene Meinung darüber, wie eine vornehm gekleidete, europäisch aussehende schwangere Frau dorthin kommt, wo wir dich gefunden haben. Dschinkim glaubt an Zauberei, an das Werk von Dämonen. Und Niccolo vermutet, du seist eine Dame aus dem Gefolge des großen Khans und bist entweder geflohen oder aber von Sklavenhändlern geraubt worden.«
Maffeo schüttelte lächelnd den Kopf. Anscheinend hielt er selbst wenig von diesen Vermutungen.
»Und du, Maffeo?«, fragte Beatrice. »Was glaubst du?«
Gespannt wartete sie auf die Antwort. Ihr Herz klopfte, und nervös verschränkte sie ihre Hände, damit Maffeo nicht merkte, wie stark sie zitterten. Aus irgendeinem Grund lag ihr an seiner Meinung.
Vielleicht, dachte sie, weil er so nett und väterlich zu mir ist. Deshalb will ich wissen, was er über mich denkt. Aber dass dies der einzige Grund war, daran mochte selbst sie nicht glauben.
Maffeo sah sie lange an. Unter diesem Blick fühlte sich Beatrice durchsichtig wie Glas oder wie ein Brustkorb, der zur Tuberkulose-Vorsorge durchleuchtet wurde. Seine Augen hatten die Kraft von Röntgenröhren. Sie war sicher, wenn es irgendwo in ihrer Seele einen verborgenen dunklen Punkt gab, einen Schatten, von dessen Existenz nicht einmal sie selbst etwas ahnte, Maffeo würde ihn entdecken. Mit einem Blick ähnlich wie diesem musste Jesus Judas Iskariot beim letzten Abendmahl bedacht und seinen Verrat erkannt haben, noch bevor Judas selbst davon gewusst hatte.
Wortlos und ohne den Blick auch nur den Bruchteil einer Sekunde von ihr zu wenden, steckte Maffeo seine Hand in eine Tasche seines Obergewands und holte einen Gegenstand heraus. Nur mit großer Mühe riss Beatrice sich von dem Ausdruck seiner Augen los. Sie sah nach unten und erstarrte. Der Raum begann wieder, sich um sie herum zu drehen, eine unsichtbare Hand hob ihr Bett in die Luft und ließ es inmitten des Wirbels schweben, ihr stockte der Atem. Auf Maffeos Handfläche lag, klar und blau und ruhig wie ein Hochgebirgssee, ihr Saphir, der Stein der Fatima.
»Wie…«, brachte Beatrice mühsam hervor, als sie irgendwann, vermutlich nach Stunden, ihre Fassung wiedergewonnen hatte. »Woher hast du den Stein, und…«
»Lass uns nicht jetzt darüber reden«, unterbrach Maffeo sie, legte den Saphir in ihre Hand und drückte sie behutsam zu. »Wir haben noch viel Zeit. Sehr viel Zeit. Jetzt solltest du dich ausruhen.« Er erhob sich und ging zur Tür. »Sobald die Kräuter eingetroffen sind, werde ich dir deine Medizin bringen. Solltest du in der Zwischenzeit einen Wunsch haben, so brauchst du nur zu rufen oder in die Hände zu klatschen. Die alte Ming, eine meiner chinesischen Dienerinnen, weiß Bescheid und hat die Anweisung, deine Befehle entgegenzunehmen und unverzüglich auszuführen. Aber du musst ein wenig Geduld mit ihr haben. Sie ist alt und schon recht starrköpfig. Außerdem ist ihr Arabisch nicht besonders gut. Das führt leider immer wieder zu Missverständnissen, die zwar manchmal recht amüsant, meistens jedoch sehr ärgerlich sind.«
Maffeo verließ das Zimmer. Beatrice sah ihm verwundert nach. Dann wanderte ihr Blick zu dem Stein der Fatima. Er lag auf ihrer Handfläche und leuchtete, als hätte jemand in seinem Inneren ein Feuer entfacht. Sanft fuhr sie mit den Fingerspitzen über die vertrauten Rundungen. Ob Maffeo ahnte, dass dieser Saphir die Ursache dafür war, dass sie mitten in der mongolischen Steppe gelegen hatte? Ob er sich vorstellen konnte, dass sie nicht nur aus Europa, sondern sogar aus einer anderen Zeit hierher gekommen war?
Nein, korrigierte sie sich und dachte an den Ausdruck seiner braunen Augen. Maffeo ahnt es nicht, er weiß es.
