Schweigend machten sie sich auf den Weg zu den Privatgemächern des Khans.
Der Palast war ein Kunstwerk, ein Wunder der Architektur. Er war so verwinkelt und weitläufig gebaut, dass er eher einer Stadt denn einem Gebäude glich; einer Stadt mit schmalen lauschigen Gassen, breiten prachtvollen Straßen, Parks und Gärten, Teichen, Flussläufen, Lauben und Tempeln.
Wie kann nur ein ungebildeter Mensch, ein Krieger, ein einfacher Hirte so etwas erschaffen?, dachte Beatrice.
Nie zuvor, nicht einmal in Buchara, hatte sie so viel Schönheit und Vollkommenheit auf einmal gesehen.
Oder hatte Khubilai Khan die kaiserliche Sommerresidenz, so wie sie jetzt aussah, in Wirklichkeit gar nicht eigenhändig geplant? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass er chinesischen Baumeistern den Entwurf überlassen hatte? Geld spielte wohl kaum eine Rolle, da die Plünderungen der von dem Mongolen unterjochten Völker der Staatskasse ständig neuen Zufluss brachten. Schier unerschöpflicher Reichtum und das aufgeblähte Ego eines »Weltherrschers«, gepaart mit dem Wissen und der Bildung der Chinesen, die bereits zu Marco Polos Zeit ein Jahrtausende altes Kulturvolk waren – eine solche Kombination war ideal, um ein Bauwerk wie dieses zu erschaffen. Kristallpalast – ein Name voller Magie. Für die Sommerresidenz hätte man sich keinen besseren denken können. Wenn es auf dieser Welt einen Ort gab, an dem man an das Wirken von Zauberei, die Macht der Wunder, an Elfen, Feen und Märchenprinzen glauben konnte, so war das hier.
Während Beatrice mit Maffeo den Palast durchquerte, hatte sie Gelegenheit, neben der kunstvollen Architektur auch die kostbaren Möbel, die feinen, edlen Teppiche, die Vasen und die seidenen Paravents und Bilder zu bewundern. Jede einzelne dieser Kostbarkeiten war sorgfältig ausgewählt und stand oder hing genau an dem Platz, an dem sie am besten zur Geltung kam. Hatte Khubilai Khan diese Beutestücke selbst arrangiert? Oder hatte er sich neben den besten Baumeistern auch noch chinesische Innenarchitekten geleistet, um den Gesamteindruck von Ruhe und Vollkommenheit nicht zu zerstören?
Beatrice dachte an Maffeos Worte. »Du wirst Khubilai mögen«, hatte er gesagt. Doch wie sollte es ihr gelingen, einen Mann wie Khubilai Khan zu mögen? Einen Mann, der brutale Feldzüge gegen jedes Volk geführt hatte, das es wagte, sich seinem Eroberungswahn in den Weg zu stellen. Einen Mann, der seine Widersacher auf bestialische Art und Weise umgebracht haben soll. Einen Mann, der Hunderte von Frauen zu Liebesdiensten zwang, sodass selbst Nuh II. der Emir von Buchara, im Vergleich zu ihm als harmloses, impotentes Männlein erscheinen würde. Einen Mann, der die besten Baumeister eines ihm überlegenen Kulturvolkes dazu gezwungen hatte, in seinem Namen dieses Bauwerk zu errichten. Solch einen Mann konnte man hassen, man konnte ihn verabscheuen, bestenfalls vielleicht fürchten – aber auf gar keinen Fall mögen.
Sie kamen zu einer großen Flügeltür, vor der zwei Wachen standen. Es schienen Mongolen zu sein. Ihre Gesichter waren breit und dunkel, mit zotteligen schwarzen Schnurrbärten.
Dunkles lockiges Haar schaute unter ihren spitz zulaufenden Helmen hervor. Sie trugen lederne, mit Metallplatten und -schienen verstärkte Rüstungen und kleine schwarze Schilde, vermutlich aus Eisen oder einem anderen Metall. Jeder hatte seine rechte Hand am Griff seines blitzenden Krummschwertes, das an ihren Gürteln baumelte. Sie sahen so grimmig aus, als wollten sie sich sofort auf jedes Wesen stürzen, das sich nur in die Nähe dieser Tür wagte. Trotzdem schritt Maffeo unbefangen auf sie zu. Als sie nahe genug gekommen waren, stellten sich die beiden Wachen breitbeinig vor die Tür, so als wollten sie kundtun, dass jeder, der beabsichtigte, sie zu passieren, erst durch sie hindurchgehen müsste.
Einer der beiden Wachen brüllte Maffeo an. Das Gesicht des Mannes lief dunkel an, die Venen an seinem Hals und auf seiner Stirn traten hervor, seine dunklen Augen schleuderten Blitze. Er sah aus wie ein wütender, zähnefletschender Pitbull, den nur noch die kräftige Leine seines Herrn davon abhielt, sich auf sein wehrloses Opfer zu stürzen und es zu zerfleischen. Beatrice wäre am liebsten umgekehrt. Nichts auf dieser Welt konnte es wert sein, sich mit den beiden anzulegen. Doch Maffeo ließ sich davon nicht beeindrucken. Lächelnd zog er eine Papierrolle aus dem Ärmel seines Festgewands hervor und reichte sie dem Wachposten. Beatrice bezweifelte, dass die beiden Mongolen lesen konnten, aber irgendetwas auf dem Schriftstück, vielleicht ein Siegel, ein Bild oder ein Zeichen, schien sie zu besänftigen. Oder wenigstens zu überzeugen, denn ihre Mienen waren immer noch grimmig, als sie zur Seite traten und die Tür öffneten. Widerwillig und zähneknirschend ließen sie Maffeo und Beatrice an sich vorbei – zwei Kettenhunde, die keinen Zweifel daran ließen, das man beim nächsten Mal nicht wieder mit seinem Glück rechnen sollte. Mit einem lauten, unfreundlichen Knall schlossen sie die Tür hinter ihnen.
»Es ist immer dasselbe«, sagte Maffeo und seufzte und lachte gleichzeitig. »Dabei gehe ich hier fast täglich ein und aus, und die Wachen wissen ganz genau, wer ich bin.«
»Und das lässt du dir gefallen?«, fragte Beatrice. »Warum sagst du es nicht einfach dem Kaiser?«
»Ich habe mich daran gewöhnt. Außerdem tun die Männer nur ihre Pflicht. Dazu wurden sie ausgewählt und ausgebildet.« Maffeo zuckte mit den Schultern. »Ich gebe zu, es ist lästig, aber es gewährt auch Sicherheit. Und das nützt schließlich jedem, der am Hof des Khans lebt.«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Wer kann sich nur so etwas ausdenken?«
»Dschinkim. Die persönliche Wache des Kaisers untersteht ihm«, erklärte Maffeo, während sie einen Saal durchquerten, in dem vor jeder Säule ein Wachposten stand – reglos und bedrohlich, wie grimmige steinerne Statuen aus einem Albtraum. Doch Beatrice zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich mit dem richtigen Zauberwort sehr schnell zum Leben erwecken ließen. »Dschinkim erwählt die Männer nach seinen Vorstellungen und bildet sie selbst aus«, fuhr Maffeo fort und lächelte wie ein Vater über eine liebenswerte Eigenart seines Sohnes. »Auch ihre große Zahl ist seine Idee. Man erzählt sich, dass Khubilai sich erst nach langem Streit zähneknirschend gefügt hat. Und auch Ahmad ist nicht besonders glücklich über diese Regelung. Der Araber kümmert sich um die Finanzen in Khubilais Reich. Er sagt, dass die Unterbringung und Verpflegung der Palastwachen jeden Monat ein riesiges Loch in die Staatskasse reißt. Dschinkim will davon natürlich nichts wissen und behauptet, Ahmad fühle sich lediglich von den Wachen in der Durchführung seiner eigenen dunklen Pläne gestört. Habe ich schon erwähnt, dass Dschinkim glaubt, jeder am Hof des Khans hätte nur das Ziel, seinen Bruder vom Thron zu stürzen?« Maffeo lachte, und Beatrice fragte sich, weshalb. Sie konnte an Dschinkims Verhalten wirklich nichts Lustiges finden. Dies war offensichtlich mehr als nur eine liebenswerte Eigenart. Es grenzte schon an Verfolgungswahn. »Er ist geradezu besessen von diesem Gedanken. Aber wie gesagt, das Ganze hat auch seinen Sinn. Und das musste sogar Khubilai zugeben. So, jetzt sind wir gleich da.«
An jeder Ecke, in jeder Nische, hinter jeder Säule stand ein schwer bewaffneter Soldat, als würde sich der Palast des Kaisers im Kriegszustand befinden. Ob Khubilai wirklich so an Leib und Leben gefährdet war, dass er von mehr als hundert Wachen beschützt werden musste?
