Maffeo starb nicht. Bereits im Laufe der Nacht, kurz nachdem Beatrice ihn ins Bett gebracht hatte, begann er, sich zu erholen. Das Fieber sank, sein Schlaf wurde ruhiger, er atmete langsamer und gleichmäßiger. Die Krise war überstanden, der Kohlebrei und die Wadenwickel schienen zu wirken.
Beatrice war überrascht, als die alte Ming kurz vor Sonnenaufgang in ihr Zimmer kam. Wahrscheinlich war sie auf der Suche nach Maffeo, der sich ja nicht in seinen eigenen Gemächern aufhielt.
Die Mundwinkel der alten Chinesin zogen sich sofort missbilligend nach unten, als sie Beatrice in ihren Kleidern vom Vortag auf dem Stuhl sitzen und Maffeo in ihrem Bett liegen sah. Doch Beatrice legte ihren Zeigefinger auf die Lippen, bevor Ming auch nur ein Wort sagen konnte.
»Du darfst ihn nicht wecken. Er schläft. Er ist sehr erschöpft und soll ruhig noch ein paar Stunden schlafen.«
»Erschöpft? Das glaube ich gerne«, erwiderte Ming leise und voller Verachtung. »Männer sind schwach. In seinem Alter hätte er sich nicht mit einer jungen Frau einlassen sollen.«
Beatrice brauchte eine Weile, bis sie verstand, was Ming damit sagen wollte. Als sie es jedoch begriff, war sie so angewidert und entsetzt, dass es ihr erst einmal die Sprache verschlug. Wie konnte ein Mensch nur so eine schmutzige Fantasie haben?
»Glaube, was du glauben willst«, flüsterte sie schließlich. »Maffeo ist schwer krank. Er ist dem Tod heute Nacht gerade mal eben von der Schippe gesprungen, wie wir in meiner Heimat sagen. Es stünde dir gut zu Gesicht, ein bisschen mehr Mitgefühl zu zeigen. Immerhin ist Maffeo dein Herr.«
Ming wollte gerade etwas entgegnen, als sich die Tür öffnete und Dschinkim den Raum betrat. Hastig verneigte sich die alte Chinesin vor dem Bruder des Kaisers und hielt ihren Mund. Doch Beatrice war sicher, dass sie keine Reue empfand. Ming gehörte zu den Menschen, die niemals einen Irrtum begehen – das war wenigstens ihre Sicht der Dinge.
Dschinkims Blick glitt achtlos über die Dienerin hinweg, streifte das Bett, blieb einen Moment lang überrascht auf Maffeo haften und wandte sich dann Beatrice zu. Ob er Mings schmutzige Gedanken teilte, war nicht zu erkennen. Doch sein Gesicht, das vor wenigen Augenblicken noch freundlich und beinahe fröhlich ausgesehen hatte, war nun mit einem Mal wieder kühl und abweisend.
»Beatrice, Frau aus dem Norden des Abendlandes, der große und mächtige Khubilai Khan wünscht dich zu sehen.«
»Gut, sobald ich…«
Doch weiter kam Beatrice nicht.
»Du hast mich wohl nicht richtig verstanden, Weib!«, unterbrach Dschinkim sie spöttisch. »Der große Khan wünscht dich sofort zu sprechen.«
»Jetzt?«
»Ja, genau. Jetzt.«
Beatrice starrte Dschinkim entgeistert an. Dann warf sie einen verzweifelten Blick zu Maffeo. Konnte sie ihn sich selbst überlassen? Das war unter Umständen gefährlich. Wenn er einen Rückfall bekam…
»Ming, schicke jemanden zu Li Mu Bai. Er soll im Haus der Heilung alles stehen und liegen lassen und sofort hierher kommen. Bis dahin bleibst du bei Maffeo. Aber wehe, du weckst ihn auf. Dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass du für den Rest deines Lebens nur noch die Kohlenfeuer hütest!«
Ming verneigte sich kurz. Die Alte konnte ihren Zorn kaum verbergen. Aber es hatte den Anschein, als ob sie Beatrices Drohung ernst nahm.
»Komm endlich. Der Khan ist nicht sehr geduldig.«
Beatrice und Dschinkim verließen das Zimmer. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Es war ein unangenehmes Schweigen. Keiner sah den anderen an. Eine unausgesprochene Frage hing zwischen ihnen wie eine galleartige, klebrige Masse, die Beatrice langsam zu ersticken drohte.
Ich sollte mit Dschinkim reden, dachte sie. Je eher, desto besser. Wenn jemand hier im Palast ihr Glauben schenken würde, dass Maffeo vergiftet worden war, dann Dschinkim. Er würde wissen, wer als Täter infrage kam und was als Nächstes zu tun war. Ganz abgesehen davon hatte sie den dringenden Wunsch, ihm zu erklären, weshalb Maffeo die Nacht in ihrem Bett verbracht hatte. Aber das mochte sie nicht einmal sich selbst eingestehen.
»Dschinkim, ich muss dir etwas sagen. Maffeo…«
Doch er brachte sie mit einer ungeduldigen Geste zum Schweigen. »Nein. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig«, sagte er. »Weder du noch Maffeo.«
Seine Stimme klang seltsam heiser, schroff und sogar ein wenig enttäuscht. Aber das Merkwürdigste war, dass es Beatrice leid tat und sie ein schlechtes Gewissen bekam. Am liebsten hätte sie sich bei ihm entschuldigt und ihn um Verzeihung gebeten, auch wenn sie nicht genau wusste, wofür.