Schritte. Schritte und Stimmen. Jemand war in ihrem Zimmer. Beatrice zuckte zusammen und setzte sich im Bett auf. Sie fühlte sich seltsam benommen und zerschlagen, und ihre Zunge klebte am Gaumen, als hätte sie seit vielen Stunden nichts getrunken. Als sie Maffeo sah, erschrak sie. War er so schnell wieder zurückgekommen? Aber er war doch eben erst aus dem Zimmer…
Sie hatte Hunderte von Fragen, die sie Maffeo stellen wollte. Fragen, die sie nicht ohne Weiteres stellen durfte, nicht hier, nicht im Mittelalter. Wenn auch nur der geringste Verdacht bestand, dass sie aus einem anderen Zeitalter stammte, würde sie mit Sicherheit als Hexe verurteilt und brennend auf dem Scheiterhaufen enden. Zumindest in Europa würde es ihr so ergehen. Wie jedoch die als grausam geltenden Mongolen unter Khubilai Khan mit Hexen und Besessenen umgegangen waren, wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen. Was die Geschichtsbücher über ihn und seine Nachfolger zu berichten wussten, übertraf die Gräuel des europäischen Mittelalters noch bei Weitem. Wenn die Mongolen erst mit ihrer Folter begonnen hatten, würde sie sich vermutlich sogar nach dem Scheiterhaufen sehnen. Um dieses Risiko zu vermeiden, hatte sie sich eigentlich vorgenommen, sich bis zu Maffeos Rückkehr alle Fragen genau zurechtzulegen. Sie wollte ihm nicht mehr über sich erzählen, als er unbedingt wissen musste, und ihm mit keinem Wort, keiner Formulierung einen Verdachtsmoment liefern. Doch nun stellte sie fest, dass sie nicht weit damit gekommen war. Beatrice konnte sich noch daran erinnern, dass ihr das Sitzen im Bett unbequem geworden war. Deshalb hatte sie sich zum Nachdenken hingelegt und war wohl kurz darauf eingeschlafen. Jetzt stand Maffeo lächelnd vor ihr, und sie wusste nicht, womit sie beginnen sollte.
»Deine Arznei, Beatrice«, sagte Maffeo und reichte ihr eine schöne Schale aus grünem Porzellan mit einer dampfenden Flüssigkeit.
Dies war wohl Li Mu Bais geheimnisvolle Rezeptur. Zögernd nahm Beatrice die Schale entgegen. Wie aus heiterem Himmel und völlig unpassend fielen ihr in diesem Moment alle Artikel ein, die sie jemals in der Boulevardpresse über die abstrusen Arzneimischungen der Ärzte der traditionellen chinesischen Medizin gelesen hatte; ein seltsames Sammelsurium an Kräutern, Pilzen und vielen anderen Ingredienzien, das eher an eine mittelalterliche Hexenküche denn an eine seriöse medizinische Wissenschaft erinnerte. Schon allein beim Lesen konnte sich einem der Magen umdrehen. Mit Grausen dachte sie jetzt an die Schilderungen von zerstoßenen Nashornhörnern und Tigerhoden, Seepferdchen und Heuschrecken, Käferpanzern und Muschelschalen. Sogar der Urinstein von Bären wurde in manchen dieser Rezepte verwendet. Argwöhnisch betrachtete sie das trübe, fast schwarze Gebräu in ihrer Tasse. Doch von Käfern, Seepferdchen und ähnlich abscheulichen Zutaten konnte sie nichts entdecken.
Nun, vermutlich hat man alle festen Bestandteile nach dem Kochen wieder herausgefiltert, dachte Beatrice. Ich soll das Zeug schließlich trinken und nicht kauen.
Trotzdem konnte sie sich nicht dazu entschließen, den Tee zu probieren. Im Ärzteblatt hatte vor einiger Zeit etwas über chinesische Arzneikräuter gestanden. Sie hatte den Artikel damals nicht gelesen, da sie sich für diese »paramedizinischen Randgebiete«, wie ihr Kollege Thomas die Naturheilverfahren immer bezeichnete, nicht interessierte. Aber jetzt glaubte sie sich daran zu erinnern, dass es um Leber- und Nierenschäden nach dem Genuss von chinesischen Arzneikräutern gegangen war. Eine nicht gerade beruhigende Vorstellung – schon gar nicht, wenn man schwanger war.