Das 20. und 21. Jahrhundert müssten Dschinkim eigentlich gefallen, dachte Beatrice. Die Möglichkeiten von Überwachungskameras, lasergesteuerten Alarmanlagen und mit Retinascannern gesicherten Schlössern müssten einem Mann wie dem Bruder des Kaisers Tränen der Sehnsucht in die Augen treiben. Jedenfalls würde es seine Arbeit und die Befriedigung seiner zwanghaft-neurotischen Persönlichkeit deutlich erleichtern.
Maffeo blieb stehen und klopfte an eine Tür.
»Wo Khubilai sich aufhält, stehen niemals Wachen vor der Tür. Das ist das einzige Zugeständnis, das er seinem starrsinnigen Bruder abtrotzen konnte.«
Da offensichtlich kein Diener zugegen war, öffnete Maffeo die Tür selbst. Vielleicht hatten die Diener aber auch das Klopfen überhört, denn lautes Gelächter schallte ihnen entgegen. Feierte der Kaiser mit seinen Kumpanen? Beatrice stellte sich bereits in Leder und Felle gekleidete Männer vor, die sich’ betrunken auf dem Boden wälzten. Doch etwas passte nicht in dieses Bild – da war das Lachen eines kleinen Kindes. Interessiert trat Beatrice ein. Und was sie dann sah, ließ sie wie festgenagelt mitten in der Tür stehen bleiben.
Vor ihnen, auf einem niedrigen, mit Fellen bedeckten Schemel, saß ein älterer Mann. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit dem Kaiser, den Beatrice im Thronsaal gesehen hatte, jenem streng und unbeweglich dreinblickenden Mann in der steifen Robe, vor dem sich alle auf den Boden geworfen hatten. Doch war dies wirklich der Kaiser? Der Mann trug schlichte mongolische Kleidung, und sein Gesicht war überzogen von einer Hundertschaft winziger Lachfalten. Er schaukelte einen kleinen, höchstens vierjährigen Jungen auf seinen Knien. Daneben kniete eine kleine rundliche Frau auf dem Boden.
Ihre Hände lagen auf ihrem Schoß, und auch sie lachte über das ganze runzlige Gesicht. Das Kind jauchzte vor Vergnügen, und der Mann lachte so laut und ansteckend, dass es schwer fiel, nicht einfach in die Heiterkeit mit einzustimmen. Es war eine Szene wie aus einem Bilderbuch, und man konnte nicht feststellen, wem von den dreien es am meisten Vergnügen bereitete.
»Wenn ich den Khan begrüße, verbeugst du dich«, flüsterte Maffeo Beatrice zu.
»Du meinst, das ist…«, fragte sie ungläubig zurück.
»Ja.«
War dies wirklich der große Khan? Dieser Mann dort, der wie jeder liebevolle Großvater auf der Welt, wie ein einfacher Bauer oder Hirte oder Kaufmann mit seinem Enkelkind spielte? Sollte dies derselbe sein, der blutige Feldzüge führte und dessen Namen die Besiegten mit Angst, Terror und Tod gleichsetzten?
»Ich grüße Khubilai Khan«, sagte Maffeo, verneigte sich tief, und Beatrice tat es ihm gleich. »Ich grüße den großen, allmächtigen Herrscher der Mongolen, den Sohn des Himmels, den…«
»Lass gut sein, Maffeo Polo!«, rief der Kaiser aus und warf lachend seinen Enkel hoch. »Das Protokoll hat mich den ganzen Abend wahrlich genug gelangweilt. Es reicht für einen Tag.«
Er fing den Jungen wieder auf, gab ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann wandte er sich an die Frau und gab auch ihr einen Kuss.
»Wer ist sie?«, fragte Beatrice Maffeo leise.
»Das ist Khubilais Frau.« Er hatte wohl Beatrices Überraschung bemerkt, denn er fuhr fort. »Sie ist natürlich nicht die Kaiserin, die du im Thronsaal gesehen hast. Das war Mei Li, die Tochter eines chinesischen Großfürsten. Khubilai hat sie zu seiner Kaiserin ernannt, um seinen Einfluss auf den chinesischen Adel auszudehnen. Seine ›wahre‹ Frau ist sie.«
Die Alte nahm den kleinen Jungen bei der Hand, und kichernd verschwanden die beiden durch eine Tür in den Weiten des kaiserlichen Palastes.
»Zum Glück sind wir hier nicht in China, Maffeo«, sagte der Khan, als seine Frau und sein Enkel den Raum verlassen hatten. »Wir befinden uns in meinem Haus. Und wenigstens hier ist es mir gestattet, meine Freunde so zu begrüßen, wie ich es will.«
Khubilai stand auf und kam auf sie zu. Beatrice wunderte sich, wie leichtfüßig und geschmeidig sich der Khan bewegte. Dabei musste er bereits an die sechzig Jahre alt sein.
»Sei gegrüßt, mein Freund«, sagte er und ergriff Maffeos Unterarm. »Es ist wahrlich eine lange Zeit her, seit wir das letzte Mal Gelegenheit hatten, miteinander zu reden. Wie geht es dir?«
»Nun, ich…« Maffeo wurde sichtlich verlegen.
»Du brauchst nichts zu sagen, mein Freund. Dir scheint es nicht besser zu ergehen als mir. Die Knie beginnen zu schmerzen, die Hände werden steif, und die Augen versagen allmählich ihren Dienst.« Khubilai lachte. »Ein weiser Mann sagte einmal: Von den Leiden des Alters bleiben nur jene verschont, deren Schicksal es ist, früh zu sterben.« Er legte eine Hand auf Maffeos Schulter. »Wir sollten wieder gemeinsam auf die Jagd gehen; keine Hetzjagd, wie die Jugend sie liebt, nein, ein ausgedehnter, geruhsamer Ritt über die gefrorene Steppe, den Köcher mit Pfeilen auf den Schultern. Und wenn das schwache Auge und die zitternde Hand ihr Ziel verfehlen, so gibt es weit und breit niemanden, der sich darüber lustig machen könnte.«
Maffeo lächelte. »Das klingt in der Tat verlockend.«
»Nicht wahr? Aber ich fürchte, wir werden auch diesmal wieder keine Zeit dafür haben.«
»Du hast nicht die Absicht, lange in Shangdou zu verweilen?«, fragte Maffeo. Er wirkte sichtlich enttäuscht.
Der Khan seufzte, das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Jetzt sah er aus wie ein Herrscher, den die Sorge um sein Volk und sein Reich kaum Ruhe finden ließen.
»Die Absicht habe ich schon, mein Freund, daran fehlt es nicht. Aber leider zwingen mich dringende Angelegenheiten, schon bald nach Taitu zurückzukehren. Alle werden nach Taitu gehen.«
» Alle? Aber was…«
Khubilai machte ein paar Schritte durch den Raum, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und betrachtete einen der kostbaren Wandteppiche, als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Die Hauptstadt ist endgültig fertiggestellt. Es gibt also keinen Grund für den Hofstaat, noch länger in Shangdou zu bleiben.« Er machte eine Pause, und Beatrice hatte den Eindruck, als fiele ihm das Reden plötzlich schwer. »Bereits in wenigen Tagen werden wir unseren Besitz zusammenpacken. Dann wird das ganze Gefolge aufbrechen, um noch vor Einbruch des Winters nach Taitu überzusiedeln. Mir sind nur noch wenige Tage vergönnt, um die Schönheit Shangdous zu genießen.«
»Ich hörte, dass der neue Palast in Taitu diesen hier an Schönheit noch überflügeln soll.«
Khubilai lächelte. »Ja, in der Tat. Er ist wahrlich prächtig geworden, die chinesischen Baumeister haben sich selbst übertroffen. Er wird dir gefallen, mein Freund. Und natürlich ist Taitu auch größer und hat eine strategisch wesentlich günstigere Lage im Reich als Shangdou. Die Entscheidung, den Regierungssitz dorthin zu verlegen, ist wohldurchdacht. Aber sei ehrlich, mein Freund, wohin sehnt sich dein Herz – nach Shangdou oder nach der Stadt, in der du geboren wurdest?« Maffeo senkte verlegen den Blick. Khubilai lächelte. Es war ein wehmütiges Lächeln. Leise fuhr er fort. »Siehst du, Maffeo Polo, ich denke und fühle genauso. Bei aller Schönheit und Pracht, die mich in Taitu erwartet – hier ist mein Zuhause, hier wohnt mein Herz. Diese Stadt erinnert mich an die Jurten meiner Großväter, an Karakorum, die Stadt Dschingis Khans. Und sollte ich den Ort wählen dürfen, an dem ich sterbe, so wünsche ich, dass es hier geschehen möge.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wären die düsteren Gedanken Fliegen, die er so vertreiben könnte. »Aber lass uns nicht jetzt darüber reden. Das Unerfreuliche läuft selten davon. Es kann noch bis morgen warten.«
Er wandte sich an Beatrice und betrachtete sie eingehend von Kopf bis Fuß.
