Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, stand Beatrice erneut vor dem Haus der Heilung. Die Sonne schien direkt auf das große Portal. Die Farben leuchteten, und die gemalten Drachen, Pfirsiche und Zikaden wirkten, als wären sie lebendig. Zikaden… Noch gestern Abend hatte Maffeo ihr erklärt, dass diese Insekten für die Chinesen nicht nur ein Sinnbild für ein gesundes, langes Leben waren, sondern auch ein Symbol für eine Wende zum Positiven.
Hoffentlich stimmt das. Heute könnte ich es sicher gut brauchen, dachte Beatrice und holte tief Luft, bevor sie gemeinsam mit Dschinkim und dessen Neffen Tolui das Haus der Heilung betrat.
Sie war froh über die Begleitung der beiden. Dschinkim war vielleicht nicht ihr Freund, wenigstens noch nicht, aber sie hatte das Gefühl, dass er hier, inmitten dieser Atmosphäre von Feindschaft und Misstrauen, ein starker und zuverlässiger Verbündeter war.
In der Halle der Morgenröte war es ruhig. Nur Lo Han Chen und ein weiterer Arzt waren anwesend und kümmerten sich um die Patienten, die still und geduldig auf ihren Strohmatten lagen. Vielleicht hatten die anderen Ärzte ihren Dienst noch nicht angetreten. Oder aber der gestrige Aufmarsch der in ganz Taitu tätigen Ärzte war eigens für sie in arrangiert worden.
»Guten Morgen!«, sagte Beatrice laut auf Mongolisch.
Die beiden Ärzte zuckten zusammen und starrten sie an, als hätten sie eine Geistererscheinung vor sich.
»Wenn Ihr unseren Rat sucht oder eine Konsultation wünscht, müsst Ihr euch bei dem Schreiber anmelden«, erklärte Lo Han Chen, der sich offensichtlich schneller von seinem Schrecken erholte als sein jüngerer Kollege. »Er sitzt in dem Raum gleich links neben dem Tor. Er wird Euch sagen können, wann unsere Zeit es erlaubt, Euch zu behandeln.«
Die Stimme des alten Arztes klang so unfreundlich und abweisend, dass es Beatrice kalt den Rücken hinunterrieselte. Jeder andere wäre auf der Stelle zu Eis erstarrt. Aber eine Frau, die Anfang des 21. Jahrhunderts als Chirurgin arbeitete, war mit allen Wassern gewaschen. Lo Han Chens unfreundliches Verhalten war nichts Besonderes. Im Gegenteil, von einigen ihrer Kollegen in Hamburg war sie ganz anderes gewohnt. Das war Beatrice in der Nacht klar geworden. Und so manches außerdem…
»Du kannst immer noch umkehren«, flüsterte Dschinkim ihr zu. Sogar er schien froh darüber zu sein, dass die Unfreundlichkeit ausnahmsweise nicht gegen ihn gerichtet war. »Ich bin sicher, Khubilai wird dich…«
»Kommt gar nicht infrage. Ich stehe das hier durch«, erwiderte sie.
»Du irrst dich, Lo Han Chen«, sagte sie laut. »Ich komme nicht, um mich behandeln zu lassen. Ich komme, um meine Arbeit aufzunehmen, so wie der großmütige Kaiser Khubilai es wünscht.«
Lo Han Chens Gesicht verfinsterte sich. Offensichtlich hatte hier keiner damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen.
»Wie du willst«, sagte er mit missmutig herabhängenden Mundwinkeln, sodass er Ähnlichkeit mit einem alten graubärtigen Walross bekam. »Du kannst bei dem Mann dort in der Ecke anfangen.«
Freundlich wie eh und je, dachte Beatrice. Aber diesmal ließ sie sich nicht von dem alten Mann einschüchtern, diesmal war sie vorbereitet.
»Tolui, komm mit.«
»Wer ist das?«, fragte Lo Han Chen. »Er muss gehen. Der Zutritt zum Haus der Heilung ist nicht jedem gestattet.«
»Das ist Tolui, Sohn des großen Khans und mein Dolmetscher.« Der kaum siebzehnjährige Junge verbeugte sich höflich vor dem chinesischen Arzt. »Da eure Zeit es scheinbar nicht erlaubt, mir über meine fehlenden Sprachkenntnisse hinwegzuhelfen, wird Tolui das übernehmen. Auf Befehl des Khans.«
Lo Han Chen wurde weiß vor Zorn, aber er sagte nichts mehr, sondern widmete sich wieder seinem Patienten.
Beatrice atmete erleichtert auf. »Sehr schön. Diese Runde geht an die Guten.«
Tolui sah sie überrascht an. »Was hast du gesagt?«
»Nichts«, antwortete Beatrice lächelnd. »Das war nur so eine Redensart aus meiner Heimat. Nun lass uns mit der Arbeit beginnen.«
Wie sich schon kurz danach herausstellte, hatte Dschinkim mit seiner Einschätzung untertrieben. Sein Neffe, ein gut aussehender Junge, war ein Sprachgenie. Neben mehreren chinesischen und mongolischen Dialekten beherrschte er auch fließend Arabisch, Italienisch und sogar Latein, Hebräisch und Altgriechisch.