»Ich kann mir vorstellen, was du denkst. Trotzdem solltest du keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern mir zuhören.« Sie versuchte, ihre Tranen hinunterzuschlucken. Er brauchte sie nicht zu sehen. »Maffeo wurde vergiftet. Und es scheint, als wäre es mir gerade noch gelungen, ihn zu retten.«
Dschinkim fuhr herum und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.
»Vergiftet?«
»Ja. Li Mu Bai hatte bereits die Vermutung. Aber da er nicht herausfinden konnte, um welches Gift es sich handelte, hat er Maffeo zu mir geschickt.« Beatrice seufzte. »Zum Glück hat Maffeo Li Mu Bais Rat unverzüglich befolgt, und ist noch gestern Abend in mein Zimmer gekommen. Er litt bereits unter hohem Fieber und Wahnvorstellungen. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn er noch bis heute früh gewartet hätte. Wahrscheinlich wäre dann jede Hilfe zu spät gekommen.«
Dschinkim schwieg, während sie weitergingen, als hätten sie sich über nichts Wichtigeres als das Wetter unterhalten. Anscheinend musste er diese Nachricht erst einmal verkraften.
»Ich will alles wissen, was du weißt«, sagte er nach einer Weile. »Aber nicht jetzt. Lass uns später darüber reden. Mein Bruder muss nichts davon erfahren. Wenigstens jetzt noch nicht.« Er seufzte. »Es ist gut, dass du es mir gesagt hast.«
Er sah Beatrice an. Doch neben den Sorgenfalten, die sich auf seiner Stirn bildeten, war da ein tiefes, warmes Feuer, das seine grünen Augen zum Leuchten brachte. Es hatte beinahe den Anschein, als wäre trotz der Hiobsbotschaft eine schwere Last von seiner Seele genommen worden.
Als sie Khubilais Gemächer erreichten, war Beatrice bereits neugierig darauf, wie sich die Wachen Dschinkim gegenüber verhalten würden. Sie erinnerte sich noch gut an die umständliche Prozedur, die sie in Shangdou über sich ergehen lassen musste, als sie mit Maffeo den großen Khan besucht hatte. Das Einzige, was gefehlt hatte, war die gründliche Leibesvisitation. Aber diesmal ging alles wie von selbst. Kaum dass sie in das Blickfeld der Wachen traten, nahmen die beiden Mongolen auch schon ihre Krummsäbel in die Hand und berührten mit der Klinge zu Dschinkims Ehren ihre Stirn. Ohne ein weiteres Wort, den Blick starr geradeaus gerichtet, ließen sie den Thronfolger und Beatrice an sich vorbei.
»Und vergiss nicht«, sagte Dschinkim, als sie kurz darauf vor Khubilais Tür standen, »kein Wort über Maffeo und das Gift. Das bleibt vorerst unter uns.«
Beatrice nickte. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Sie folgte Dschinkim in das Zimmer des Khans und fühlte sich dabei wie eine zweite Mata Hari, mitten in einem Gewirr von Politik, Macht und Intrigen.
Der Khan musste sie bereits sehnsüchtig erwartet haben, denn kaum hatten sie den Raum betreten, als er ihnen auch schon entgegenkam, dicht gefolgt von Tolui. Der junge Mann hatte hochrote Wangen, und seine Augen leuchteten erwartungsfroh.
»Willkommen, Dschinkim, mein geliebter Bruder. Meine Jurte sei auch deine«, begrüßte Khubilai Dschinkim, umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen.
»Ich danke dir für deine Gastfreundschaft, Khubilai, mein Bruder und Gebieter. Mögen die Götter dir ein langes, glückliches Leben und zahlreiche gesunde Nachkommen schenken«, erwiderte Dschinkim. Und obgleich das nach einer der üblichen mongolischen Begrüßungsfloskeln klang, machte es den Eindruck, als ob sowohl Khubilai als auch sein Bruder ihre Worte ernst meinen würden.
Dann wandte sich der Khan an Beatrice. »Sei auch du in meiner Jurte willkommen, Beatrice, Frau aus dem Norden des Abendlandes«, sagte er und legte ihr väterlich eine Hand auf die Schulter.
Erst jetzt war Tolui an der Reihe. Er nannte Dschinkim »geliebten und geehrten Onkel«, verneigte sich vor ihm, nahm dessen linke Hand und führte sie an seine eigene Stirn. Dschinkim legte seinem Neffen die rechte Hand auf den Kopf. Dabei wurde sein Gesicht weich, fast zärtlich. Es bestand kein Zweifel daran, dass Dschinkim seinen Neffen fest ins Herz geschlossen hatte. Und als sich Tolui nun wieder aufrichtete und sich die beiden Männer einen kurzen Augenblick lang gegenüberstanden, fiel Beatrice auf, wie ähnlich sie einander tatsächlich waren. Sie hatten die gleichen grünen leuchtenden Augen, die gleiche stolze Haltung, das gleiche wohlgestaltete Profil. Die Ähnlichkeit war so groß, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, Tolui sei in Wirklichkeit nicht Khubilais, sondern Dschinkims Sohn.
»Ich danke euch, dass ihr meine Bitte so rasch erfüllt habt und zu dieser ungewöhnlichen und frühen Stunde zu mir geeilt seid«, sagte Khubilai und beendete damit die Begrüßungszeremonie. »Aber setzt euch, macht es euch bequem.«
Er nahm auf einem niedrigen sesselähnlichen, mit Fellen bedeckten Holzgestell Platz und deutete auf zwei weitere, die ihm gegenüberstanden. Tolui setzte sich neben ihn und warf etwas, das wie ein ungewöhnlich helles Kohlenstück aussah, in die offene Feuerstelle.