»Ist dies die Frau, von der Dschinkim mir berichtet hat? Jene, die ihr in der Steppe aufgelesen habt?«
»Ja.«
Khubilai ging einmal um Beatrice herum. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Mein Bruder hatte recht. Sie ist keine Frau aus meinem Gefolge. Woher kommst du, Weib?«
Beatrice war so überrascht, dass der Khan seine Worte direkt an sie richtete, dass es ihr fast die Sprache verschlug.
»Meine Heimat heißt Deutschland«, sagte sie und stellte plötzlich fest, dass die beiden Männer die ganze Zeit über arabisch gesprochen hatten. Geschah dies etwa aus Höflichkeit und Rücksicht ihr gegenüber, die bisher noch keine der anderen am Hof geläufigen Sprachen beherrschte? »Deutschland ist ein Land im Norden des Abendlandes. Ich…«
»Ich kenne dieses Land, das du deine Heimat nennst, nicht«, unterbrach sie Khubilai, aber es klang nicht unfreundlich. »Wie kam es dazu, dass du allein, ohne Pferd oder Karren, ohne jede Begleitung in der Steppe lagst? Wer hat dich dort verloren?«
Beatrice warf Maffeo einen Blick zu. Was sollte sie jetzt sagen?
»Ich weiß es nicht, großer Khan«, antwortete sie schließlich und tröstete sich damit, dass es wenigstens keine Lüge war. »Mir fehlt leider jede Erinnerung daran.«
Khubilais Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Unter seinem wachsamen Blick wurde sie zu Glas. Sie war sicher, dass er bis auf den Grund ihrer Seele blicken und jeden ihrer Gedanken lesen konnte. Eines war klar, Khubilai Khan war nicht der Mann, den man belügen konnte. Und wer es trotzdem wagte…
»Spricht man in deiner Heimat Arabisch?«, fragte er so freundlich und harmlos, als wollte er von ihr nichts weiter als die Uhrzeit wissen.
Trotzdem wurde Beatrice heiß. Dies war eine Prüfung. Eine Prüfung, die innerhalb weniger Augenblicke über Freiheit oder Gefangenschaft, vielleicht sogar über Leben und Tod entscheiden konnte. Und sie wollte diese Prüfung auf jeden Fall bestehen. Allerdings nicht aus Angst um ihr Leben – wenigstens nicht nur. Nein, es war… Die Erkenntnis traf Beatrice völlig überraschend. Sie wollte Khubilai Khan beeindrucken. Etwas an ihm erinnerte sie an einen Oberarzt, den sie während ihres Studiums bei einer Famulatur kennen gelernt hatte, ein Chirurg, ein wandelndes, fleischgewordenes Lehrbuch, der nur aus einem einzigen Grund zu leben schien – um zu operieren. Sie hatte ihn gemocht, gemocht und bewundert. Sogar sein beißender Zynismus und die zahlreichen anderen Macken hatten sie nicht gestört. Dieser Oberarzt war ihr Vorbild geworden. Vermutlich war er sogar der Grund, weshalb sie sich entgegen der Ratschläge aller Freunde und Verwandten für die Chirurgie entschieden hatte.
»Nein«, sagte sie und sah dem großen Khan direkt in die Augen. Flüchtig schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es unter Umständen gar nicht erlaubt war, den Khan direkt anzusehen. Vielleicht war bereits das ein Vergehen, das in diesem Land mit dem Tode bestraft wurde. Doch Khubilai schien keinen Anstoß an ihrem Verhalten zu nehmen. Und außerdem, so tröstete sie sich, hätte Maffeo sie sicher zuvor darauf hingewiesen.
»Weshalb beherrschst du dann Arabisch?« – »Ich war eine Frau im Harem des Emirs von Buchara. Dort habe ich diese Sprache gelernt.«
»Im Harem – so, so…« Khubilai wippte auf seinen Zehenspitzen hin und her. »Weshalb bist du nicht mehr in Buchara? Bist du geflohen?«
Beatrice warf Maffeo einen Blick zu. Hatte er dem Kaiser bereits etwas über sie erzählt? Und wenn ja, was hatte er Khubilai gesagt?
»Nein«, antwortete Beatrice und beschloss, so gut wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. »Der Emir machte mich seinem Leibarzt zum Geschenk. Und dieser Arzt hat mich dann kurze Zeit später in die Freiheit entlassen.«
Khubilai hob überrascht seine Augenbrauen. »Er hat dir die Freiheit geschenkt?«, fragte er und betrachtete sie nochmals genau, als würde er einen Makel an ihr zu finden versuchen. »Und das hat er freiwillig getan?« Er schüttelte den Kopf. »Entweder hast du diesen Arzt verhext, oder er war einer von jenen Männern, welche die Gesellschaft ihres eigenen Geschlechts vorziehen.«
Beatrice wurde unsicher. Glaubte ihr Khubilai etwa nicht? Aber was sollte sie dann tun? Sie konnte ihm doch wohl kaum vom Stein der Fatima erzählen.
Aber noch bevor Beatrice sich hilfesuchend zu Maffeo umwandte, warf der Kaiser seinen Kopf in den Nacken und brach in lautes Gelächter aus. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. Als er sich wieder gefangen hatte, legte er seine Hände auf Beatrices Schultern und drückte sie.
»Sei mir willkommen, Beatrice aus dem Norden des Abendlandes. Mögest du in meinem Palast ein Heim und vor allem aufrichtige Freunde finden.«
Beatrice war sprachlos. Diese schlichte Herzlichkeit, die aus den Worten und dem freundlichen breiten Gesicht mit den vielen Lachfalten sprach, war das Letzte, was sie von Khubilai Khan, dem unerbittlichen Eroberer und Tyrannen, erwartet hätte.
»Ich… ich danke Euch…«, stammelte Beatrice und merkte, dass Maffeo recht behalten hatte – sie mochte Khubilai. Ganz gleich, welche Scheußlichkeiten er auch immer verbrochen hatte oder noch bis zum Ende seines Lebens vollbringen würde – ihr war dieser Mann mit dem ansteckenden Lachen sympathisch.
»Khubilai, ich habe noch eine Bitte«, sagte Maffeo und verbeugte sich. »Beatrice war in ihrer Heimat Arzt, und…«
»Arzt? Eine Frau?«, fragte Khubilai und musterte Beatrice ungläubig. »Du musst dich verhört haben, Maffeo. Wahrscheinlich ist sie eines dieser Kräuterweiber. Die Alten erzählen sich, dass mein Großvater Dschingis Khan, als er fern im Abendland seine Kriegszüge geführt hat, auf Frauen gestoßen ist, die sich auf die Behandlung von Krankheiten mit Kräutern verstanden. Doch in diesen Geschichten waren es ausnahmslos alte Weiber von hässlicher Gestalt und abstoßendem Äußeren, die wie die Geister einsam in dunklen, undurchdringlichen Wäldern lebten. Sie hingegen…«
»Ich bin kein Kräuterweib. Ich bin Chirurgin«, fiel Beatrice ihm ins Wort. Allmählich hörte sie auf, sich über Khubilai zu wundern. Im 21. Jahrhundert gab es immer noch Männer, die Probleme hatten, Frauen in der Chirurgie zu akzeptieren. Selbst unter Kollegen führte das manchmal zu Schwierigkeiten. Khubilai hingegen war bestenfalls überrascht, mehr nicht. »In meiner Heimat habe ich Verletzungen jeder Art und Ursache behandelt.«
Der Khan runzelte die Stirn. »Verletzungen jeder Art… So wie zum Beispiel Messerstiche, Schwertverletzungen oder Pfeilwunden?«
Kriegsverletzungen. Natürlich, er war schließlich ein Feldherr. Kein Wunder also, dass er sofort an seine Soldaten dachte.
»Ja. Offene Wunden jeder Ursache, außerdem Knochenbrüche, Quetschungen…«
Khubilai verschränkte die Arme wieder hinter seinem Rücken und marschierte mit langen Schritten durch das Zimmer.
»Das wäre nicht schlecht. Die Chinesen sind zwar in der Lage, viele Krankheiten zu heilen, aber in der Behandlung von Wunden sind sie oft hilflos. Und auch die arabischen Ärzte müssen sich nicht selten geschlagen geben und legen das Schicksal des Verletzten in die Hände ihres Gottes. Wenn nun aber ein Arzt aus dem Abendland sich auf die Behandlung von Wunden verstünde, wäre dies ein Geschenk der Götter. Ich habe schon zu viele gute, tapfere Männer an ihren Verletzungen sterben sehen.« Khubilai blieb abrupt stehen. »Bist du gut ausgebildet? Gehörst du in deiner Heimat zu den angesehenen Ärzten?«
Beatrice zuckte mit den Schultern. Sie war sicherlich keine schlechte Chirurgin. Aber »angesehen«? Es gab eindeutig bessere Kollegen. Nicht nur in Deutschland oder Hamburg. Sogar in ihrer eigenen Abteilung.
