Kaum eine Stunde später traf Beatrice Dschinkim auf dem Platz vor den Pferdeställen. Er trug den warmen weichen Mantel und die Stiefel eines Viehhändlers und hatte seine fellbesetzte Kappe so tief ins Gesicht gezogen, dass man ihn kaum erkennen konnte. Er betrachtete Beatrice prüfend, ließ seinen Blick über ihren Mantel gleiten, zog ihre Mütze zurecht, sodass auch ihr Gesicht beschattet wurde, und nickte dann zufrieden.
»Gut. Jetzt können wir gehen.«
Er drückte ihr die Zügel der Fuchsstute in die Hand. Heimlich und – so hofften sie wenigstens – unbemerkt verließen sie den Palast durch ein kleines Seitentor.
Auf den Straßen von Taitu herrschte viel Verkehr. Sie bestiegen ihre Pferde und mischten sich unauffällig zwischen die Reiter. Nur langsam kamen sie voran. Schwere, behäbige Ochsenkarren, beladen mit Stroh oder Säcken, versperrten ihnen immer wieder den Weg. Träger, die an langen Stangen über ihren Schultern schwere Lasten schleppten, liefen vor ihnen her, Frauen mit Körben und Krügen wichen ihnen mit mürrischem Gezeter aus. All diese Menschen schienen einem bestimmten Ort zuzustreben. Und tatsächlich, nach etwa zweihundert Metern mündete die Straße auf einen riesigen Platz. Es war Markt.
Der Marktplatz war überfüllt, dicht an dicht drängten sich die Menschen um die Stände. Hühner gackerten, Schweine quiekten, Hunde bellten. Und dann gab es immer wieder hohe Schreie, die klangen, als ob einem Tier der Hals umgedreht würde. Vielfältige, unbekannte Gerüche drangen auf Beatrice ein. Es roch nach Kräutern und Gewürzen, nach Getreide und Staub, nach Rauch und glühenden Kohlen, nach gekochtem Gemüse und Fleisch, nach Blut, Fisch und vielen anderen Dingen, die sie nicht einordnen konnte. In den hölzernen Fässern und mit Wasser gefüllten Schalen ringelten sich Aale und Schlangen, schwammen Krebse oder seltsame molluskenartige Tiere. Laut und mit wilden Gesten feilschten Käufer und Verkäufer um die Waren – um Lebensmittel, Tuch, Schmuck und Haushaltsgegenstände. Während sie sich langsam, Schritt für Schritt, durch das Gedränge schoben, wurden sie ständig angesprochen. Schalen mit Duftkräutern wurden ihnen entgegengestreckt, Speisen und Getränke wurden ihnen aufgedrängt, und Dschinkim bekam eindeutige Angebote von den leicht bekleideten, mit weißem Puder und kräftigem Lippenrot geschminkten Frauen, die an den Ecken und zwischen den Ständen um Kundschaft warben. Immer wieder schüttelten sie die Köpfe, wehrten mit den Händen ab oder ritten einfach weiter, ohne die Offerten zu beachten. Beatrice wurde immer nervöser. Dies hier war kein Markt, wie sie ihn kannte. Es ließ sich nicht einmal mit den bunten, lebhaften Bazaren Bucharas vergleichen. Es war ein für westliche Begriffe undurchschaubares Chaos. In diesem Moment fiel es ihr schwer, zu glauben, dass die Chinesen wirklich ein uraltes Kulturvolk waren.
Sie hatten schon beinahe den Marktplatz überquert, als eine alte Frau sich an Beatrices Pferd drängte. Ihr dünnes weißes Haar umgab ihren Kopf wie ein Kranz aus Spinnengewebe. Ein Auge war blind, ihr Mund war zahnlos und ihr Gesicht von unzähligen Runzeln durchfurcht. Sie sah aus wie eine Verrückte – oder wie eine Hexe. Die Alte umklammerte ihr Bein und sprach auf Chinesisch auf sie ein. Beatrice bekam Angst. Sie verstand die Alte nicht, und es gelang ihr auch nicht, sich aus ihrem Griff zu befreien. Sie wollte schon nach Dschinkim rufen und ihn um Hilfe bitten, als die Alte endlich von ihr abließ. Vielleicht hatte sie begriffen, dass Beatrice sie nicht verstehen konnte. Sie holte etwas aus einem der Beutel, die an ihrem Gürtel hingen, und steckte es Beatrice zu. Es war ein zusammengerolltes und mit einer roten Schleife zusammengebundenes Stück Papier. Beatrice versuchte der Alten zu verstehen zu geben, dass sie das Papier nicht kaufen wollte. Sie hatte noch nicht einmal Geld bei sich. Doch die Alte winkte ab und war im nächsten Augenblick im Gedränge verschwunden.