Vorsichtig ließ Beatrice sich auf dem niedrigen Sitzmöbel nieder. Nur zögernd lehnte sie sich zurück in der Erwartung, gleich hintenüber zu fallen. Aber zu ihrer großen Überraschung hielt das Gestell der Belastung nicht nur stand, sondern war sogar überaus bequem, obwohl sie praktisch direkt auf dem Boden saß. Sie fragte sich nur jetzt schon, wie sie je wieder ohne Hilfe aufstehen sollte.
Während die Männer eine Weile Höflichkeiten austauschten und über die Chancen einer Jagd in der nahen Umgebung Taitus plauderten, sah Beatrice sich in dem Zimmer um. Es war ein wirklich ungewöhnlicher Raum. Er war kreisrund, und genau in der Mitte, direkt über der Feuerstelle, gab es eine Öffnung, durch die man den Himmel sehen konnte. Natürlich war dieser Raum ebenso aus Holz und Stein gebaut wie alle anderen im Palast. Trotzdem hatte man den Eindruck, mitten in einem Zelt zu sitzen, einem Zelt, wie sie es auf ihrer Reise nach Taitu benutzt hatten. Allerdings war es viel luxuriöser und behaglicher ausgestattet als die schlichten Reisezelte. Felle, Häute und bunt gewebte Stoffe lagen auf dem Boden, verkleideten die Wände und die Decke und sorgten so für eine beinahe gemütliche Atmosphäre. An einigen sichtbaren, zur Mitte des Raums hin zusammenlaufenden Holzbalken hingen Köcher mit Pfeilen, Bogen, Kräuterbündel, Töpfe und andere Gerätschaften. Die Feuerstelle spendete wohlige Wärme, es duftete nach Gras, wilden Kräutern und Leder.
So leben die Mongolen also wirklich, dachte Beatrice. Man kann beinahe vergessen, dass man sich im kaiserlichen Palast befindet.
Hier gab es nichts Überflüssiges, keinen unnötigen Zierrat. Jeder einzelne Gegenstand hatte eine Funktion, eine Aufgabe. Und trotzdem waren sie alle so schön und liebevoll gearbeitet, dass sie auch gleichzeitig als Schmuck dienten. Beatrice konnte sich gut vorstellen, dass sich alles innerhalb kürzester Zeit zusammenpacken und auf einem Pferderücken weitertransportieren ließ. Da kam Beatrice ein interessanter Gedanke: Ob es Khubilai wohl schwer fiel, »sesshaft« zu sein und sich tagaus, tagein mit dem Prunk und den langatmigen, komplizierten Protokollen und Ritualen des kaiserlichen Palastes zu umgeben? Wenn nicht, weshalb hätte er sich sonst einen Raum eingerichtet, der ihn an das Leben in der Steppe erinnerte? Mongolen waren Nomaden. Vielleicht war es auch Khubilai im Innersten seines Herzens geblieben. Vielleicht hatte er nie die Sehnsucht nach dem Leben auf dem Pferderücken verloren. Aber wenn das so war, was hatte ihn dazu getrieben, dieses riesige, unüberschaubare Reich zu gründen, sich mit Regierungsaufgaben zu belasten und eine Stadt wie Taitu zu errichten? Warum zog er nicht einfach mit seinen Pferden davon und lebte so wie Generationen von Mongolen vor ihm?
Beatrice merkte, dass das Gespräch der Männer verstummt war. Friedlich saßen sie einander gegenüber und starrten in das Feuer. Trotzdem lag eine gewisse Spannung in der Luft. Tolui knetete seine Hände und scharrte ungeduldig mit den Füßen. Er warf seinem Vater immer wieder erwartungsvolle, auffordernde Blicke zu, und endlich schien Khubilai die stummen Bitten seines Sohns zu erhören.
»Ich danke euch nochmals, dass ihr meiner Bitte gefolgt und zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu mir geeilt seid«, begann Khubilai. »Nun, nachdem wir einander unsere Freundschaft und unsere guten Absichten versichert haben, können wir über das sprechen, weshalb ich euch zu mir gebeten habe.«
Es klang so feierlich und ernst, dass Beatrice sich automatisch gerade aufsetzte.
»Worum es auch gehen mag, mein Herr und Gebieter, mein Bruder, ich werde deinen Wunsch in mein Herz aufnehmen und – so die Götter mir die Möglichkeit geben – erfüllen«, erwiderte Dschinkim, legte seine rechte Hand auf seine Brust und verneigte sich.
»Ich danke dir, Dschinkim, mein Bruder, für deine Worte und deine Treue«, sagte Khubilai. »Doch heute steht es nicht in deiner Macht, meine Bitte zu erfüllen. Heute ist es Beatrice, Frau aus dem Norden des Abendlandes, an die ich meine Bitte richten möchte.«
Beatrice erschrak. Was konnte der Khan von ihr wollen?
»Die Erfolge deiner Arbeit im Haus der Heilung sind mir zu Ohren gekommen. Deine Heilkunst sei erstaunlich, so hat man mir berichtet. Du warst sogar in der Lage, einem Mann das Leben neu zu schenken, den die Chinesen bereits aufgegeben hatten.« Beatrice warf Tolui einen Blick zu. Der starrte auf seine Hände, und sein Gesicht glühte. Kein Zweifel, er hatte Khubilai von Jiang Wu Sun erzählt. Aber was wollte der Khan nun von ihr? Sollte sie an dem nächsten Kriegszug teilnehmen, um seine Soldaten zu versorgen? »Du solltest den Göttern dankbar sein. Du besitzt eine große Gabe.«
Beatrice spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete.