Beatrice gewann Zentimeter für Zentimeter an Boden. Die Patienten gaben ihr mit Toluis Hilfe gehorsam Auskunft, sie untersuchte sie – zielgerichtet und konzentriert – und stellte ihre Diagnosen. Die meisten Patienten in der Halle der Morgenröte litten an Infektionen, aber es gab auch chirurgische Erkrankungen wie Knochenbrüche, Nieren- und Gallensteine und sogar zwei Krebserkrankungen. Diese waren jedoch so weit fortgeschritten, dass man den beiden Männern nicht einmal mehr im 21. Jahrhundert hätte helfen können.
Als Beatrice an diesem Abend ins Bett fiel, war sie müde und erschöpft.
Sie fühlte sich ausgepumpt und leer. Trotzdem war sie zufrieden, denn im Gegensatz zu gestern hatte sie den Eindruck, jetzt auf dem richtigen Weg zu sein.
Es klopfte an der Tür. Ahmad sah überrascht von seinen Büchern auf. Wer wollte ihn zu dieser vorgerückten Stunde noch sprechen? Sogar die Diener schliefen schon. »Herein!«
Er staunte nicht wenig, als der Venezianer den Raum betrat.
» Marco? Was willst…«
»Ich muss mit dir sprechen, Ahmad«, sagte der Venezianer. »Auf der Stelle.«
Ahmad runzelte verärgert die Stirn. Der anmaßende Ton des jungen Venezianers gefiel ihm überhaupt nicht. Trotzdem deutete er auf eines der Sitzpolster auf der anderen Seite seines niedrigen Schreibtischs.
»Setz dich, verehrter Freund. Oder bist du so in Eile, dass dir hierfür die Zeit fehlt?«
Marco knirschte mit den Zähnen, ließ sich aber auf das Polster fallen. Er zog die Knie an, stützte sein Kinn darauf und sah Ahmad aus wütend funkelnden Augen an.
»Also gut. Was hast du mit dem Gift gemacht?«
»Nichts anderes, als wir besprochen haben.«
Der Venezianer sprang auf. Er beugte sich über den Schreibtisch, sodass sein Gesicht kaum mehr eine Handbreit von Ahmad entfernt war.
»Lügner!«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Du hast nicht…«
Ahmad spürte, wie der Zorn, heißer, ungebändigter Zorn, ihn packte. So schnell, dass Marco nichts mehr dagegen tun konnte, ergriff er seinen Kragen mit der Linken, während seine rechte Hand nach dem Dolch tastete, der verborgen an seiner Hüfte hing.
»Noch niemals hat es jemand gewagt, mich einen Lügner zu nennen«, sagte er leise. »Und du wirst es auch nicht tun. Nie wieder!«
Er spürte, wie der Venezianer erschrak. Das Blut wich aus den Wangen des jungen Mannes, in seinen Augen flackerte Angst. Sein Kehlkopf hob und senkte sich, und er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Schon gut, schon gut, ich habe verstanden«, sagte er und versuchte zu lächeln. Er hob die Hände, und Ahmad ließ ihn los. »Verzeih mir, ich wollte dich nicht beleidigen. Aber…« Marco spielte sichtlich nervös mit seinen Händen. »Wenn du das Gift wirklich in seine Speisen gemischt hast, weshalb läuft der Kerl dann immer noch gesund und munter in Taitu herum? Kannst du mir das verraten?«
Ahmad zuckte mit den Schultern. Er atmete tief ein. Der Zorn zog sich langsam wieder zurück. Trotzdem ließ er die Hand an seinem Dolch. Der kühle Griff, schmucklos und doch schön, ein wahres Meisterwerk der Waffenschmiedekunst, fühlte sich so vertraut an. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Vielleicht braucht das Gift lange, bis es seine Wirkung zeigt? Vielleicht ist er besonders zäh? Ich kann dir diese Fragen nicht beantworten. Du fragst den falschen Mann.«
Marco seufzte und starrte auf seine Hände. »Ich weiß. Verzeih. Aber ich kann Senge nicht auftreiben. Niemand scheint zu wissen, wo er sich aufhält. Vielleicht hat er Shangdou gar nicht verlassen. Vielleicht ist er immer noch dort. Oder…« Er strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Manchmal frage ich mich, ob wir einen Fehler gemacht haben.«
Ahmad entgegnete nichts darauf. Diese Frage hatte er sich auch schon gestellt.
»Ich sollte wieder gehen«, sagte Marco und erhob sich. »Verzeih, dass ich deine Loyalität infrage gestellt habe.«
Er verließ das Zimmer, und Ahmad war wieder allein.
Dieser junge Dummkopf, dachte Ahmad. Wenn jemand von uns einen Grund hat, diesen Kerl aus dem Weg zu räumen, dann ich. Sollte er tatsächlich weitersuchen und – was Allah verhüten möge – sogar fündig werden, bin ich derjenige, der seinen Kopf als Erster verliert.