»Gab es Schwierigkeiten?«, fragte Dschinkim sie besorgt, als sie ihn endlich wieder eingeholt hatte.
»Nein.« Beatrice schüttelte den Kopf. Sie begriff immer noch nicht, was die Alte von ihr gewollt hatte. »Eine alte Frau hat mich angesprochen. Ich habe sie nicht verstanden. Und dann gab sie mir dies hier.«
Sie zeigte Dschinkim die kleine Rolle.
»Die Alte war offensichtlich eine Wahrsagerin«, erklärte er. »Hier auf dem Markt gibt es viele. Sie lesen dir aus der Hand oder den Augen die Zukunft, werfen Knochen, beobachten die Wolken oder lassen sich in Trance versetzen. Auf dieser Schriftrolle ist vermutlich ein Spruch geschrieben, der dir deine Zukunft weist oder dich vor Unheil beschützen soll.«
Doch Beatrice kam es vor, als wäre Dschinkim plötzlich bleich geworden. So als wollte er ihr verheimlichen, dass auf diesem Stück Papier ebenso gut ein Fluch stehen konnte. Sie starrte auf die kleine Rolle, die so unschuldig und harmlos aussah.
»Soll ich sie fortwerfen?«, fragte sie.
»Nein. Du kannst deinem Schicksal ohnehin nicht entfliehen«, antwortete Dschinkim und bestätigte damit Beatrices Verdacht. Er glaubte nicht daran, dass dieses Papier etwas Positives enthielt. »Und oft ist es besser, dem Schicksal sehenden Auges gegenüberzutreten, als von ihm überrascht zu werden.«
Ohne weitere Zwischenfälle setzten sie ihren Weg fort. Sie passierten das östliche Tor der Stadt, ohne dass die Wachen ihnen mehr Beachtung schenkten als den zahllosen Händlern und Bauern, die Taitu verlassen wollten oder Einlass begehrten, um ihre Waren auf dem Markt anzubieten.
In gemächlichem Tempo ging es die östliche Straße entlang, bis sie sie schließlich verließen und in das Hügelland ritten.
Der eisig kalte Wind wehte Beatrice ins Gesicht und ließ sie trotz des warmen Fellmantels und der Pelzmütze frösteln. Das gefrorene Gras knirschte unter den Hufen der Pferde. Wie sah diese Landschaft wohl im Winter aus? Beatrice versuchte, sich die schneebedeckten Hügel vorzustellen, weiß und rein.
Gern würde ich das sehen, dachte sie und merkte, dass sie nicht an die Erfüllung dieses Wunsches glaubte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie nicht mehr so lange hier bleiben würde.
»Wir sind da«, sagte Dschinkim nach einer Weile und riss sie aus ihren Gedanken. Er zügelte seinen Hengst und brachte das Tier zum Stehen.
Überrascht sah Beatrice sich um. Sie konnte nicht begreifen, wo sie angeblich angekommen waren, denn weit und breit gab es nichts. Wohl waren da Hügel, und in der Ferne konnte sie die dunklen Schatten von Wäldern erkennen, aber hier befanden sie sich in einer Senke, und weit und breit gab es keinen Baum, keinen Strauch, keine Hütte, keinen Bach, nichts, nicht einmal einen größeren Stein oder Felsen. Hier war nichts außer dem langen, mit einer Reifschicht überzogenen Gras unter und einem blassblauen Himmel über ihnen.
»Hier gibt es nichts, was einem Feind als Versteck dienen könnte«, sagte Dschinkim, und Beatrice fragte sich, ob ihre Gedanken so leicht von ihrem Gesicht abzulesen waren oder ob der Mongole über die seltene Gabe der Telepathie verfügte. »In Taitu können wir keine zwei Worte miteinander wechseln, ohne dass der ganze Palast davon erfährt. Dort lauern die Spione überall. Hier können wir wenigstens sicher sein, dass niemand uns belauscht. Und nun erzähle mir, was Maffeo widerfahren ist und was du darüber weißt.«
Beatrice berichtete Dschinkim, wie sie Maffeo am Vorabend in ihrem Zimmer vorgefunden hatte, was er von Li Mu Bai erzählt und was sie durch die Untersuchung herausgefunden hatte. Sie war selbst überrascht, wie wenig es im Grunde war.
Dschinkim hörte ihr schweigend zu.
»Wie heißt das Gift?«, fragte er, als sie ihren Bericht abgeschlossen hatte.