»Trink, auch wenn es dir schwer fällt«, sagte Maffeo und lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich weiß, wie schwierig es ist, sich an den seltsamen Geruch und Geschmack zu gewöhnen. Aber es sind gute Arzneien, das kannst du mir glauben. Auch mir haben Li Mu Bais Rezepturen schon oft geholfen. Außerdem, so lässt dir der Meister sagen, sollst du den Aufguss möglichst heiß trinken, damit dein Chi wieder zum Fließen angeregt wird. Also trink!«
Beatrice sah Maffeo zweifelnd an. Natürlich glaubten die Leute hier an die Wirksamkeit ihrer Heilkräuter, sie wussten es eben nicht besser. Aber sie, sie kam aus dem 21. Jahrhundert. Sie wusste vom Segen der Antibiotika, Antiphlogistika, Schmerzmittel und Wehenhemmer. Wieso musste ausgerechnet sie sich jetzt mit dieser kuriosen Therapie…?
»Bitte, Beatrice. Du kannst nicht gesund werden, wenn du nicht trinkst.«
Beatrice zögerte immer noch. Doch sie sagte sich, dass sie nicht darum herumkommen würde, wenigstens einmal von dem Gebräu zu kosten – und sei es aus reiner Höflichkeit. Hinterher konnte sie sich immer noch eine Ausrede einfallen lassen.
Sie gab sich einen Ruck, hob die Tasse zum Mund und atmete tief ein. Sie war überrascht, als sie nicht den erwarteten Gestank von Kloake, feuchtem Schimmel oder altem Fisch einatmete, nach dem chinesische Arzneitees angeblich riechen sollten. Der Aufguss roch zwar sehr fremdartig, aber gleichzeitig interessant und angenehm. Zaghaft nippte sie an dem heißen Gebräu und war erstaunt, wie gut es schmeckte.
Am ehesten gleicht der Geschmack einer mit Curry gewürzten Brühe, dachte Beatrice und trank noch einen Schluck. Und doch ist er anders, mit nichts zu vergleichen. Irgendwie – ja, das ist es, irgendwie samten.
Innerhalb kürzester Zeit hatte Beatrice die Tasse geleert. Und, obwohl sie sich fast dagegen sträubte, es zuzugeben, sie hatte tatsächlich den Eindruck, dass der Tee ihr gut tat. Ihr Körper schien förmlich darauf zu bestehen, dass sie den Arzneitee einnahm. Sie stellte sich vor, wie jede einzelne Zelle die Arznei gierig in sich aufsaugte wie Wüstenkakteen, die nach einem Regen jeden Tropfen des seltenen Wassers sofort speichern. Beatrice reichte Maffeo die leere Tasse und konnte sich gerade noch bremsen, nicht nach einer weiteren zu verlangen.
»So ist es gut«, sagte Maffeo und strahlte über das ganze Gesicht, als hätte er den ersten Preis in einer Lotterie gewonnen. Und in diesem Moment wusste Beatrice, dass sie Maffeo vertrauen konnte. Dass er vielleicht der einzige Mensch auf dieser Welt war, dem sie die Wahrheit erzählen und der sie verstehen konnte. Es gab da ein starkes Band zwischen ihnen. Es hatte vom ersten Augenblick an bestanden. Es war zwar unsichtbar, trotzdem konnte sie es deutlich spüren.
»Ich muss mit dir reden, Maffeo«, sagte Beatrice.
Sein Gesicht wurde von einer Sekunde zur anderen ernst.
»Ich weiß«, erwiderte er und deutete auf die Bettkante. »Darf ich?«
»Natürlich.«
»Fühlst du dich denn kräftig genug?«, fragte er. »Bedenke, dass dieses Gespräch vermutlich für uns beide nicht einfach wird. Sowohl du als auch ich werden Dinge erfahren, die uns aufregen, erschüttern, ja, möglicherweise sogar ängstigen. Bist du darauf vorbereitet?«
Beatrice dachte kurz nach. »Ich denke schon«, sagte sie und glaubte in diesem Augenblick sogar selbst daran.
»Gut.« Maffeo sah sie forschend, aber freundlich an. »Darf ich dir zuerst eine Frage stellen?«
Beatrice nickte.
»In welchem Jahr wurdest du geboren?« – Sie schluckte. Eine Sekunde lang kämpfte sie gegen die Versuchung an, irgendein Geburtsdatum zu erfinden. 1235 bot sich zum Beispiel an. Das Risiko, dass dieses Datum nicht stimmen konnte und sie sich viel zu alt oder viel zu jung machte, war natürlich groß. Sie wusste schließlich nicht, in welchem Jahr sie sich gerade befand. Aber… Aber nein.
Sie wollte nicht nur, sie musste Maffeo sogar die Wahrheit sagen.
Warum? Das konnte sie sich nicht erklären. Sie spürte einfach, dass sie es ihm – und auch sich selbst – schuldig war.