Der Kampf um die Anerkennung der chinesischen Ärzte kostete unendlich viel Kraft. Beatrice arbeitete unermüdlich und gönnte sich keine Pause. Bereits vor Sonnenaufgang betrat sie das Haus der Heilung und verließ es erst wieder, wenn die Sonne schon untergegangen war. Mit den wenigen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte sie, die Patienten zu behandeln. Wenn sie abends in ihre Gemächer zurückkehrte, war sie müde und erschöpft und hatte nur noch den Wunsch, ihre schweren Beine hochzulegen und etwas zu essen. Allerdings erlaubte sie sich auch dann noch keine Ruhe, sondern saß gemeinsam mit Tolui über einem medizinischen Werk über chinesische Heilkräuter. Da Beatrice nichts über die Grundlagen der chinesischen Medizin wusste, konnte sie die blumigen Metaphern, in denen das Werk geschrieben war, nicht sofort verstehen. Mit Toluis Hilfe musste sie sich ihre Bedeutung mühsam Satz für Satz erarbeiten.
Doch langsam trug ihre Mühe Früchte. Mit zunehmendem Wissen über die chinesischen Heilkräuter gelangen ihr auch mehr Behandlungserfolge. Und ganz allmählich legten die anderen Ärzte ihre verachtende Gleichgültigkeit Beatrice gegenüber ab. Sie diskutierten zwar immer noch nicht mit ihr oder erklärten ihr ihre eigenen Behandlungsmethoden, aber sie begannen zuzuhören, wenn sie etwas sagte. Und allein diese Änderung im Verhalten erfüllte sie mit Stolz.
Es war etwa zwei Wochen nach dem ersten Besuch im Haus der Heilung. Beatrice war gerade damit beschäftigt, einen Mann zu untersuchen, der am Vortag mit starken krampfartigen Schmerzen in der linken Flanke mit Ausstrahlung in die Leiste ins Haus der Heilung gekommen war. Sie hatte daraufhin eine Nierenkolik, verursacht durch einen Harnleiterstein, diagnostiziert, und zum ersten Mal hatte Lo Han Chen zustimmend genickt. Offensichtlich waren die chinesischen Ärzte mit ihrer Art der Befragung, der üblichen Puls- und Zungendiagnose, zum selben Ergebnis gekommen. Die Chinesen hatten dem Mann einen wirklich abscheulich stinkenden Tee zu trinken gegeben. Und – ob durch Zufall oder durch die Wirkung des Tees – dem Mann, der sich am Vortag kaltschweißig und schmerzgeplagt auf seinem Bett gewälzt hatte und kaum ansprechbar gewesen war, ging es an diesem Morgen viel besser. Er saß aufrecht im Schneidersitz auf dem niedrigen Bettgestell und präsentierte Beatrice strahlend eine Schale, in der sich der Übeltäter befand: ein ovales glattes graufarbenes Konkrement von der Größe eines Apfelkerns.
»Dies hier nennen wir in meiner Heimat Nierenstein«, sagte sie zu Tolui.
Vom ersten Tag an hatte er ein lebhaftes Interesse an der Medizin gezeigt und ihr immer wieder Löcher in den Bauch gefragt. So machte die Arbeit natürlich noch mehr Spaß.
Der Stein klimperte in der Schale, als sie ihm das Gefäß reichte – ein fröhliches Geräusch, in das der Patient mit erleichtertem Lachen einstimmte.
Tolui nahm den Stein vorsichtig zwischen die Finger und betrachtete ihn von allen Seiten.
»Er ist hart«, stellte er erstaunt fest. »Fast ebenso hart wie ein Knochen. Wie behandelt man in deiner Heimat diese Krankheit?«
»Kaum anders als die chinesischen Ärzte«, antwortete Beatrice und erhob sich mühsam aus der Hocke. Diese geduckte Haltung bereitete ihr zunehmend Probleme. Sie musste sich mittlerweile in der achtunddreißigsten oder neununddreißigsten Woche der Schwangerschaft befinden. Sie hatte Rückenschmerzen und schnürte sich außerdem den Bauch ein, was dem ungeborenen Kind überhaupt nicht zu gefallen schien, denn jedes Mal danach strafte es sie mit heftigen Tritten. »Auch wir geben den Kranken Medizin, um die Ausscheidung des Steins zu fördern. Natürlich handelt es sich um andere Rezepturen, weil wir andere Kräuter und Substanzen kennen. Nur wenn der Stein zu groß ist, um auf natürlichem Weg den Körper zu verlassen, wenden wir…«
Doch bevor Beatrice von Steinzertrümmerung, Schlingenextraktion und Operation berichten konnte, wurde sie von lautem Geschrei unterbrochen. Sechs Männer kamen in die Halle der Morgenröte gestürmt. In ihrer Mitte, eingewickelt in ein großes Tuch, trugen sie einen Mann. Sie riefen so aufgeregt durcheinander, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte.
»Was ist los?«, fragte Beatrice.