»Das ist… nun ja… ich meine…« Was sollte sie sagen? Ihr fiel nichts Gescheites ein. »Das war wirklich nichts Besonderes. Jeder andere an meiner Stelle hätte das auch getan.«
Außerdem hatte ich sehr viel Glück, fügte sie in Gedanken hinzu. Hätte sich der Lungenriss nicht von selbst wieder geschlossen, dann hätte ich den Pneu wahrscheinlich nicht in den Griff gekriegt. Und wir säßen jetzt nicht hier und würden über medizinische Erfolge reden.
Khubilai hob eine Augenbraue. »Wirklich? Das hätte jeder andere auch getan? Dann musst du in einem von den Göttern gesegneten Land geboren worden sein, Beatrice, denn hier in meinem Reich hat noch niemand vollbracht, was dir anscheinend mühelos gelungen ist.« Er lächelte freundlich. »Deine Bescheidenheit ehrt dich. Doch alles, was dem Wohlergehen meiner Untertanen förderlich ist, dient letztlich auch mir. Wer einem einzigen meiner Untertanen das Leben rettet, rettet dieses Reich.«
Wer einem einzigen Menschen das Leben rettet, rettet die Welt. So muss es heißen, dachte Beatrice.
Vermutlich hatte Khubilai dieses alte Sprichwort aus dem Talmud von einem der jüdischen Händler aufgeschnappt, von denen auch einige an seinem Hof lebten, und es sehr frei und nicht gerade bescheiden für sich interpretiert. Allerdings wäre ein Mann, der nicht seine eigene Person als Angelpunkt des Universums ansah, wohl kaum in der Lage gewesen, ein derart großes Reich zu regieren.
»Wie du siehst«, fuhr Khubilai fort, »schulde ich, der Khan, Herrscher über das Reich der Chinesen und Mongolen, dir Dank für die Errettung des Lebens von Jiang Wu Sun, Oberster Schreiber und Chronist an meinem Hof.«
» Beatrice, bitte, du weißt, dass ich…«, begann Tolui, doch der Khan fiel ihm ins Wort.
»Schweig, mein Sohn.«
»Aber Vater, ich wollte doch nur…«
»Ich weiß. Dennoch wartest du, bis dir die Erlaubnis zu sprechen erteilt wird, so wie es sich seit alters her gehört. Dies ist ein Gespräch unter Erwachsenen.« Streng sah Khubilai seinen Sohn an. Und Tolui schwieg. Allerdings merkte man ihm deutlich an, wie schwer es ihm fiel. »Verzeih ihm sein jugendliches Temperament, Beatrice, doch Tolui war von dem, was er gestern erleben durfte, so begeistert, dass er es kaum noch erwarten kann, seinen Wunsch zu äußern. Und so sehr ich auch seine Ungeduld verstehen kann, er wird noch etwas warten müssen.« Khubilai lächelte Beatrice wieder an. »Bevor wir über Tolui und seinen Wunsch reden, möchte ich dir eine Frage stellen. Das, was du gestern an dem Schreiber Jiang Wu Sun getan hast, war das Bestandteil der Heilkunde, wie du sie in deiner Heimat gelernt hast, oder handelte es sich um eine Eingebung, die du allein der Gnade der Götter verdankst?«
»Nein. Ich habe es in meiner Heimat gelernt«, antwortete Beatrice und fragte sich, worauf der Khan eigentlich hinauswollte. Wenn sie Tolui ansah, hatte sie eine vage Ahnung, um was es hier gehen könnte.
Khubilai lächelte breit, und irgendwie hatte Beatrice den Verdacht, dass er bereits jetzt davon ausging, dass sie ihm seine Bitte gewähren würde.
»Wenn das so ist, dann frage ich dich jetzt – gemäß dem Wunsch meines Sohnes Tolui: Wärst du bereit, Tolui als deinen Schüler in die Lehre zu nehmen, sein Meister zu werden und ihm deine Heilkunst und dein Wissen zu vermitteln?«
Obwohl Beatrice etwas in der Art erwartet hatte, war sie doch überrascht, als sie es mit eigenen Ohren hörte. Den Sohn des Khans zu unterrichten war eine große Ehre. Zu groß für eine Fremde wie sie. Gleichzeitig war es nicht ungefährlich. Denn sollte Tolui jemals versagen, würde nicht der Prinz zur Rechenschaft gezogen werden, sondern sie, seine Lehrerin. Dennoch fiel es ihr nicht ein, diese Bitte abzulehnen. Natürlich kam es einem Sakrileg gleich, dem Khan einen Wunsch abzuschlagen. Aber vor allem lag es an Tolui. Der Junge sah sie so voller Hoffnung, Ehrfurcht und Begeisterung an, dass sie nicht anders konnte als zuzustimmen.
»Gerne nehme ich Tolui als meinen Schüler an«, sagte sie. »Es wäre mir eine große Ehre.«
Tolui strahlte über das ganze Gesicht. Er machte den Eindruck, als würde er am liebsten aufspringen und alle, seinen Vater, seinen Onkel, Beatrice und die ganze Welt außerhalb des Palastes dazu, umarmen.