»Nun ja, ich weiß nicht…«
»Kannst du allein arbeiten, oder brauchst du noch die Aufsicht deines Lehrers?«
»Nein. Natürlich kann ich…«
Khubilai unterbrach sie mit einer Geste. Und plötzlich sah sie hinter dem freundlichen, sympathischen Mann und Großvater den großen Khan, den Herrscher eines riesigen Imperiums. Er wusste genau, was er wollte, und setzte seinen Willen ohne jede Verzögerung durch, ganz gleich, wie hartnäckig der Widerstand auch sein mochte.
»Maffeo, wer ist der beste Arzt hier in Shangdou und Umgebung?«
Maffeo dachte einen Augenblick nach.
»Li Mu Bai«, sagte er. »Er ist der beste Arzt in Shangdou. Meiner Meinung nach ist er sogar der beste in deinem Reich.«
Khubilai lächelte. »Wie ich hörte, hältst du sehr viel von Li Mu Bai, und das mag dein Urteil beeinflussen. Aber bedenke, dass es auch in Taitu angesehene Ärzte gibt. Da ist zum Beispiel Lo Han Chen, ein Arzt der alten chinesischen Heilkunst. Man sagt, selbst schwerste Erkrankungen behandelt er nur mit einer einzigen Nadel. Oder Tan Jin Po. Er ist bei einem der Araber in die Lehre gegangen. Allerdings…« Er wiegte den Kopf hin und her. »Er ist sehr jung. Vermutlich fehlt es ihm noch an der nötigen Weisheit und Erfahrung.« Khubilai lachte. »Aber ich gebe dir recht, mein Freund, Li Mu Bai hat schon viel Gutes getan, und noch nie hörte ich jemanden ein schlechtes Wort über ihn sagen. Vielleicht ist er wirklich der beste Arzt in meinem Reich.« Er wandte sich an Beatrice. »Beatrice, Frau aus dem Norden des Abendlandes, ich habe einen Auftrag, nein, eher noch eine Bitte an dich. Wärst du bereit, Li Mu Bai, Lo Han Chen, Tan Jin Po und alle anderen Ärzte in Taitu als deine Schüler anzunehmen und dein Wissen an sie weiterzugeben? Im Gegenzug könntest du von ihnen die Heilkunst der Chinesen erlernen. Auf diese Weise könntet ihr gemeinsam zum Wohle und zur Gesundheit meines Volkes beitragen.«
Natürlich meinte Khubilai mit »Volk« hauptsächlich seine Soldaten, die für ihn die Kriege führten und Zusammenhalt und Ausdehnung seines Imperiums sicherten. Aber was machte das schon aus? Der feierliche Ernst, mit dem er ihr seinen Vorschlag vorgetragen hatte, erinnerte an eine Hochzeitszeremonie. Beatrice konnte sich gerade noch rechtzeitig bremsen, um nicht mit »Ja, ich will« zu antworten.
»Eure Bitte ist mir eine große Ehre, großer Khan«, sagte sie und verneigte sich. »Mit Freuden werde ich mich um ihre Erfüllung bemühen. Wann soll ich beginnen?«
»Du verlierst wahrlich keine Zeit«, erwiderte Khubilai und lächelte. »Aber gedulde dich noch ein wenig. Erst wenn wir in Taitu angekommen sind, wirst du deine Aufgabe übernehmen. Maffeo, lass Li Mu Bai auf der Stelle von meinem Entschluss wissen. Sollte er berechtigte Einwände haben, möge er sie vortragen. Andernfalls wird er Schüler von Beatrice, der Frau aus dem Norden des Abendlandes. So will ich es, und so sei es.« Khubilai legte Beatrice eine Hand auf die Schulter. »Deine Heimat muss ein interessantes Land sein. Nie zuvor habe ich davon gehört, dass Männer einer Frau die Behandlung ihrer Verletzungen anvertrauen. Eines Tages wirst du mir mehr darüber berichten. Aber nicht heute. Auf unserer Reise werden wir noch viel Zeit haben. Jetzt habe ich meinem Enkel versprochen, ihm noch vor dem Schlafen eine Geschichte zu erzählen. Und jeder Mann sollte sein Wort halten – erst recht einem Kind gegenüber.«
Maffeo und Beatrice verneigten sich vor dem Kaiser und verließen das Zimmer. Den Rückweg zu Maffeos Gemächern ging Beatrice nicht, sie schwebte. Sie konnte es immer noch nicht fassen. War das eben alles wirklich passiert? Hatte Khubilai ihr soeben eine Ausbildung angeboten und sie gleichzeitig gebeten, andere Ärzte auszubilden? Oder hatte sie bloß geträumt? Dies war ein Wissens- und Kulturaustausch, wie er erst seit den achtziger Jahren zwischen der Universität Hamburg und der Universität Peking stattfand. Die Hamburger hatten sich stolz auf die Schultern geklopft angesichts dieser fortschrittlichen Beziehungen. Es gab Feierstunden, Studenten und Dozenten wurden ausgetauscht. Doch im Vergleich hierzu war das geradezu lächerlich. Khubilai Khan war seiner Zeit um mehrere Jahrhunderte voraus. Und diesen Mann hatte sie für ungebildet und rückständig gehalten! Meinten die Historiker, die von einem blutrünstigen, ungebildeten Tyrannen sprachen, wirklich denselben Khubilai Khan, den sie soeben kennen gelernt hatte? Es war kaum zu glauben. Da fiel Beatrice ein Satz ein, den sie irgendwann mal in einer Zeitung gelesen hatte. »Geschichte ist eine Frage des Blickwinkels.«
Natürlich hatte man sich im zivilisierten Westen nicht nach den mündlichen Überlieferungen der mongolischen Stämme gerichtet. Natürlich wurden die schriftlichen Aufzeichnungen der Chinesen für seriöser gehalten. Dass sie als Besiegte nicht gerade gut auf die Mongolen zu sprechen waren und deshalb der Geschichte ihre Sicht der Dinge aufgedrückt hatten, schien dabei keine Rolle zu spielen. Oder die Geschichtsforscher hatten es einfach übersehen.
Als Beatrice und Maffeo ihre Gemächer erreichten, wurden sie bereits erwartet. Aus dem Schatten einer Säule löste sich eine Gestalt und kam auf sie zu. Es war der junge Europäer, der Beatrice schon im Thronsaal aufgefallen war. Er breitete seine Arme aus und sagte etwas auf Italienisch.
»Sei auch du gegrüßt, Marco. Doch ich bitte dich, sprich arabisch«, erwiderte Maffeo und fuhr sich müde über das Gesicht. »Beatrice versteht uns sonst nicht.«
»Verzeiht, edle Dame«, sagte der junge Mann und verbeugte sich galant. »Sollte ich Euch beleidigt haben, so lag dies keinesfalls in meiner Absicht, sondern ist allein in meiner Unwissenheit begründet. Ich bitte Euch vielmals um Vergebung.« Er nahm Beatrices Hand. »Onkel, wollt Ihr uns nicht miteinander bekannt machen?«
»Doch, natürlich. Verzeiht. Beatrice, darf ich dir meinen Neffen Marco vorstellen, Marco, dies ist Beatrice.«
Marco führte ihre Hand an seine Lippen. Es war kaum mehr als ein Hauch, im Grunde genommen spürte sie nur seinen warmen Atem auf ihrer Haut. Trotzdem lief ihr ein Schauer über den Rücken. Marco richtete sich wieder auf und sah sie an. Er hatte schöne dunkle Augen, eine angenehme Stimme, und sein herausforderndes, charmantes Lächeln trieb ihr die Röte ins Gesicht. Irgendwo in ihrem Hinterkopf begannen die Alarmglocken zu läuten. Dieser Mann war gefährlich. Darüber konnte auch sein gepflegtes, akzentfreies Arabisch nicht hinwegtäuschen. Ihr Herz klopfte rasend schnell, und sie versuchte ihm ihre Hand wieder zu entziehen. Doch sie war nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft zu befreien. Dabei war sein Griff nicht einmal besonders fest. Er hielt ihre Hand so leicht wie eine Feder. Vielleicht benutzte er einen besonders effektiven Klebstoff.
Du benimmst dich albern wie ein Teenager, der gerade seinen Schwarm trifft, dachte Beatrice. Sie war wütend auf sich und wütend auf Marco. Der Kerl wusste, welche Wirkung er auf sie hatte, da war sie sich ganz sicher. Und trotzdem…
»Weshalb bist du gekommen, Marco?«, fragte Maffeo.
Beatrice nutzte die Ablenkung und entzog Marco endlich ihre Hand. Sie war sich nicht sicher, ob Maffeo sich bewusst war, dass er sie aus einer unangenehmen Situation gerettet hatte. Dennoch warf sie ihm einen dankbaren Blick zu.