»Sie bringen ihren Herrn«, antwortete Tolui. »Er scheint plötzlich und unerwartet krank geworden zu sein.«
Lo Han Chen und der andere Arzt sahen den Männern entgegen, als wären sie nur unbeteiligte Besucher im Haus der Heilung. Die Männer liefen zu den beiden, und der Kranke in ihrer Mitte schwankte so bedrohlich hin und her, dass Beatrice nur hoffen konnte, dass er keine Kopf- oder Wirbelsäulenverletzung hatte. Lo Han Chen und sein Kollege warfen einen kurzen Blick auf den Mann und schüttelten die Köpfe. Keiner von ihnen schien die Absicht zu haben, sich zu rühren und sich um den Notfall zu kümmern.
»Warum helfen die beiden dem Mann nicht?«, fragte Beatrice.
»Sie sagen, es ist sinnlos. Er stirbt.«
»Und das können sie mit einem Blick aus zwei Metern Entfernung erkennen?« Beatrice stieß einen tiefen Seufzer aus. Einmal mehr hatte sie Schwierigkeiten, das Verhalten der Chinesen zu verstehen. »Dann werde ich mir das eben mal ansehen.«
»Aber die anderen Ärzte sagen doch, dass die Bemühungen keinen Zweck haben. Sie sagen…«
»Da wo ich herkomme, gibt man ein Menschenleben nicht auf, ohne wenigstens zu versuchen, es zu retten. Komm mit, ich werde dich brauchen.«
Ein strahlendes Lächeln glitt über das Gesicht des Jungen, und gemeinsam liefen sie den Männern entgegen. Beatrice dirigierte sie zu einem freien Bettgestell und gab ihnen mit Handzeichen zu verstehen, den Kranken dort abzulegen. Dem Mann ging es ohne Zweifel schlecht. Er keuchte und japste und war kaum noch ansprechbar, aber mit einem Blick zu sagen, dass dies ein hoffnungsloser Fall sei, fand Beatrice dann doch sehr gewagt.
»Sie fragen, ob du den Mann behandeln willst«, übersetzte Tolui.
»Ich werde mein Bestes tun. Sie sollen ihn mit erhöhtem Oberkörper lagern, damit er besser atmen kann«, befahl sie. Hinter ihr spuckte Lo Han Chen Gift und Galle, aber sie beachtete ihn nicht. Jetzt gab es Wichtigeres als die verletzte Eitelkeit des alten Chinesen. »Sind sie seine Angehörigen?«
Tolui schüttelte den Kopf und rollte rasch eine Decke zusammen, die er dem Kranken in den Rücken stopfte.
»Nein, seine Diener. Sein Name ist Jiang Wu Sun.«
»Jiang Wu Sun, hören Sie mich?«
Beatrice schrie den Mann fast an, doch er war zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, seine Lungen mit Luft zu füllen, um auf sie zu achten.
»Frag die Diener, was passiert ist«, sagte sie und begann gleichzeitig die Schnüre an der Kleidung zu öffnen. Die Männer wollten dagegen protestieren, doch wenige scharfe Worte von Tolui reichten aus, um sie einzuschüchtern. Die Diener wichen ein paar Schritte zurück. Trotzdem fühlte Beatrice ihre misstrauischen Blicke, die jeden Handgriff genau verfolgten, während sie Jiang Wu Suns Körper nach Verletzungen abtastete.
Der Mann war höchstens dreißig Jahre alt und hatte die Statur eines Sumo-Ringers. Eine Erkrankung als Ursache für diese Fettleibigkeit konnte Beatrice natürlich nicht ausschließen, doch sie hielt es für unwahrscheinlich. Seiner Kleidung nach zu urteilen war er Beamter am kaiserlichen Hof – eine Berufsgruppe, die sich ein ausschweifendes Leben leisten konnte. Hatte der Mann einen Herzinfarkt erlitten? Oder vielleicht eine Blutdruckkrise oder einen Schlaganfall? Natürlich war er noch viel zu jung dafür, aber bei dieser Fettleibigkeit war es zumindest nicht ausgeschlossen.
»Sie sagen, er ist plötzlich zusammengebrochen«, berichtete Tolui.
Beatrice legte ein Ohr auf die weiche Brust. Der Herzschlag war normal, aber etwas stimmte mit der Lunge nicht – die Atemgeräusche auf der linken Seite klangen seltsam.
»Was ist mit ihm?«, fragte Tolui.
»Mit seiner Lunge stimmt etwas nicht«, antwortete Beatrice und klopfte mit den Fingern den Brustkorb ab. Vielleicht klang es im Vergleich zur rechten Seite links ein bisschen sonorer, hohler, aber mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen. »Am ehesten hört es sich nach einem Pneumothorax an. Aber es kann ebenso gut eine Lungenentzündung oder ein Erguss sein. Bei diesen Untersuchungsbedingungen…« Sie schüttelte den Kopf. Der Mann röchelte, als würde jemand versuchen ihn zu erwürgen. Ein Königreich für ein Stethoskop!
»Wie ist das passiert? War einer von ihnen dabei?«
Tolui richtete die Frage an die sechs Männer, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, leider hat es keiner gesehen. Aber sie sagen, er hat plötzlich geschrien und gekeucht, er bekomme keine Luft mehr.«
Das macht mich auch nicht viel schlauer, dachte Beatrice. Irgendetwas verlegte die Atemwege dieses Mannes. Aber was? Hunderte von Möglichkeiten schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf.