»1969«, antwortete Beatrice. »Nach christlicher Zeitrechnung.«
Maffeo schloss die Augen und wurde bleich. »Allmächtiger Gott!«, murmelte er. »Allmächtiger…«
»Ich weiß, es ist schwer zu glauben«, sagte Beatrice und bekam plötzlich Angst. Maffeo sah aus, als würde er kurz vor einem Herzinfarkt stehen. Seine Gesichtsfarbe wechselte von bleich zu rot, winzige Schweißperlen traten auf seine Stirn, sein Atem stockte. Sie legte eine Hand auf seinen Arm und tastete nach seinem Puls. Der war beängstigend schnell und flach. Und sie hatte wieder einmal nichts zur Verfügung – kein Blutdruckmessgerät, kein EKG, kein Nitrospray, kein Adrenalin –, nichts, rein gar nichts. Diese Situation erinnerte sie fatal an Buchara.
»Maffeo? Ist dir nicht gut? Was ist…«
»Es ist alles in Ordnung«, unterbrach dieser sie und wischte sich mit dem Ärmel die Schweißperlen von der Stirn.
»Wirklich?«
»Ja, mir geht es gut.«
Er blickte zum Fenster, sein Gesicht war starr und unbeweglich, als wäre es aus Stein gemeißelt. Nur ein nervöses Zucken des linken Auges verriet die Anspannung, unter der er zurzeit stand. Beatrice wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte, und so schwieg sie auch.
»Im Jahr des Herrn eintausend«, Maffeo wiederholte die Zahl langsam, fast ehrfurchtsvoll, »neunhundert«, wieder hielt er kurz inne, »neunundsechzig.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Damit habe ich nicht gerechnet.« Er seufzte. »Dabei habe ich es gewusst, wenn ich ehrlich bin. Ich habe es in dem Augenblick gewusst, als ich den Stein in deiner Hand gesehen habe. Ich habe gewusst, dass du nicht nur aus einem anderen Teil dieses Reiches oder einem anderen Land stammst, sondern dass du, nun ja… vielleicht aus zukünftiger Zeit…« Er holte tief Luft. »Aber darauf war ich nicht vorbereitet. Das sind ja beinahe sechshundert Jahre!«
Beatrice war erleichtert. Offensichtlich ging es Maffeo wieder besser, die Krise war überstanden. Sein Puls hatte sich beruhigt, und sein Gesicht nahm allmählich wieder eine normale Färbung an.
»Es tut mir leid, Maffeo. Vielleicht hätte ich versuchen sollen, es dir schonender zu erzählen. Ich…« sie brach ab, als ihr plötzlich die Bedeutung von Maffeos Worten klar wurde. Sie dachte an Mirwat, die Lieblingsfrau des Emirs von Buchara. Sie erinnerte sich daran, wie sie versucht hatte, Mirwat zu erklären, dass sie aus der Zukunft stammte. Die junge Frau war hysterisch geworden. Sie hatte sie angeschrien und sie eine Lügnerin und Hexe genannt – sicher eine ganz normale Reaktion auf eine derart ungewöhnliche, abwegige Behauptung. Doch warum reagierte Maffeo nicht genauso? Hatte er nicht sogar gesagt, er habe damit gerechnet? Beatrice runzelte die Stirn. »Wieso… Du bist gar nicht überrascht?«
»Nein.«
»Aber…«
»Ich denke, nun bin ich an der Reihe, dir etwas zu erklären«, sagte Maffeo, und ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Als wir dich fanden und ich den Stein der Fatima in deiner Hand sah, wollte ich eigentlich meinem Bruder Niccolo zustimmen. Ich dachte, du bist eine Frau aus dem Gefolge des großen Khans und geflohen, weil du den Saphir gestohlen hast – meinen Saphir.«
»Deinen Saphir?«, rief Beatrice aus. »Willst du damit etwa sagen…«
Maffeo errötete. »Verzeih, dass ich dir so eine Tat zugetraut habe, wenn auch nur für einen Augenblick. Doch sobald ich dir den Stein aus der Hand nahm, wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte. Es war ein anderer Saphir, auch wenn er meinem auf den ersten Blick gleicht wie ein Ei dem anderen. Und das wiederum ließ nur einen Schluss zu. Du bist ebenfalls ein Hüter. Deshalb habe ich vermutet, dass der Stein der Fatima dich aus einer anderen Zeit zu uns geschickt hat.«
»Bedeutet das etwa, dass du auch diese…«, sie schluckte, »… diese seltsamen Erlebnisse…«
Maffeo sah Beatrice an. In diesem Blick lagen Wissen und Erfahrungen, die über ein normales Menschenleben weit hinausgingen. Sie kannte die Antwort, noch bevor er den Mund aufmachte.