»Verehrter Onkel, ich kam nur, um Euch zu begrüßen«, antwortete Marco und lächelte. »Wir haben uns schon lange nicht gesehen, und da hielt ich es für meine Pflicht, Euch aufzusuchen und Euch Wohlergehen zu wünschen.«
»Das hast du hiermit getan, Marco«, erwiderte Maffeo. »Ich möchte dich bitten zu gehen. Ich bin sicher, dass dir Beatrices Zustand nicht verborgen geblieben ist. Nach einem derart langen und anstrengenden Tag braucht sie Ruhe.«
Beatrice konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich war, aber offensichtlich war Maffeo immun gegen den Charme seines Neffen. Sie würde ihn danach fragen müssen. Vielleicht konnte er auch ihr diesen Impfstoff besorgen.
»Aber«, Marco wandte sich an Beatrice mit einem Lächeln, das sofort jede Form des weiblichen Widerstands durchbrach, »Ihr erlaubt mir doch, morgen wiederzukommen?«
Beatrices Kehle war plötzlich so trocken, dass sie kein einziges Wort mehr herausbrachte. Also nickte sie.
»Ich danke Euch.« Marco verneigte sich und hauchte einen weiteren Kuss auf ihre Hand. »Einen erholsamen Schlaf wünsche ich Euch, Beatrice. Und Euch auch, verehrter Onkel.«
Marco verneigte sich noch einmal galant und ging mit den schnellen, beschwingten Schritten eines Tänzers davon.
Beatrice sah ihm nach. Das war also Marco Polo, der große, berühmte Marco Polo. Vermutlich war ihr deshalb so zittrig zumute. Vermutlich fühlte sie sich deshalb so benommen, als würde sie aus einer Vollnarkose erwachen. Schließlich bekam man nicht jeden Tag die Gelegenheit, einem der Großen der Weltgeschichte zu begegnen. Einen anderen Grund konnte es für ihre zittrigen Knie nicht geben – oder doch?
»Lass uns gehen«, sagte Maffeo und riss sie aus ihren Gedanken. »Wir sollten uns jetzt wirklich zur Ruhe begeben. Die Nacht ist schon weit fortgeschritten, und wer weiß, was der morgige Tag bringen wird.«
Beatrice fiel auf, wie müde und erschöpft Maffeo plötzlich aussah. Er war richtig grau im Gesicht geworden. Sie hingegen war hellwach, geradezu beschwingt, als hätte sie ein Glas Champagner getrunken. Hätte Maffeo ihr jetzt den Vorschlag gemacht, ihr noch etwas vom Nachtleben in Shangdou zu zeigen, sie hätte begeistert zugestimmt.
Es muss ein ziemlich anstrengender Tag für ihn gewesen sein, dachte sie und hatte plötzlich Mitleid mit ihm. Er ist wirklich nicht mehr der Jüngste.
Mit einem Seufzer und einem mitleidigen Lächeln folgte sie ihm in seine Gemächer.
Die Nacht hatte ihren Höhepunkt überschritten, alles war still im Palast, Menschen und Tiere lagen in tiefem Schlaf. Schnell und lautlos wie ein Schatten huschte Ahmad auf seinem Weg zu der Schreibstube über die dunklen, nur von wenigen Fackeln spärlich erleuchteten Gänge. Niemand sah ihn, niemand bemerkte ihn. Trotzdem blieb er stehen und versteckte sich rasch in einer Nische. Er wickelte seinen langen schwarzen Umhang eng um sich, verschmolz mit den Schatten zu einer Einheit, lauschte und schaute über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass ihm tatsächlich niemand folgte. Er war zwar vorsichtig gewesen, aber Spione lauerten überall. Was er vorhatte, war gefährlich. Dabei ertappt zu werden würde sein Todesurteil bedeuten. Khubilai Khan hatte Männer schon wegen weitaus geringerer Vergehen hinrichten lassen.
Ahmad presste sich gegen die Wand der Nische, schloss die Augen, hielt den Atem an und horchte. Doch weit und breit gab es kein verdächtiges Geräusch – weder hastige leise Schritte noch Rascheln von Stoff. Es war nichts zu hören außer seinem eigenen wilden Herzschlag, der in seinen Ohren dröhnte. Es schien ihm wirklich niemand zu folgen. Ahmad sah sich noch einmal um, verließ dann die Nische und eilte weiter. Wenn er sein Vorhaben tatsächlich bis zum Tagesanbruch zu Ende bringen wollte, musste er sich beeilen.
Als er schließlich die Schreibstube erreichte, stellte er zu seiner großen Überraschung fest, dass die Tür bereits offen war. Der schwere eiserne Riegel baumelte lose an dem dicken Tau, mit dem er normalerweise gesichert wurde. Und die Tür stand einen winzigen Spalt offen.
Ahmads Herz begann zu rasen. Erwartete man ihn etwa? Er konnte sich zwar nicht daran erinnern, dass er jemandem von seinem Vorhaben berichtet hatte, und doch war es nicht ausgeschlossen. Es gab kluge Köpfe und mit allen Wassern gewaschene Männer wie den Venezianer am Hof des Khans. Ein Wort, eine Andeutung genügte, und sie zählten zwei und zwei zusammen und kannten die ganze Wahrheit. Aus diesem Grund hatte Ahmad sich angewöhnt, überaus vorsichtig zu sein und jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, bevor es seinen Mund verließ. Trotzdem konnten selbst dem Vorsichtigsten manchmal Fehler unterlaufen.
Mit einer kurzen, trainierten Bewegung legte Ahmad seinen langen dunklen Umhang über die Schultern zurück. Jetzt hatte er nicht nur mehr Bewegungsfreiheit, sondern außerdem Zugriff zu allen sichtbaren und unsichtbaren Waffen, die an seinem Gürtel hingen. Grimmig biss er die Zähne zusammen. Wer auch immer ihm in der Schreibstube auflauerte, würde mit einem harten Kampf rechnen müssen.
Leise öffnete er die Tür und schob sich geschickt durch den schmalen Spalt. Die Schreibstube lag fast in völliger Finsternis, lediglich in der hintersten Ecke des riesigen Saals schien ein Licht zu brennen. Allerdings war der Lichtschein sehr schwach. Ahmad bezweifelte, dass er ihn überhaupt bemerkt hätte, wenn die offene Tür nicht bereits die Anwesenheit eines anderen verraten hätte. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, schlich er auf seinen weichen Sohlen durch die Reihen der hohen Schränke, in denen die Schriftstücke aufbewahrt wurden. Hier lag, verpackt in Tausenden mit Korken und Wollfäden versiegelten Bambusrohren, die wohl größte Sammlung von Büchern und Schriften, die es auf der Welt gab. Alles, was für die Regierung von Shangdou von Wichtigkeit war – angefangen mit Handelsbüchern über die umfangreiche Korrespondenz des Khans, Prophezeiungen und Horoskope, wissenschaftliche Bücher und Sammlungen aus allen eroberten Provinzen bis hin zu den Geschichten, Liedern und Dichtungen über die Amtszeit Khubilais. Es war eine so umfangreiche Bibliothek, dass fünf Beamte jeden Tag allein damit beschäftigt waren, die einzelnen Schriften und Bücher in Listen einzutragen und zu registrieren. Vor diesen Ausmaßen empfand sogar Ahmad Ehrfurcht – und das, obwohl er als junger Mann die Bibliothek von Bagdad mit eigenen Augen gesehen hatte.
Doch in diesem Moment hatte er keinen Blick für die Kostbarkeiten, die um ihn herum lagerten. Immer mehr näherte er sich der Lichtquelle. Lautlos huschte er von Schrank zu Schrank, von Ecke zu Ecke. Wie ein Tiger pirschte er sich an seine Beute heran, jederzeit zum Sprung bereit. Und dann sah er ihn, den Mann, der vor ihm in die Schreibstube eingedrungen war. Es war Jiang Wu Sun, Oberster Schreiber und Chronist am Hof des Khans. Er hockte auf seinen Fersen an einem der niedrigen Schreibtische, vor sich eine Schale mit Tinte und in der Hand einen Pinsel. Es war ein feiner, spitz zulaufender Pinsel, einer von der Sorte, mit denen die chinesischen Beamten diese seltsamen Zeichen zu malen pflegten, aus denen die chinesische Schrift bestand. Rasch und mit einer Leichtigkeit, die niemand dem schwergewichtigen Schreiber zutrauen würde, zuckte der Pinsel von oben nach unten über den großen Bogen Papier. Das Licht einer kleinen Talglampe warf seinen schwachen Schein auf sein rundes, schwammiges Gesicht. Jiang Wu Sun war so vertieft in seine Arbeit, dass er Ahmad nicht bemerkte.