»Ist ihr Herr vielleicht vorher gelaufen, oder hat er sich aufgeregt, hat er gegessen, oder war er im Garten? Ist es zum Beispiel möglich, dass er mit einem giftigen Insekt oder Reptil in Kontakt gekommen ist?«
Tolui übersetzte und schüttelte dann wieder den Kopf.
»Nein, nichts dergleichen. Was willst du jetzt tun?«
Die Frage ist, was ich überhaupt tun kann, dachte Beatrice und strich sich das Haar aus der Stirn. Verdammt, ich hasse solche Situationen.
Dem Mann ging es immer schlechter. Die Zeit lief ihr allmählich davon. Wenn sie nicht bald weiterkam, würde Lo Han Chen mit seiner Prognose doch noch recht behalten. Ihr Puls beschleunigte sich.
»Was hat er denn gerade gemacht, als das passiert ist? Wissen sie das wenigstens?«
Tolui übersetzte erneut.
»Ich glaube, sie wissen etwas, aber sie scheuen sich, es zu sagen.«
»War er vielleicht mit einer Frau zusammen? Hatte er Geschlechtsverkehr?« Beatrice wurde ungeduldig. War sie hier die Einzige, die begriff, dass der Mann in ernsthaften Schwierigkeiten steckte? »Tolui, mach ihnen klar, dass ihr Herr stirbt, wenn sie mir nicht auf der Stelle sagen, was passiert ist. Du kannst ihnen versichern, dass außer uns niemand davon erfährt. Da wo ich herkomme, nennt man so etwas Schweigepflicht. Daran sind in meiner Heimat alle Ärzte durch einen Eid gebunden.«
Tolui nickte und redete eindringlich auf die Männer ein. Und endlich, zögernd und mit verlegen gesenkten Blicken, begannen sie zu erzählen.
»Nun?«
»Er hat gerade seine Notdurft verrichtet«, erklärte Tolui und konnte sich ein Grinsen kaum noch verkneifen. Wenigstens hatte er so viel Anstand, nicht lauthals zu lachen. »Und nach dem zu urteilen, was sie gehört haben, hat er es wohl nicht sehr leicht gehabt.«
Natürlich, es war ein Pneumothorax, die Folge eines Lungenrisses, verursacht durch zu starkes Pressen. Es war genauso, wie sie anfangs vermutet hatte. Beatrice wollte gerade erleichtert aufatmen, weil sie sich nun endlich auf die Behandlung konzentrieren konnte, als sich genau in diesem Moment der Zustand des Patienten dramatisch verschlechterte. Die Gesichtsfarbe des Mannes wechselte von einer Sekunde zur nächsten von rot zu tödlicher Blässe, seine Lippen wurden blau, Schweißperlen traten auf seine Stirn, die Atemnot verstärkte sich, er wurde unruhig und versuchte aufzustehen, und die Venen an seinem fleischigen Hals füllten sich trotz des erhobenen Oberkörpers mit Blut, bis sie aussahen wie junge Schlangen, die sich unter seiner Haut ringelten.
»Haltet ihn zurück!«, rief sie Tolui zu und legte wieder ein Ohr auf den Brustkorb des Patienten. Der Herzschlag, der eben noch kräftig und regelmäßig gewesen war, war jetzt schnell und schwach. Und die Atemgeräusche – auf der linken Seite fehlten sie ganz. Wieder klopfte sie den Brustkorb ab. Und diesmal klang es links, als ob sie auf eine Pauke schlug.
»Verdammt, jetzt hat er einen Spannungspneu entwickelt!«, rief sie aus.
Das war eine unter Umständen tödliche Komplikation. »Beim Spannungspneumothorax geht es um Minuten!« Dieser Satz aus einem chirurgischen Lehrbuch stand jetzt in großen, flammenden Buchstaben vor ihren Augen. Zu Hause, auf der Notaufnahme, waren die erforderlichen Maßnahmen eine leichte Übung, Routinehandgriffe, die sie im Schlaf beherrschte: Drainage legen, Saugpumpe anschließen und dann hoch auf die Intensivstation in die Obhut der Anästhesisten… Die dafür benötigten Kanülen und Schläuche lagen in jedem Behandlungsraum griffbereit in einer der Schubladen. Aber hier, im chinesischen Mittelalter? Der Mann würde sterben, vor ihren Augen, direkt unter ihren Händen. Eine Vorstellung, vor der sie sich kaum weniger fürchtete als jeder andere Chirurg auf der ganzen Welt. Morte in tabulam. Ihr wurde plötzlich schlecht.
»Wie bitte? Was hast du gesagt?«, fragte Tolui und sah sie verständnislos an.
»Nichts. Es ist nur… ich muss schnell handeln, sonst stirbt er.« Ratlos fuhr sie sich durchs Haar. Womit konnte sie den Druck, der sich zunehmend im Brustkorb des Mannes aufbaute und mit jedem Atemzug Lunge und Herz stärker zusammenpresste, entlasten?
Lieber Gott, Allah, ich brauche eine Idee!, flehte sie und sah sich hastig um. Eine Idee, bitte!