»Deine Zustimmung freut mein Herz – als Khan und noch mehr als Vater«, erwiderte Khubilai. »Nun, was hast du dazu zu sagen, mein Sohn?«
»Danke! Vielen Dank, ich…« Tolui stotterte fast vor Aufregung. »Ich habe es so herbeigesehnt, dass ich nun nicht weiß, was ich sagen soll.«
Beatrice war gerührt. In seiner grenzenlosen Freude und Begeisterung erinnerte Tolui sie an sich selbst. Als sie die Zulassung zum Medizinstudium erhalten hatte, hatte sie vor Freude geheult wie ein Schlosshund. Sie hatte damals ein Krankenpflege-Praktikum in einem Krankenhaus gemacht, und die ganze Station, Schwestern, Patienten und sogar die Ärzte, hatten sie beglückwünscht und mit ihr gefeiert. Das war nun schon über zehn Jahre her. Was war von diesem Enthusiasmus und dem Gefühl, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, geblieben? Nicht viel. Sie machte ihren Job, und sie machte ihn wirklich gerne. Aber ebenso gut hätte sie in einem Kaufhaus arbeiten können. Vielleicht konnte sie Tolui davor bewahren, seine Begeisterung zu verlieren.
»Ich hoffe, dass ich dir eine gute Lehrerin sein werde. Aber du sollst auch wissen, dass du nicht sofort die Kranken behandeln wirst. Bevor du so weit bist, wird viel Arbeit auf dich zukommen, Tolui«, sagte Beatrice und dachte daran, dass dies der erste große Dämpfer gewesen war, den sie selbst im Studium erhalten hatte.
Zwei Jahre lang hatte sie sich nur mit in ihren Augen ziemlich langweiligen Grundlagen herumgeschlagen. Physik, Biologie, Chemie waren ihr tägliches Brot gewesen, bevor sie den ersten richtigen, lebendigen Patienten zu Gesicht bekommen hatte. Manchmal hatte sie sogar heimlich auf ihrem Studentenausweis nachgeschaut, um sicherzugehen, dass sie sich wirklich für Medizin eingeschrieben hatte. Aber schließlich brauchte sie sich hier in Taitu nicht an Studienpläne zu halten, es gab kein Physikum, keine Staatsexamen. Hier war sie ihr eigener Dekan an ihrer eigenen winzigen Universität. Sie konnte Toluis Lehrplan frei nach ihren eigenen Wünschen gestalten. Eine unglaubliche Chance, Fehler, die an ihr begangen wurden, wieder gut zu machen.
»Du wirst mich natürlich weiterhin ins Haus der Heilung begleiten«, fuhr sie fort. »Anfangs wirst du fast nur zusehen. Ich werde dir alles erklären, jeden einzelnen Handgriff. Und nach und nach wirst du immer öfter auch selbstständig arbeiten können. Weil es hier keine Bücher über die Heilkunde meiner Heimat gibt, werden wir uns jeden Abend nach der Arbeit zusammensetzen. Ich werde dir alles erzählen, was ich über den menschlichen Körper, seine Funktionen und seine Erkrankungen weiß. Du wirst dir alles merken müssen, denn hin und wieder werde ich dein Wissen und deine Fähigkeiten prüfen. Es wird anstrengend sein. Oft wirst du in der Nacht nur wenige Stunden schlafen oder gar ganz ohne Schlaf auskommen müssen. Du wirst deine Brüder und Freunde kaum noch sehen. Denn während sie ihre Jugend genießen und auf der Jagd die Umgebung durchstreifen, wirst du bei mir sein und lernen.«
Was redest du da eigentlich?, fragte sie sich. Der Junge will nicht für den Rest seines Lebens in ein Kloster eintreten, er will Medizin studieren.
Aber ganz so falsch war es nicht. Wenn sie zurückblickte, so hatte sie das Studium genauso empfunden – alle anderen feierten und genossen ihr Leben, während sie zu Hause saß und lernte. Medizin war ein reines Fleißstudium. Sie sah Tolui an.
»Bleibst du bei deiner Entscheidung?«
Tolui erwiderte ihren Blick. Seine grünen Augen leuchteten.
»Ja, Meister«, sagte er, ohne zu zögern. »Die Arbeit schreckt mich nicht. Ich möchte Arzt werden.«
Beatrice lächelte und reichte Tolui die Hand.
»Ich habe keine andere Antwort erwartet.« Das stimmte auch. Tolui war intelligent und fleißig. Er würde es schaffen. Aber was war mit ihr selbst? Würde sie auch in der Lage sein, die zusätzliche Arbeit einfach so wegzustecken? Wenn sie daran dachte, dass vor ihrer »Zeitreise« bereits zwei Überstunden am Tag sie unendlich viel Kraft gekostet hatten, bekam sie ihre Zweifel.
O Bea, warum hast du dir das nur wieder aufgehalst!
»Wenn es dir recht ist, Meister, können wir sofort mit dem Unterricht beginnen. Ich werde gleich…«
»Halt, Tolui«, sagte Khubilai und legte seinem Sohn beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Du wirst bis morgen warten. Morgen wird dein Unterricht beginnen, nicht heute.«
»Aber Vater, ich könnte doch gleich…«
»Du wirst dich in Geduld üben. Ein Tag macht keinen Unterschied.«
»Eben, Vater. Gerade deshalb könnte ich doch schon heute…«
»Du hast meine Worte gehört, mein Sohn«, unterbrach ihn Khubilai streng. »Und dabei bleibt es. Du darfst dich entfernen.«
Die Enttäuschung auf dem Gesicht des Jungen war so groß, dass er Beatrice leid tat. Aber dem Khan vor den Augen seines Sohnes und seines Bruders zu widersprechen, wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen, selbst wenn sie gewollt hätte. Denn wenn sie ehrlich war, war sie so müde, dass sie an diesem Tag vermutlich ohnehin nicht die Kraft gefunden hätte, Tolui einen angemessenen Unterricht zu bieten.