Ahmad lächelte. Er an Stelle des Chinesen wäre nicht so leichtsinnig gewesen. Er hätte Fallen um sich herum aufgebaut, die ihn vor heranschleichenden Feinden warnen würden. Und selbst wenn diese Fallen versagen würden, er hätte ihn bemerkt. Er hätte seine schweren Atemzüge gehört, dieses unregelmäßige Schnaufen, das wie das Grunzen eines fetten, gemästeten Schweins klang. Ahmad schüttelte verständnislos den Kopf. Jiang Wu Sun hatte nicht einmal einen Diener als Wache aufgestellt. Entweder war er grenzenlos dumm, oder er war naiv wie ein neugeborenes Kind. Und er beschloss, dem Chinesen eine Lehre zu erteilen und ihn ein wenig zu erschrecken.
Lautlos schlich Ahmad um den Schreiber herum, näherte sich ihm von hinten, bis er ihn fast mit dem Zipfel seines Umhangs berührte. Er mochte zwar seine Jugend schon lange hinter sich gelassen haben, aber verlernt hatte er nichts. Jedes Glied seines Körpers erinnerte sich noch an jede einzelne Bewegung, die Jahre der Übung und der Askese ihn gelehrt hatten. Sein Körper gehorchte ihm immer noch – trotz der Zeit, die mittlerweile vergangen war. Der fleischige, über seine Schreibarbeit gebeugte Nacken des Mannes lag direkt vor ihm – glatt, weich und ungeschützt. Ein Stich mit dem dünnen scharfen Dolch genau an der Stelle, wo der Haaransatz begann, und Jiang Wu Sun war nicht mehr. Der Schreiber würde nicht einmal mehr die Gelegenheit haben, einen Schrei auszustoßen.
Ahmad schloss die Augen und atmete mit geballten Fäusten tief ein. In diesem Moment lag das Leben des Schreibers in seiner Hand. Es war nicht mehr wert als eine Prise Sand zwischen seinen Fingern oder eine Mücke, die er mit einer einzigen Bewegung seines Daumens zerquetschen konnte.
Bei Allah, was für ein erhebendes Gefühl. Wie sehr genoss er die Macht, die er über diesen Mann hatte.
Ahmad öffnete seine Fäuste und stieß langsam die Luft wieder aus. Es war vorbei. Die Tage der Bruderschaft waren vorüber. Sogar damals, in jenen glücklichen Tagen, als alles noch seine Ordnung hatte, hätte er erst um die Erlaubnis des Großmeisters gebeten, bevor er diesen Mann getötet hätte. Und jetzt musste er vorsichtig sein. Jetzt hatten die Mongolen dafür gesorgt, dass er sich wie ein Dieb verstecken musste. Allahs Fluch möge sie treffen! Er vermisste diese glücklichen Tage, und dann tat es gut, sich wieder daran zu erinnern.
Ahmad beugte sich vor und blies seinen Atem in den Nacken des Schreibers. Jiang Wu Sun stieß einen hohen, spitzen Schrei aus, sprang auf, verhedderte sich in seinem langen steifen Übergewand und fiel zu Boden. Dort lag er nun auf dem Rücken, zusammengekrümmt und mit allen vieren strampelnd, und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.
Er sieht aus wie ein fetter Käfer und kreischt wie ein Weib, dachte Ahmad und betrachtete den Schreiber voller Verachtung.
»Tu mir nichts«, wimmerte Jiang Wu Sun und verbarg sein Gesicht hinter seinen fleischigen Händen. »Ich flehe dich an, tu mir nichts! Ich gebe dir auch alles, was du willst – Geld, Juwelen, ich kann dir sogar einen einflussreichen Posten am Hof des Khans besorgen. Nur bitte, bitte…«
Ahmad holte tief Luft. Wenn er auch bislang nicht vorgehabt hatte, den Schreiber zu töten, so war er sich jetzt nicht mehr so sicher. Dieses Gewinsel zerrte an seinen Nerven.
»Ich will dir nichts tun«, unterbrach er den Mann und zog seinen Umhang wieder fest um sich, sodass die zahlreichen Waffen an seinem Gürtel verborgen waren. Es war besser, wenn niemand davon wusste. »Beruhige dich, Jiang Wu Sun, und steh auf.«
Überrascht sah ihn Jiang Wu Sun durch seine gespreizten Finger hindurch an. »Ahmad?«, fragte er ungläubig. »Ist es keine Täuschung, du bist es wirklich?«
»Ja.«
Ahmad reichte ihm seine Hand und zog den Chinesen wieder auf die Füße. Es war ein gutes Stück Arbeit, denn der Schreiber mochte in etwa so viel wiegen wie ein Mastochse.
»Aber warum bist du hier? Was machst du hier in der Schreibstube mitten in der Nacht?«
»Das Gleiche könnte ich dich auch fragen«, entgegnete Ahmad kühl und ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte er den fetten Chinesen nicht einfach in Ruhe bei seinem Talglicht sitzen lassen können? Er hätte sich einfach ebenso still und heimlich, wie er gekommen war, wieder davonschleichen können. Und vermutlich hätte Jiang Wu Sun niemals erfahren, dass er in dieser Nacht nicht allein in der Schreibstube gewesen ist. »Was machst du hier nachts, wenn alle anderen schlafen?«
Jiang Wu Suns Gesicht überzog sich mit flammender Röte. »Das geht dich überhaupt nichts an!«, fauchte er und sah in diesem Augenblick ebenso grimmig aus wie diese hässlichen Fu-Hunde, welche die Chinesen so verehrten und die überall als Statuen die Eingänge bewachten.
Ahmad hob spöttisch eine Augenbraue. »Dich ebenso wenig.«
Jiang Wu Sun klappte seinen Mund wieder zu und ähnelte jetzt einem mürrischen Karpfen.
»Um noch mehr Unannehmlichkeiten zu vermeiden«, fuhr Ahmad fort, »schlage ich folgende Regelung vor: Du gehst deiner Arbeit weiter nach und lässt mich meine verrichten. Und wir beide vergessen, dass wir jemals den anderen gesehen haben. Was hältst du davon?«
Jiang Wu Sun dachte kurz nach, dann nickte er. Der Schreiber mochte fett sein, dumm war er nicht.
»Also gut. So werden wir es machen. Wenn du es aber jemals wagen solltest…«
Er hob drohend seinen Zeigefinger. Ahmad musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu lachen. Womit wollte Jiang Wu Sun ihm drohen, ihm, einem ausgebildeten und vom Großmeister selbst auserwählten Fidawi? Das war nicht einmal beleidigend, das war einfach nur lächerlich.
»Ja, ja, ja, du kannst dich auf mich verlassen«, erwiderte Ahmad und gähnte gelangweilt. »Und nun geh wieder an deine Arbeit.«
Er wandte sich um und ließ Jiang Wu Sun stehen. Während er die Reihen der Schränke entlangschlenderte und versuchte, mithilfe einer schmalen Kerze die Bücher mit den Bilanzen zu finden, dachte er über Jiang Wu Sun nach. Was trieb der dicke Schreiber hier in der Schreibstube mitten in der Nacht? Es war unwahrscheinlich, dass Jiang Wu Sun freiwillig nachts arbeitete, um das, was bei Tage nicht erledigt werden konnte, nachzuholen. Die Chinesen waren bekannt dafür, dass sie sich nicht gerade ein Bein für ihren mongolischen Herrscher ausrissen. Also welches Geheimnis verbarg er?
Erst vor Kurzem hatte jemand Ahmad erzählt, dass die Chinesen heimlich die Bücher fälschten – die Berichte über die siegreichen Schlachten Khubilai Khans, die Erfolge seiner politischen Maßnahmen. Sie entstanden im Auftrag des Herrschers und waren gedacht als Zeugnis einer glorreichen Epoche für die Nachwelt. Es war eigentlich nur ein Gerücht, und Ahmad konnte sich auch nicht so recht vorstellen, was die Chinesen damit bezweckten. Weshalb sollten sie den Aufwand betreiben und sich der Gefahr der Entdeckung aussetzen, nur um Khubilai Khan in einem schlechten und sich selbst in einem guten Licht erscheinen zu lassen? Das war kindisch. Aber die Chinesen waren in allem, was sie taten, merkwürdig. Also war ihnen auch das zuzutrauen.
Endlich fand Ahmad, was er gesucht hatte. Der Schrank, vor dem er stand, war angefüllt mit Bambusrohren, die das Zeichen des Handels trugen. Es mochten wohl an die hundert Rohre sein. Ahmad seufzte. Doch Zögern half nicht, die Arbeit musste getan werden. Wenn erst die Bibliothek von Shangdou auf Pferderücken und Ochsenkarren verladen war, würde es ihm nicht mehr möglich sein, an die wichtigen Schriftstücke heranzukommen. Und dann war die Gefahr groß, dass man die verräterischen Beweise fand, die ihn mehr kosten konnten als nur sein Amt als Finanzminister. Der Verdacht war bereits da, die Spürhunde waren ihm schon auf den Fersen. Der Venezianer hatte ihm alles erzählt…
Ahmad zog das erste Rohr hervor und öffnete den Korken. Irgendwann würde er sich um Jiang Wu Sun kümmern, dafür sorgen, dass der fette Schreiber seinen Mund hielt. Aber nicht jetzt. Jetzt lag noch eine lange, arbeitsreiche Nacht vor ihm.