Da fiel ihr Blick auf eines jener dünnen Bambusrohre, welche die Patienten als Strohhalme benutzten. Die Dinger waren erstaunlich hart, fast wie Stahlnadeln. Erst gestern hatte sie sich an einem von ihnen gestochen. Sie nahm sich das Bambusrohr. Eigentlich war es zu dick, es hatte ungefähr den Durchmesser eines Bleistifts, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Außerdem hatte sie keine Zeit mehr, wählerisch zu sein. »Tolui, hast du ein Messer?«
»Ja, aber…«
»Frag nicht. Schneide das Ende so spitz zu, wie möglich. Und beeil dich.«
Tolui stellte keine Fragen mehr. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, den Bambusstab mit seinem scharfen Jagdmesser so zurechtzuschnitzen, wie Beatrice gesagt hatte. Als er endlich fertig war, riss sie ihm das Bambusröhrchen fast aus der Hand. Jiang Wu Sun ging es mittlerweile so schlecht, dass er kurz davor war zu kollabieren. Dazu durfte es nicht kommen. Einer manifesten Kreislaufinsuffizienz mit drohendem Herzversagen würde sie hier machtlos gegenüberstehen.
»Besorg mir ein Stück Leder oder eine Schweinsblase oder etwas Ähnliches. Und Nadel und Faden!«, befahl sie Tolui, während sie den Brustkorb des Mannes abtastete, um die geeignete Stelle zu finden.
»Zweiter Intercostalraum, Medioclavikularlinie«, murmelte Beatrice immer wieder wie ein Mantra vor sich hin, als könnte es ihr bei der Suche nach den Rippen unter der dicken Fettschicht helfen. Tolui gab ihre Anweisung an einen der Diener weiter und blieb bei ihr. Die Diener drängten sich um sie, und die Patienten reckten ihre Hälse. Nur am Rande registrierte Beatrice, dass auch Lo Han Chen und sein Kollege näher gekommen waren und ihnen über die Schulter sahen.
Offensichtlich wollte keiner in der Halle der Morgenröte diese spektakuläre Show versäumen.
Endlich hatte Beatrice gefunden, was sie suchte – den Zwischenraum zwischen der zweiten und der dritten Rippe. Sie nahm das Bambusrohr. Tolui hatte gute Arbeit geleistet, es war fast ebenso scharf und spitz wie eine Kanüle. Fast. Sie konnte nur hoffen, dass es ausreichen würde. Beatrice holte tief Luft – und stach zu.
Im selben Augenblick schrien die Diener vor Schreck auf und sprangen zurück. Lo Han Chen rief nach den Wachen. Die Patienten, die ja zum größten Teil nicht wussten, worum es ging, schrien durcheinander und wimmerten. Bettgestelle wurden hin und her geschoben, und jeder, der noch einigermaßen dazu in der Lage war, versuchte aufzustehen und fortzulaufen. Es war ein Tumult, wie ihn die Halle der Morgenröte vermutlich noch nie gesehen hatte, höchstens bei einem Erdbeben.
Doch Beatrice hörte dies alles nur von Weitem. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf ein einziges Geräusch – ein leises Zischen, als die angesammelte Luft durch das Bambusrohr aus dem Brustkorb des Mannes entwich. In diesem Augenblick kam der Diener, den Tolui weggeschickt hatte, zurück. Rasch nahm Tolui dem verwirrt um sich blickenden Mann alles aus der Hand und reichte es an Beatrice weiter.
Unter den verschiedenen Lederstücken befand sich auch eine Schweinsblase. Sie war klein, vermutlich stammte sie von einem jungen Tier. Beatrice nahm sie, ließ sich Toluis Messer geben, kürzte die Blase nochmals um zwei Drittel und schnitt ein Loch hinein. Dann band sie die Blase so fest sie konnte an das Bambusrohr. Sie hatte ein Ventil gebastelt, das verhindern sollte, dass sich mit jedem Atemzug der erhöhte Druck im Brustkorb erneut aufbaute. Erleichtert sah sie zu, wie sich die Halsvenen langsam entleerten und die blaue Färbung der Lippen nachließ. Die Krise war überstanden. Jiang Wu Sun wurde ruhiger. Er schlug die Augen auf und sah sie dankbar an.
»Es ist ein Wunder. Du hast ihm das Leben gerettet«, stellte Tolui fest und beobachtete fasziniert, wie sich die Schweinsblase mit Luft füllte, wenn der Mann einatmete, und beim Ausatmen wieder in sich zusammenfiel.
Doch Beatrice schüttelte den Kopf, auch wenn es wehtat, der grenzenlosen Begeisterung des jungen Mongolen einen Dämpfer zu verpassen.