Sichtlich unzufrieden verabschiedete er sich.
»Dieser Junge ist starrköpfiger als ein Maultier«, sagte Khubilai, als Tolui den Raum verlassen hatte. »Immer möchte er seinen Willen durchsetzen, niemals hört er auf mich. Manchmal habe ich den Eindruck, ich könnte ebenso gut versuchen, der Luft Befehle zu erteilen.«
Darin ist er seinem Vater sehr ähnlich, dachte Beatrice amüsiert und stellte im nächsten Augenblick überrascht fest, dass sie nicht Khubilai im Sinn gehabt hatte, sondern Dschinkim.
»Glaubst du, du wirst ihn lenken können?«
Jetzt war Khubilai nicht mehr der Khan, der Herrscher über ein Weltreich, sondern der besorgte Vater, der für seinen eigensinnigen, hochbegabten Sohn nur das wollte, was jeder Vater auf der ganzen Welt für seinen Sohn gewollt hätte – das Beste.
»Großer Khan«, sagte Beatrice und verneigte sich leicht, »ich habe bereits in den vergangenen Tagen im Haus der Heilung eng mit Tolui zusammengearbeitet. Er ist sehr klug, und ich glaube, dass er schnell lernen wird, schneller als mancher andere. Sein größtes Problem ist sein Mangel an Geduld – vor allem mit sich selbst. Allerdings wird auch er bald begreifen, dass Ungeduld in der Heilkunde wenig Platz hat und er denselben steinigen Weg gehen muss wie Generationen von Ärzten vor ihm.«
Khubilai nickte. »Ich nehme an, du hast recht. Du scheinst eine Frau zu sein, die sich nicht an der Nase herumführen lässt. Stoß dem jungen Rind ruhig die Hörner ab. Ich gestatte dir auch, ihn zu bestrafen, wenn du es für nötig hältst.« Er straffte die Schultern und schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel. »Aber nun, da wir diesen Bund geschlossen haben, lasst uns trinken und das Abkommen mit Kumys besiegeln.«
Er hob den Deckel von einem großen bauchigen Gefäß, das neben ihm stand, schenkte mit einer Holzkelle eine weißliche Flüssigkeit in drei Becher und reichte sie jedem von ihnen. Dschinkim und Beatrice hoben ihre Becher und warteten auf Khubilais Trinkspruch.
»Auf das Bündnis! Mögen die Götter meinem Sohn und seinem Meister gewogen sein.«
»Auf das Bündnis.«
Beatrice trank und schluckte, bevor sie das Zeug angewidert ausspucken konnte. Die helle Flüssigkeit hatte die Konsistenz von Sirup. Der Geschmack erinnerte annähernd an ranzige Butter, hatte jedoch eine alkoholische Schärfe und einen unangenehmen Beigeschmack, der sich mit nichts vergleichen ließ, was sie jemals in ihrem Leben gegessen oder getrunken hatte.
Das muss die gegorene Stutenmilch sein, welche die Mongolen angeblich so lieben, dachte Beatrice.
Sie hatte irgendwann einmal in einer Zeitschrift über Kumys gelesen. Natürlich hatte sie sich damals nicht vorstellen können, dass sie eines Tages selbst in den Genuss dieses Getränks kommen würde. Tatsächlich hätte sie liebend gern darauf verzichtet. In diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine Schale klares Wasser, um diesen widerlichen, abartigen Geschmack in ihrem Mund loszuwerden.
Hoffentlich muss ich den Becher nicht austrinken, dachte sie verzweifelt. Noch ein Schluck, und ich muss mich übergeben.
Aber konnte sie das Getränk ablehnen, ohne den großen Khan zu beleidigen? Er sah sie bereits forschend an und runzelte die Stirn.
»Warum trinkst du nicht?«, fragte er. »Weigerst du dich etwa, dem Bündnis die nötige Grundlage zu geben? Willst du die Götter beleidigen?«
»Nein, das nicht, aber…« Wie konnte sie sich nur aus dieser unangenehmen Situation befreien?
Bleib bei der Wahrheit, empfahl ihr eine innere Stimme. Du bist schwanger, und in der Schwangerschaft ist Alkohol verboten. Dass dir von diesem Kumys übel wird, braucht Khubilai nicht zu wissen.
Das war kein schlechter Rat.
»Ich bitte dich um Vergebung, großer Khan. Es ist nicht meine Absicht, unhöflich zu sein, geschweige denn, dass ich dich oder die Götter beleidigen wollte. Aber Li Mu Bai hat mir von dem Genuss berauschender Getränke dringend abgeraten. Er sagte, es könnte gefährlich, unter Umständen sogar tödlich für mein ungeborenes Kind sein.«
Das Gesicht des Khans entspannte sich, und schließlich lächelte er sogar.
»Nun gut, so sei dir verziehen«, sagte er. »Ich respektiere die Sorge und die Furcht um das Kind, das du unter deinem Herzen trägst. Um die Götter dennoch nicht zu erzürnen, wird Dschinkim an deiner Stelle deinen Becher leeren.«
Dschinkim nahm Beatrice den Becher ab und trank ihn in einem Zug leer. Er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Es war nicht ausgeschlossen, dass er das Zeug sogar mochte. Andererseits, wer konnte schon sagen, was die Mongolen von Champagner oder Whisky halten würden. Die Geschmäcker waren eben verschieden.