Beatrice träumte. Sie befand sich in einem riesigen Raum, einer Halle oder Kathedrale nicht unähnlich. Dieser Raum oder Saal war so hoch, dass sie das steinerne Deckengewölbe nur erahnen konnte. Mit leichten Schritten glitt sie über den Boden. Sie schwebte dahin, die Falten ihres knöchellangen luftigen Kleides bauschten sich um sie und streiften ihre Beine. Ich tanze!, dachte sie erstaunt. Ich tanze. Aber wo ist die Musik?
Da hörte sie plötzlich wie aus weiter Ferne spanische Gitarrenklänge. Irgendjemand spielte Flamenco. Und zu ihrer eigenen Überraschung merkte sie, dass sie tatsächlich Flamenco tanzte – und das gar nicht mal schlecht. Flamenco! Ausgerechnet sie! Dabei war sie weder eine begeisterte noch eine gute Tänzerin.
Aber Träume haben zum Glück ihre eigenen Gesetze, dachte Beatrice und genoss die Leichtigkeit, die Eleganz und die Leidenschaft, mit der sie sich zur Musik bewegte, sich drehte, mit den Füßen aufstampfte, den Kopf in den Nacken und zur Seite warf. Sie glitt dahin und umrundete die mächtigen Säulen aus dunklem Granit, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan als Flamenco zu tanzen. Sie raffte ihr Kleid mit einer Hand über der Hüfte, während sich die andere Hand am hoch erhobenen Arm mit der Geschmeidigkeit einer Schlange wand. Sie hörte bewunderndes Raunen, das Klatschen von Händen im Rhythmus der Musik und dem Klopfen und Klappern ihrer Absätze. Es waren viele, sehr viele Hände. Offensichtlich hatte sie eine Menge Zuschauer, obwohl sie im Halbdunkel und den Schatten der Säulen nicht zu erkennen waren. Nur manchmal, wenn sie dicht an ihnen vorbeitanzte, fühlte sie die Wärme ihrer Körper, und sie spürte, dass sie versuchten ihr Kleid zu berühren.
Beatrice genoss die Aufmerksamkeit, sie genoss die Bewunderung, und gleichzeitig war es ihr egal. Es gab nur sie, sie war der Mittelpunkt der Welt. Dieser Tanz war ihr Leben, die Gitarren erzählten ihre Geschichte, der Rhythmus war ihr Herzschlag. Alles andere war unwichtig.
Sie tanzte um eine der Säulen herum und wurde plötzlich von zwei starken Armen aufgefangen. Vor ihr stand ein Mann, gekleidet wie ein spanischer Stierkämpfer. Allerdings war seine Kleidung schwarz, sogar die breite Schärpe um Bauch und Hüften war schwarz. Er trug eine dunkle Augenmaske und hatte den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen, sodass sie nicht erkennen konnte, um wen es sich handelte. Trotzdem wusste sie es instinktiv. Sie spürte es an den wohligen Schauern, die ihr über den Rücken liefen. Es war Marco, er musste es sein. Es gab hier keinen anderen Mann, der diese Gefühle bei ihr erzeugte. Er zog sie an sich, und für einen kurzen Moment sah sie seine Augen. Braune Augen voller Leidenschaft, welche dieselbe Geschichte erzählten wie die Gitarren – ihre Geschichte. Und dann tanzten sie gemeinsam. Es war ein Geben und ein Nehmen, ein Suchen und ein Finden, Liebe und Hass, Leben und Tod. Zwei Körper – ein Tanz. Zwei Seelen – ein Gefühl. In ihren Adern floss dasselbe Blut, der Rhythmus verband sie, es war schön, es war unglaublich, es war…
Aber irgendetwas stimmte nicht. Etwas irritierte Beatrice. Da war etwas hinter der Säule, etwas wie ein Schatten mit der Gestalt eines Mannes, nur größer, furchterregender. Sie kam plötzlich aus dem Takt, strauchelte und wäre beinahe gestürzt. Im letzten Moment fing Marco sie auf. Sie lag in seinen Armen, und er beugte sich über sie. Er lächelte. Doch sein Lächeln verursachte ihr plötzlich eine Gänsehaut. Es war das Lächeln eines Wolfs oder eines Vampirs. Gleich würde er seine spitzen Eckzähne entblößen und…
»Nein, tu es nicht!«, sagte plötzlich eine Stimme, die Beatrice bekannt vorkam. Aber woher, wo hatte sie diese Stimme schon einmal gehört? Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder daran erinnerte. Es war der Araber, dieser Ahmad, Khubilais Finanzminister, den sie vor gar nicht langer Zeit belauscht hatte. »Wir brauchen sie noch für wichtigere Dinge.«
Aus Dankbarkeit wurde rasch Furcht. Die Worte des Arabers klangen unheilvoll. Was immer die beiden mit ihr vorhatten, sie war nicht erpicht darauf, es zu erfahren.
Beatrice, wach endlich auf!, dachte sie. Das ist nur ein Traum. Mach einfach die Augen auf, dann ist alles vorbei und du bist erlöst.
Doch so einfach war es leider nicht. So sehr sie auch versuchte, diesen Traum abzuschütteln, es gelang ihr nicht. Was so schön begonnen hatte, wurde immer mehr zu einem Albtraum allererster Güte.
»Lass sie los«, sagte der Araber jetzt. »Du weißt, wir haben es versprochen.«
Sichtlich widerwillig ließ Marco sie zu Boden gleiten.
»So ist es gut«, ertönte plötzlich eine tiefe, grausame Stimme. Und zur gleichen Zeit löste sich aus dem Schatten der Säule eine riesige schwarze Gestalt. Ihre Umrisse sahen eher aus wie die einer gewaltigen Fledermaus. Noch ein Vampir? Vielleicht der Meister? Marco und der Araber wichen zurück, als wollten nicht einmal sie mit diesem abscheulichen Ding etwas zu tun haben. Einzig Beatrice blieb, steif vor Angst und unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, auf dem Boden liegen. Unaufhaltsam näherte sich die Gestalt, bis sie schließlich über ihr stand. Das Wesen, was auch immer es sein mochte, stank nach Tod und Verwesung. Dieser Gestank raubte Beatrice den Atem, ihr schwanden die Sinne. Doch eine Berührung hielt sie bei Bewusstsein.
»Nein«, sprach das entsetzliche Wesen, diese Ausgeburt der Hölle, und legte eine seiner eisigkalten Klauen an ihre Wange. Es war, als ob der Tod selbst sie berühren würde. »Du darfst jetzt nicht ohnmächtig werden, nicht bevor ich nicht weiß, wo er ist, wo du ihn versteckt hältst.«
Die Klaue packte ihr Kinn, eisige Kälte fuhr ihr in die Glieder und lähmte ihre Gedanken. Was wollte dieses Ding von ihr? Wovon sprach es?
»Du weißt doch, was ich meine«, sagte es leise und blies ihr seinen stinkenden Atem ins Gesicht. »Nun gut, wenn du nicht willst… Ich kenne Mittel und Wege, dich zum Sprechen zu bringen.«
»Es ist alles nur ein Traum, es ist alles nur ein Traum…«, murmelte Beatrice. »Es gibt keine riesigen Fledermäuse, keine Vampire oder Ungeheuer. Es ist alles nur ein Traum.«
Das Wesen brach in lautes Gelächter aus. Dann beugte es sich zu ihr hinunter, und Beatrice spürte, wie eine lange raue Zunge über ihr Gesicht leckte. Klebriger, zähflüssiger, nach faulem Fisch und verwesendem Aas riechender Speichel klebte auf ihrer Haut. Ihr wurde übel, sie begann zu würgen, aber sie bekam keine Luft mehr. Gleich würde sie ersticken, und dann…
»Sag mir, wo er ist, und ich lass dich in Ruhe«, flüsterte das Wesen. »Du brauchst es mir nur zu sagen, und du bist frei.«
Ja, ich werde dir alles sagen, dachte Beatrice. Alles, was du wissen willst, wenn du mich nur…
Doch in diesem Augenblick hörte sie einen wilden Schrei. Das Wesen sprang zurück und brüllte vor Wut oder vor Schmerz. Marco und der Araber schrien ebenfalls. Beatrice hörte das Klirren von Waffen, die gegeneinander prallten, aber sie wagte nicht, die Augen zu öffnen. Der Kampf schien immer heftiger zu werden. Schließlich erklang ein markerschütterndes Gebrüll, das einem wütenden Fauchen wich. Das Fauchen wurde immer schwächer, als ob es sich entfernen würde, und endlich verstummte es ganz. Was auch immer gerade geschehen war, es war vorbei.