»Nein, du irrst dich, Tolui. Meine Maßnahme hat lediglich die akute Lebensgefahr abgewendet. Er ist noch lange nicht ›über den Berg‹, wie wir in meiner Heimat sagen. Allerdings haben wir Zeit gewonnen, Zeit, in der wir uns überlegen können, auf welche Weise er behandelt werden kann.« Sie erhob sich. Jetzt, da die Wirkung der Stresshormone nachließ, spürte sie, wie müde und erschöpft sie war. Ein Phänomen, das wohl jeder Arzt, der mit Notfällen zu tun hatte, kannte. »Tolui, bleib bitte bei ihm. Beobachte ihn und sorge dafür, dass er mit erhöhtem Oberkörper liegen bleibt. Ich komme gleich wieder, ich möchte nur einen Augenblick in den Garten gehen. Hol mich, falls sich sein Zustand in der Zwischenzeit verschlechtern sollte.«
Die Diener und Patienten machten ihr respektvoll Platz. Sie starrten sie an, als wäre sie eine wundertätige Märchenfee. Der junge Arzt, der heute mit Lo Han Chen die Patienten in der Halle der Morgenröte behandelte, sah sie voller Bewunderung an und verneigte sich sogar vor ihr. Nur Lo Han Chen schien anderer Ansicht zu sein. In seinen Augen flackerte offener Hass.
Müde und erschöpft schleppte sich Beatrice in den Garten, der sich im Innenhof des Hauses der Heilung befand. Erst hier wurden ihr die riesigen Ausmaße des Hauses bewusst, denn der Innenhof war schätzungsweise mehrere hundert Quadratmeter groß. Überrascht von der überwältigenden Schönheit, blieb sie am wundervoll geschwungenen Tor stehen. Dieser Garten war ein Paradies; ein Paradies, das ein Sterblicher sicher nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen betreten durfte. Der Garten zog sie magisch an, und weit und breit waren keine Wächter zu sehen. Also ging sie einfach selbstbewusst durch das Tor, als hätte der Kaiser höchstpersönlich ihr die Erlaubnis dafür erteilt.
Langsam und bedächtig schlenderte sie die mit Rindenmulch ausgestreuten Wege entlang und betrachtete alles um sie herum voller Erstaunen.
Es gab sorgfältig ausgewählte Felsen aus dunkelgrauem Granit, auf denen Moospolster und beschnittene Krüppelkiefern wuchsen. Kleine Bäche plätscherten über helle Kiesel und sammelten sich in zwei klaren Seen, in denen Goldfische und Wasserschildkröten schwammen. Überall im Innenhof verteilt standen wunderschöne braun, rot, grün und blau glasierte Schalen. In ihnen wuchsen Bäume, sowohl Nadel- als auch Laubbäume, die Beatrice an Bonsais erinnerten. Allerdings waren sie größer und ihre Formen urwüchsiger als die der japanischen Zwergbäume. Beatrice erinnerte sich an die drei Bonsais, die Markus besessen hatte. Es waren seltene Kostbarkeiten, Geschenke von japanischen Geschäftsfreunden, deren Erde er ebenso sorgfältig gefegt und von jedem Stäubchen befreit hatte, wie er seine Schuhe zu putzen pflegte. Immer wieder hatte er versucht, ihr die Philosophie zu erklären, die hinter den Bonsais stand. Trotzdem war ihr jedes Mal ein Schauer über den Rücken gelaufen, wenn er den kleinen Bäumen mit Bindedraht und Schere zu Leibe gerückt war, um sie in die vom Zen vorgeschriebenen Formen zu bringen. Es kam ihr vor wie eine Vergewaltigung. Wenn hier jedoch ein Mensch seine Hand im Spiel gehabt hatte, so war er wesentlich behutsamer vorgegangen. Diesen Bäumen war keine künstliche Form anzumerken. Es machte den Eindruck, als hätte die Natur sie genauso gewollt, wie sie waren.
Von einer der auf den Innenhof zulaufenden Regenrinnen hing ein Klangspiel aus Metallstäben herab. Es bewegte sich leicht im Wind und erzeugte leise, wohlklingende Töne. Am liebsten hätte Beatrice sofort auf einem der Meditationsschemel Platz genommen, die überall neben den Felsen standen. Der weiche Boden federte unter ihren Füßen, und bei jedem Schritt stieg der Duft von feuchter, gesunder Erde auf. Wenn dies der Garten war, in dem Maffeo an ihrem ersten Tag im Haus der Heilung auf sie gewartet hatte, so war es kein Wunder, dass er hinterher so erholt ausgesehen hatte. Die heilenden Kräfte konnte sogar sie spüren, trotz aller Skepsis, mit der sie derartigen esoterischen Phänomenen stets begegnete. Mit jedem Schritt fühlte sie sich ruhiger, mit jeder Pflanze, die sie berührte, fühlte sie sich lebendiger, mit jedem Felsen, den sie sah, fühlte sie sich stärker. Es war einfach unglaublich. Schon nach kurzer Zeit hörte Beatrice auf, über die Wirkung, die der Garten auf sie ausübte, nachzudenken oder sie gar infrage zu stellen. Und nachdem sie den Garten einmal durchwandert hatte, dachte sie an gar nichts mehr. Wenn der Satz »Ich denke, also bin ich« auch in seiner Verneinung stimmte, so hörte sie in diesem Augenblick auf zu existieren.
Beatrice war so in sich und ihre Umgebung versunken, dass sie Tolui nicht bemerkte, bis er direkt neben ihr stand.
»Beatrice?«
Seine Stimme klang so leise und sanft, wie sie es einem Mongolen niemals zugetraut hätte. Vielleicht übte der Garten auch auf ihn seine unwiderstehliche und verzaubernde Wirkung aus.