»Ja, auch ich habe die Macht und die Weisheit des Steins am eigenen Leibe erfahren dürfen.«
Für einen Augenblick wusste Beatrice nicht, was sie sagen sollte. Tausende von Gedanken wirbelten in einem heillosen Durcheinander in ihrem Kopf herum, und sie war nicht in der Lage, sie zu ordnen. Doch plötzlich, irgendwo in diesem Chaos, begann ein Licht zu leuchten. Ein warmes, freundliches Licht, um das sich wie von selbst alle Gedanken, alle Fragen und Antworten gruppierten, sodass sich wieder ein klares Bild ergab. In ihrer Vorstellung hatte dieses Bild die Form eines Auges.
»Es gibt also tatsächlich mehr als einen«, sagte sie. Schauer liefen ihr über den Rücken. »Bisher habe ich gedacht, das sind alles nur Legenden.«
Maffeo nickte. »Ich kann dich verstehen. Auch ich habe bisher nicht daran geglaubt. Wenigstens nicht ernsthaft.«
»Aber dann…« Beatrice dachte kurz nach. »Kannst du mir deinen Stein zeigen? Wenn es sich tatsächlich um Teile des Auges handelt, so müssten die beiden doch eigentlich zusammenpassen.«
»Das ist fraglich, denn niemand weiß, wie viele Teile vom Auge der Fatima existieren. Es könnten Hunderte sein«, wandte Maffeo ein. »Außerdem befindet sich mein Stein nicht mehr hier im Palast. Bereits vor einiger Zeit habe ich ihn in ein sicheres Versteck gebracht. Weshalb, das ist eine lange, unerfreuliche Geschichte. Wie du weißt, kann der Stein der Fatima viel Gutes bewirken. Aber überall dort, wo das Licht besonders hell erstrahlt, sind auch die Schatten ungewöhnlich dunkel. Der Stein der Fatima weckt leider in einigen Menschen Habgier, Neid und Ehrgeiz. Vielleicht werde ich dir eines Tages davon erzählen.« Er seufzte wieder. »Aber nicht heute. Für einen Tag haben wir beide genug erfahren, worüber es sich lohnt, nachzudenken. Außerdem bist du noch geschwächt. Du solltest dich ausruhen.«
Beatrice runzelte unwillig die Stirn. Wollte Maffeo wirklich das Gespräch an einem Punkt abbrechen, an dem es gerade erst anfing, interessant zu werden? Das konnte nicht sein Ernst sein.
»Aber wir müssen noch so vieles miteinander besprechen!«, rief sie aus. »Oder willst du mir etwa erzählen, dass dir keine Fragen mehr auf der Seele brennen? Dass du nicht wissen willst, was ich mit dem Stein erlebt habe, was ich darüber weiß? Bist du denn gar nicht neugierig? Nicht wenigstens ein ganz kleines bisschen?«
Maffeo lächelte, schüttelte den Kopf und ähnelte mit einem Mal Li Mu Bai. Vermutlich lebte er schon so lange in diesem Land, dass die Mentalität seiner Bewohner auch ihn geprägt hatte.
»Die Neugierde ist kein guter Berater. Oft genug führt sie den Leichtsinnigen, der bereit ist, auf ihre Stimme zu hören, in Gefahr.«
»Aber…«
»Aus diesem Grund ist es klüger, sich zurückzuziehen und nachzudenken. Danach kann man besser unterscheiden. Man erkennt, was wirklich wichtig ist.« Maffeo legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm. »Ich weiß, Europäer sind oft ungeduldig wie kleine Kinder. Immer soll alles sofort geschehen, niemals können sie abwarten und den Ereignissen ihren Lauf lassen. Doch Ruhe und Gelassenheit sind die Wurzeln unserer Kraft. Wenn du erst etwas länger hier bist, wirst du es verstehen.« Er lächelte und erhob sich von der Bettkante. »Ich werde jetzt gehen und dich allein lassen. Du sollst dich langsam an deine neue Umgebung gewöhnen. Ich komme wieder, wenn es Zeit für deine Arznei ist. Und morgen, wenn ein neuer Tag begonnen hat und wir unsere Kräfte neu gesammelt haben, werden wir weiterreden über all das, was uns beschäftigt.«
Maffeo verließ das Zimmer, und Beatrice sah ihm in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung nach. Doch was sollte sie tun? Wie sollte sie ihn davon überzeugen, dass es wichtig war, gleich mit dem Gespräch fortzufahren? Maffeo machte nicht den Eindruck, als ob er sich so einfach umstimmen ließe. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass es endlich wieder Morgen werden würde.