Sie saßen noch eine Zeit lang am Feuer und lauschten Khubilai, der eine Geschichte aus seiner Kindheit erzählte. Er berichtete von seinem Großvater namens Temüjin, den er offensichtlich heiß und innig geliebt hatte. Beatrice brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass dieser Temüjin niemand Geringeres als Dschingis Khan war – jener Dschingis Khan, der den Europäern das Fürchten gelehrt hatte und der sogar im 20. Jahrhundert in Schlagern besungen wurde. Gespannt hörte sie zu. Khubilai beschrieb ihn als zärtlichen, humorvollen Großvater, der immer Zeit für die Nöte und Sorgen seiner zahlreichen Enkel gehabt hatte. Das Bild, das Khubilai von seinem Großvater zeichnete, war ein ganz anderes als das der Geschichtsbücher. Das war auch nicht verwunderlich. Khubilai hatte Dschingis Khan persönlich gekannt. Er hatte mit ihm zusammengelebt und auf seinem Schoß gesessen. Dschingis Khan hatte ihm Geschichten erzählt und ihn vermutlich ebenso in die Luft geworfen, wie Khubilai es jetzt mit seinen eigenen Enkeln tat. Die Historiker hingegen beurteilten den Mongolenfürsten nur nach den schriftlichen Überlieferungen. Und die stammten zum Großteil von seinen Feinden.
»Jetzt habe ich tatsächlich die ganze Zeit von meiner Kindheit erzählt wie ein zahnloser Greis am Kohlenfeuer«, sagte Khubilai und schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist wirklich nicht zu leugnen, ich werde langsam alt. Ihr hättet mich zurechtweisen müssen, bevor ihr euch langweilt.«
»Aber nein, großer Khan«, entgegnete Beatrice. »Ich habe mich nicht gelangweilt. Ich höre Geschichten über die Vergangenheit sehr gern.«
Das entsprach allerdings nicht ganz der Wahrheit. Wäre Khubilai einer ihrer Patienten gewesen, sie hätte ihn bereits vor mehr als einer halben Stunde unterbrochen und das Gespräch energisch in eine andere Richtung gelenkt. Allerdings handelten die Geschichten der alten Menschen, die mit Oberschenkelfrakturen, Rippenprellungen oder Darmverschluss auf der Notaufnahme landeten, auch nicht von historischen Persönlichkeiten wie Dschingis Khan.
»Du bist sehr höflich, Beatrice, aber ich erkenne an euren Gesichtern, dass ihr eure Zeit sinnvoller nutzen wollt, als einem alten Mann zuzuhören.« Khubilai lächelte. »Abgesehen davon habe auch ich noch ein paar dringende Angelegenheiten zu regeln.«
Dschinkim erhob sich sofort und wirkte erleichtert, als hätte er nur darauf gewartet, dass Khubilai sie endlich entlassen würde.
Wahrscheinlich kennt er die Geschichten seines Bruders schon zur Genüge, dachte Beatrice und beobachtete den Mongolen voller Bewunderung. Seine Bewegungen waren schnell und geschmeidig wie die eines Artisten. Es war ihm überhaupt nicht anzumerken, dass er stundenlang auf dem Boden gesessen hatte. Sie hingegen hatte das Gefühl, ihre Beine seien von den Knien bis zu den Füßen abgestorben. Mühsam versuchte sie sich aus dem niedrigen Holzgestell herauszuarbeiten. Ohne Erfolg.
Da reichte Dschinkim ihr seine linke Hand, legte den rechten Arm um ihre Taille und zog sie leicht und mühelos auf die Füße.
»Danke«, sagte sie und fragte sich, ob er einfach nur freundlich sein wollte oder ob sie sich so ungeschickt angestellt hatte, dass er den Anblick nicht mehr hatte ertragen können.
Dschinkim erwiderte nichts, er lächelte nicht einmal. Trotzdem wirkte er nicht so grimmig und unzugänglich wie sonst. Sein Arm umfasste immer noch ihre Taille, als hätte er ihn vergessen, seine jadegrünen Augen leuchteten, und für einen kurzen, ganz kurzen Moment hatte sie den Eindruck, dass er sich gleich zu ihr herabbeugen und sie küssen würde. Doch leider geschah nichts, gar nichts. Dschinkim ließ sie einfach wieder los und wandte sich von ihr ab, als würde die Luft zwischen ihnen nicht vor Spannung knistern. Zu ihrer eigenen Überraschung stellte Beatrice fest, dass sie darüber enttäuscht war. Enttäuscht und wütend.
»Nun geht und nehmt den Frieden meiner Jurte mit euch«, sagte Khubilai heiter. »Die Götter mögen euch auf euren Wegen begleiten.«
Der Khan sagte noch ein paar freundliche, belanglose Dinge, doch Beatrice hörte kaum zu. Dort, wo Dschinkim sie berührt hatte, prickelte ihre Haut wie nach einer Reizstrombehandlung.
Dumme Kuh!, beschimpfte Beatrice sich selbst, während sie sich mechanisch vor Khubilai verneigte. Du solltest allmählich lernen, dich und deine Hormone besser zu kontrollieren, bevor es eines Tages richtig peinlich wird.
Dschinkim schob einen bunten handgewebten Vorhang zur Seite und öffnete die dahinter verborgene Tür.