Leichte schnelle Schritte näherten sich ihr, jemand beugte sich über sie, nahm sie behutsam in seine Arme und tastete ihren Körper ab.
Noch bevor sie aufblickte, wusste sie, wer dieser Mann war. Selbst wenn ihr Körper sich nicht mehr an seine Umarmung erinnert hätte, so hätte ihn sein Duft verraten. Es war der Duft von Amber und Sandelholz, der ihn stets umgeben hatte wie ein leichter, wehender Mantel oder eine zweite Haut.
»Allah sei gepriesen, du lebst!«, sagte er mit einer Stimme, die ihr immer noch wohlige Schauer über den Rücken jagte.
»Saddin!«, rief sie überrascht und schlug die Augen auf. »Dies ist doch ein Traum! Was machst du denn hier?«
»Träume haben ihre eigenen Gesetze. Deshalb kam ich, um dich zu beschützen«, antwortete der Nomade und strich ihr leicht durch das Haar. Seine Lippen umspielte jenes Lächeln, das ihr einst in Buchara fast den Verstand geraubt hatte. Das sie beinahe dazu gebracht hatte, auf Knien um ihren Tod zu betteln.
Es war einmal… Saddin war wie ein Prinz aus einem dicken alten kostbaren Märchenbuch. Er gehörte der Vergangenheit an. Aber er hatte recht. Träume haben ihre eigenen Gesetze. Und das ist manchmal gut so. »Wie es scheint, kam ich gerade noch zur rechten Zeit. Es ist mir nur mit Mühe gelungen, die drei zu vertreiben.«
Beatrice setzte sich auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihre Stirn war feucht, und sie wusste nicht, ob es sich dabei um den Speichel des Ungeheuers handelte oder lediglich um ihren eigenen Angstschweiß.
»Was war das?«, fragte sie. »Dieses Ding sah aus wie ein Dämon…«
»Gar nicht so falsch geraten«, antwortete Saddin und stützte sich auf seinen schimmernden Säbel. In dieser Haltung erinnerte er Beatrice an die Darstellungen der Erzengel in Kirchen oder Religionsbüchern aus dem 19. Jahrhundert. Allerdings war er ein Engel mit schwarzen Haaren, der weißen Kleidung der Nomaden und einer nicht besonders frommen und unschuldigen Vergangenheit.
»Aber… Was wollte dieses Ding von mir?«
Saddin holte tief Luft. »Den Stein.«
»Aber…«
»Hör mir jetzt gut zu, Beatrice. Ganz gleich, ob dies nur ein Traum ist oder nicht, denke immer an meine Worte: Du musst auf der Hut sein. Diese drei Männer wollen dein Verderben. Sie wollen den Stein der Fatima in ihren Besitz bringen und sind bereit, alles dafür zu tun. Sei vorsichtig und wachsam. Denn sollte es einem von ihnen gelingen, den Stein in seine Hände zu bekommen…«
Er vollendete den Satz zwar nicht, aber seinem Gesicht war deutlich anzusehen, dass er an nichts Gutes dachte.
»Was wäre geschehen, wenn du nicht gekommen wärst?«, fragte sie.
»Willst du das wirklich wissen?«
Beatrice schluckte. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein. Es ist wohl besser, wenn du es für dich behältst.« Sie sah ihn an. »Warum bist du hier? Ich meine, es ist doch bestimmt kein Zufall, dass du ausgerechnet zur richtigen Zeit hier eingetroffen bist?«
»Du hast recht. Ich habe den Auftrag, dich zu beschützen.«
»Mich beschützen? Wer gab dir diesen Auftrag? Bist du also doch ein Engel?«
»Nun ja«, verlegen senkte Saddin den Blick, sein Gesicht überzog sich mit Röte. »Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Außerdem solltest du nicht vergessen, dass du immer noch träumst.« Er erhob sich. »Ich werde in deiner Nähe bleiben und dich beschützen – dich, dein ungeborenes Kind und den Stein. Das verspreche ich dir. Aber trotzdem musst du auf der Hut sein. Die drei sind sehr gefährlich. Und sie werden es wieder versuchen. Immer wieder, bis sie ihr Ziel erreicht haben und der Stein ihnen gehört.«
»Aber was soll ich tun? Wie soll ich mich gegen sie wehren?«
»Vertraue ihnen nicht, egal wie schmeichelnd und schön ihre Worte auch klingen mögen. Und jetzt solltest du wieder aufwachen, denn ich darf nicht länger bleiben, und sie werden zurückkommen, sobald ich fort bin.« Saddin lehnte seine Stirn gegen ihre. »Vergiss nicht, ich bin in deiner Nähe. Ich liebe dich.«
Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und verschwand schnell und leicht wie ein Schatten zwischen den Säulen.
Keuchend wachte Beatrice auf und griff sich instinktiv an den Hals. Ihre Kehle war staubtrocken, sie war schweißgebadet, ihr Herz raste.
Kein Grund zur Panik, es war nur ein Traum, ermahnte sie sich. Trotzdem glaubte sie immer noch den klebrigen Speichel des Ungeheuers auf ihrem Gesicht zu spüren. Und diesen Geruch nach Tod und Verwesung hatte sie auch noch in der Nase.
Sie fuhr sich durch das Haar, das in feuchten Strähnen an ihrem Kopf klebte. Natürlich war da nichts. Sie hatte niemals mit Marco Flamenco getanzt, dieses Ungeheuer war nicht aufgetaucht, und Saddin war auch nicht bei ihr gewesen. Das alles war lediglich eine Botschaft ihres Unterbewusstseins, eine Warnung, verbunden mit dem Ratschlag, vorsichtig zu sein. Natürlich hatte der Traum alles maßlos übertrieben. Wahrscheinlich war Marco nicht der kaltblütige Verbrecher, als der er dargestellt wurde, sondern lediglich ein hoffnungsloser Weiberheld. Trotzdem würde sie vor ihm auf der Hut sein. Wenigstens konnte sie sich das vornehmen.
Beatrice stand auf und ging zum Fenster.
Zum Glück war alles nur ein Traum, dachte sie, zog die schweren Vorhänge zur Seite und ließ die kalte Nachtluft herein. Sie atmete erleichtert ein und betrachtete den klaren Sternenhimmel, den großen Bären, den Polarstern, den kleinen Bären, der so winzig war, dass man ihn kaum sehen konnte, und unendlich viele andere Sternbilder, deren Namen sie nicht kannte. Da entdeckte sie plötzlich ein ganz besonderes Sternbild. Verwundert rieb sich Beatrice die Augen und schaute noch einmal hin, weil sie glaubte, sie hätte sich getäuscht, aber es war immer noch da. Das Auge stand direkt über den Kuppeln des Kristallpalastes. Beatrices Herz begann schneller zu schlagen.
Es war unwahrscheinlich, dass dieses Sternbild in einem astronomischen Atlas oder auf einer Sternenkarte verzeichnet war. Und wenn es Märchen oder Legenden darüber gab, so hatte sie sie bislang nicht gehört. Vielleicht war Beatrice sogar die Einzige, die es jemals zu Gesicht bekommen hatte. Das Sternbild hatte die Form eines strahlenden großen Auges. Und wenn sie sich anstrengte, konnte sie sogar die Iris erkennen. Beatrice hätte Wetten darauf abschließen können, dass sie blau war, blau wie ein Saphir oder…
Das Auge der Fatima!, dachte sie und rieb sich fröstelnd die Arme.
Der Nachtwind war aufgefrischt und wehte ihr direkt ins Gesicht. Er trug einen leichten, kaum wahrnehmbaren Duft zu ihr ins Zimmer. Überrascht atmete Beatrice ein. Dieser angenehme Duft erinnerte sie an etwas – oder an jemanden. Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein Blitz. Jeder Tropfen Blut wich aus ihren Armen und Beinen, wie erstarrt stand sie da, unfähig, sich zu bewegen oder zu atmen. Obwohl die Stimme der Vernunft ihr sagte, dass es unmöglich war, dass er niemals hier gewesen sein konnte, dass er seit mehr als zweihundert Jahren tot sein musste, hatte sie keinen Zweifel. Hatte er nicht selbst in ihrem Traum gesagt, er bleibe in ihrer Nähe, um sie zu beschützen? Dies hier war sein Duft, ebenso unverwechselbar wie ein Fingerabdruck oder die DNA eines Menschen. Es war der Duft von Amber und Sandelholz. Aber wenn Saddin wirklich bei ihr gewesen war, dann war der Traum vielleicht doch mehr als ein gewöhnlicher Albtraum. Dann stimmte es, was Saddin über Marco und Ahmad gesagt hatte. Vor allem aber – und das war das Schlimmste daran – bedeutete das, dass auch das Monster hier in diesem Zimmer gewesen sein musste. Wirklich und wahrhaftig.