»Ist etwas passiert? Geht es dem Mann wieder schlechter?«, fragte sie, und sofort schossen ihr Hunderte unangenehmer Komplikationen durch den Kopf. Trotzdem blieb sie dabei erstaunlich gelassen. Was auch geschehen war, es würde sich ein Weg finden, dem zu begegnen.
Sicher eine Wirkung dieses Gartens, dachte sie und nahm sich vor, so bald wie möglich mit Maffeo darüber zu sprechen. Der alte Venezianer kannte sich recht gut aus in der chinesischen Philosophie und im Buddhismus. Vielleicht konnte er ihr erklären, ob dieses Phänomen reiner Zufall war oder ob eine Absicht dahinter stand.
»Nein«, antwortete Tolui. »Jiang Wu Sun geht es gut. Er ist bei Bewusstsein und sogar bereits wieder in der Lage, seinen Dienern Befehle zu erteilen. Er bat mich nur, dich zu fragen, ob es ihm erlaubt ist, etwas Wasser zu sich zu nehmen. Seine Kehle sei so trocken und rau wie altes gegerbtes Leder.«
Beatrice lächelte erleichtert. Eine zentnerschwere Last fiel ihr vom Herzen.
»Ja, natürlich. Es spricht nichts dagegen«, sagte sie. »Aber warum kommst du selbst? Mit dieser Frage hättest du auch einen der Diener zu mir schicken können.«
Tolui senkte verlegen den Blick, und ein zartes Rot färbte die Wangen des jungen Mannes.
»Verzeih mir. Ich weiß, du hast mich gebeten, bei Jiang Wu Sun zu bleiben. Aber es geht ihm wirklich gut, einer der Diener passt auf ihn auf, und ich…« Er sah sie an. Seine hellen Augen glühten förmlich vor Begeisterung, sein hübsches Gesicht strahlte. Und plötzlich ähnelte er auf verblüffende Weise seinem Onkel Dschinkim. »Ich habe so viele Fragen. Ich verstehe nicht, was du getan hast, und schon gar nicht, weshalb du es getan hast. Ich sehe nur, dass ein Mann, der noch vor wenigen Augenblicken dem Tode geweiht war, jetzt auf seinem Lager sitzt und seine Diener wieder herumscheucht, als wäre nichts gewesen. Und das, obwohl Lo Han Chen, der weiseste der Ärzte in meines Vaters Reich, keine Hoffnung mehr für ihn gesehen hat. Bitte, Beatrice, erklär es mir. Warum zum Beispiel…«
Der Eifer des jungen Mongolen war wirklich rührend.
»Später, Tolui. Zuerst müssen wir uns um den Kranken kümmern. Das hat Vorrang.«
Vor allem aber bin ich viel zu müde, um all deine Fragen zu beantworten, fügte sie in Gedanken hinzu.
Tolui war ein hochintelligenter, wissbegieriger junger Mann. Wäre er ein Student im 21. Jahrhundert, er würde ohne Zweifel zu den Besten seines Jahrgangs gehören. Aber gerade deshalb waren seine Fragen auch so anstrengend. Er war zu klug, um sich mit einer lapidaren Antwort zufrieden zu geben. Und für Diskussionen und ausführliche Erklärungen fehlte ihr jetzt einfach die Kraft.
»Gut, das verstehe ich«, sagte Tolui. »Weißt du bereits, wie du Jiang Wu Sun behandeln wirst?«
»Es gibt viele Möglichkeiten, aber ich habe noch keine Entscheidung getroffen«, antwortete sie. »Da ist vieles zu bedenken.«
Schon im nächsten Augenblick schämte sie sich. Diese Worte kamen ihr so glatt und leicht über die Lippen. Es war die allseits unter Ärzten übliche Floskel, mit der man Patienten und Angehörige beruhigen, Kollegen vertrösten und Chefs besänftigen konnte. Im Stationsalltag wendete man sie tagtäglich an, verschaffte sich dadurch mehr Zeit und vermied lästige Fragereien. Trotzdem, so harmlos sie auch sein mochte, es blieb immer noch eine Lüge. Und das war eigentlich nicht notwendig – und schon gar nicht fair. Als sie vor mehr als zehn Jahren begonnen hatte, Medizin zu studieren, hatte sie sich da nicht geschworen, nicht so zu werden wie die anderen Ärzte und ihren Patienten immer die Wahrheit zu sagen? Wo waren sie geblieben, diese hehren Vorsätze? Sie waren nichts als Staub unter der Hobelbank des Berufslebens, weggeschliffen mit jedem Tag, an dem sie als Ärztin arbeitete. Vielleicht konnte es sie trösten, dass es allen Kollegen ebenso erging, egal, in welchem Bereich der Medizin sie tätig waren.
Und dass die wenigsten es überhaupt jemals bemerkten. Aber es blieb nur ein schwacher Trost.
»Lass uns in die Halle der Morgenröte zurückkehren, Tolui«, sagte sie und gelobte im Stillen Besserung – ab morgen. »Ich möchte mich selbst davon überzeugen, wie es Jiang Wu Sun geht.«