Dschinkim sah, dass Beatrice wie angewurzelt stehen blieb. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich ungläubiges Staunen; das Staunen eines Menschen, der an einem Ort eingeschlafen ist und an einem anderen, fremden Ort wieder aufwacht.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er sie und dachte daran, dass sie schwanger war. Vielleicht hatte Li Mu Bai recht. Womöglich hatte das Kumys doch eine schlechte Auswirkung auf das ungeborene Kind. Sie hatte zwar nur einen winzigen Schluck getrunken, aber womöglich reichte es aus, um… Dschinkim spürte, wie sein Herz schneller und immer schneller schlug. Nimm dich zusammen!, ermahnte er sich selbst. Du verhältst dich wie ein Narr.
Er durfte sich keine Sorgen um sie machen. Sie war nicht seine Frau. Sie war eine Fremde. Sicherlich lebte irgendwo der Vater des Kindes. Auf keinen Fall wollte er dieselben Höllenqualen ein zweites Mal ausstehen. Und trotzdem. Er gab sich einen Ruck und zwang seine Zunge weiterzusprechen – ganz normal, so als wäre nichts gewesen. »Geht es dir nicht gut?«
»Doch, doch, mir fehlt nichts, es ist nur…«
Sie brach ab und sah ihn verwirrt an, verwirrt und zugleich traurig.
Sie war auch dort, sie hat es auch gespürt, dachte er. Dieser Zauber von Khubilais Gemach hatte auch sie erfasst, und für einen kurzen Moment war sie nicht mehr in Taitu gewesen. Sie war in der Steppe und hat uns so gesehen, wie wir wirklich sind. Als Mongolen.
»Es ist, als ob man eine andere Welt betritt«, sagte sie leise.
»Ich weiß«, erwiderte Dschinkim.
Jedes weitere Wort war überflüssig. Ihre Augen schimmerten feucht – diese Augen, deren Farbe ihn an den Sommerhimmel über der Steppe erinnerte, kurz vor Einbruch der Nacht. Dschinkim konnte es nicht fassen, dass sie, eine Fremde aus dem fernen, unbekannten Abendland, das Gleiche fühlte wie er, den gleichen Schmerz, die gleiche Wehmut. Sie, die Angehörigen von Khubilais Sippe, die direkten Nachfahren des großen, bis in alle Ewigkeit unvergessenen Dschingis Khans, hatten etwas verloren, etwas Unersetzliches, das Dschinkim nicht in Worte fassen konnte. Zum Tausch gegen die Macht über ein riesiges Reich und eine Vielzahl von Völkern hatten sie ihre Wurzeln durchtrennt – mit eigener Hand zerschlagen, wie ein törichter Mann, der den einzigen Baum in der Steppe fällt, um einen jämmerlichen Tag lang an einem lodernden Feuer sitzen zu können. Und diese Frau, diese Fremde aus einem Land, das so weit entfernt war, dass nicht einmal der Arm des allmächtigen Khubilai Khans dorthin reichte, fühlte die gleiche Trauer über diesen Verlust wie er. Wie war das möglich? Es gab ein unsichtbares Band zwischen ihnen, fein und zart wie Spinnweben, ein Band, das ihn unwiderstehlich zu dieser Frau hinzog. Dschinkim ertappte sich erneut bei dem Wunsch, seine Hand durch ihr weiches goldschimmerndes Haar gleiten zu lassen. Dieser Wunsch war sogar stärker als je zuvor. Dennoch rührte er sich nicht. Er wagte kaum zu atmen aus Angst, jede unbedachte Bewegung, jedes belanglose Wort würde dieses zarte kostbare Band zwischen ihnen zerstören.
»Wir müssen über Maffeo sprechen«, sagte Beatrice. Ihre Stimme klang heiser vor Sorge.
Dschinkim erschrak, als er merkte, dass er selbst nicht mehr an dieses Problem gedacht hatte. Es war unglaublich, aber er hatte beinahe die Gefahr, die nicht nur Maffeos Leben, sondern vermutlich auch das des Khans und damit die Sicherheit des ganzen Reiches bedrohte, vergessen. Hatte Beatrice ihn verzaubert? Hatte sie seinen Verstand umgarnt und umnebelt, damit er nicht mehr an das Naheliegende dachte und Fehler machte?
»Du hast recht«, erwiderte er und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Aber sah so eine Hexe aus? War dies etwa das Gesicht einer bösen Fee, die gekommen war, um das Reich der Mongolen zu verderben? Nein. Warum hätte sie ihn sonst auf Maffeos Vergiftung hinweisen sollen?
Um Zwietracht und Misstrauen zu säen, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Glaube mir, du hast mir bisher immer vertraut, und nie war ich dir ein schlechter Ratgeber. Dieses Weib will dich nur gegen deine engsten Vertrauten aufhetzen, und dann…
Halt! Es reicht, dachte er verärgert und brachte die Stimme zum Schweigen. Er wollte nicht mehr auf sie hören, seine Gedanken nicht mehr von ihrem Gift verseuchen lassen – wenigstens dieses eine Mal nicht.
»Fühlst du dich noch stark genug, um zu reiten?«, fragte Dschinkim.
Beatrice umfasste ihren Bauch. Neununddreißigste Woche. Es war riskant, zweifellos. Als Ärztin hätte sie jeder Patientin dringend von diesem Wagnis abgeraten, um keine Wehen zu provozieren. Andererseits hatte sie das sichere Gefühl, dass die Geburt nicht kurz bevorstand. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie sich so sicher war, sie wusste es einfach.
»Ja, wenn es unbedingt sein muss.«
»Gut, dann ziehe dir warme, unauffällige Kleider an. Ich erwarte dich bei den Pferdeställen. Wir werden die Stadt verlassen.«