»Das Gift heißt Atropin. Es wird aus den Früchten eines Strauches gewonnen. In meiner Heimat nennen wir diese Pflanze Tollkirsche, weil die Früchte wie dunkle Kirschen aussehen und sie, wenn man sie isst, Wahnvorstellungen und Visionen hervorrufen. Ein anderer, ebenfalls verbreiteter Name ist Belladonna. Frauen träufeln sich den Saft dieser Früchte in die Augen, um die Pupillen zu erweitern und attraktiver auszusehen. Das mag in deinen Ohren zwar alles harmlos klingen, aber in hohen Dosen eingenommen, kann dieses Gift tödlich wirken. Besonders bei Menschen, die ein schwaches Herz haben.«
»So wie Maffeo?«
»Ja, genau so.«
»Komisch, von einem solchen Gift habe ich noch nie gehört.«
»Wahrscheinlich habt ihr ihm einen anderen Namen gegeben.«
Dschinkim schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich kenne die Pflanzen meiner Heimat sehr gut, aber einen Strauch, wie du ihn beschrieben hast, habe ich noch nie gesehen. Und da Li Mu Bai nichts mit den Anzeichen der Vergiftung anfangen konnte, nehme ich an, dass dieses Gift auch den Chinesen unbekannt ist.«
»Dann heißt es also, herauszufinden, wer im kaiserlichen Palast über ein solches Gift Bescheid wissen könnte und wer Maffeo nach dem Leben trachtet«, sagte Beatrice. »Dafür dürften eigentlich nicht so viele infrage kommen.«
»Du irrst«, erwiderte Dschinkim. »Es sind mehr, als du glaubst.« Er starrte in die Ferne. »Da sind die Araber, allen voran Ahmad, der Finanzminister Khubilais. Ich glaube, du kennst ihn. Er kam zu mir an dem Tag als du dich in mein Gemach verirrt hast und…« Er brach ab, und eine leichte Röte überzog seine Wangen. »Ahmad ist ein verschlagener Mann. Ich vermute seit Langem, dass er Khubilai um Geld betrügt und aus der Staatskasse immer wieder erhebliche Summen für sich oder seine dunklen Ziele abzweigt. Doch solange ich ihm nichts nachweisen kann, glaubt Khubilai mir natürlich nicht. Aus diesem Grund habe ich erst kurz vor unserer Abreise nach Taitu Maffeo gebeten, heimlich die Bücher des Arabers zu überprüfen. Er beherrscht die Sprache und die Schrift dieser Schurken und kennt sich in der Welt der Kaufleute aus. Vielleicht hat er bereits etwas entdeckt, das Ahmad gefährlich werden könnte.«
»Ja, Maffeo hat mir davon erzählt.« Beatrice runzelte nachdenklich die Stirn. »Ein Motiv hätte er also. Aber wie ist es mit der Gelegenheit?«
»Eine Kleinigkeit für ihn. Wie du weißt, sind die Araber Kaufleute. Ihre Kontakte reichen bis ins ferne Abendland. Einer seiner Freunde könnte ihm das Gift beschafft haben.«
»Ahmad gehört also unbedingt in den engeren Kreis der Verdächtigen«, sagte Beatrice und dachte an das Gespräch, das sie belauscht hatte. Plötzlich hörte sie wieder das bösartige, harte Lachen des anderen Mannes, jener mit dem starken Akzent, den sie nur für den Bruchteil eines Augenblicks im Profil gesehen hatte. Der Wind frischte auf, und fröstelnd zog sie den Mantel enger um sich.
Der Wind ist heute wirklich eisig kalt, dachte sie. Eigentlich ein Wunder, dass es noch nicht geschneit hat.
»Wer könnte sonst noch ein Interesse an Maffeos Tod haben?«
»Marco.«
Beatrice sah Dschinkim ungläubig an. Natürlich, Maffeo hatte nicht nur von Ahmad, sondern auch von Marco gesprochen. Aber das war doch wohl kein Grund, seinen eigenen Onkel umzubringen? Oder? Sie sah plötzlich das achtlos am Boden liegende Tuch vor sich. War Marco wirklich so oberflächlich, so kalt und skrupellos? Aber das konnte doch nicht sein. Das würde ja bedeuten, dass Marco Polo, der Held, der mit seinen Reisebeschreibungen Generationen von Europäern bis ins 21. Jahrhundert hinein fasziniert hatte, im Grunde genommen nichts anderes war als ein Gauner.
»Du sprichst wirklich von Marco Polo? Bist du sicher?« Sie wollte es immer noch nicht glauben. Sie war bereit, um den Ruf dieses Mannes zu kämpfen, obwohl eine Stimme ihr sagte, dass Dschinkim recht hatte. »Er ist doch sein Neffe und… Weshalb sollte ausgerechnet Marco Maffeo umbringen wollen?«
»Weil er ein skrupelloser Mann ist und Maffeo etwas besitzt, das Marco gern selbst in seinem Besitz hätte«, antwortete Dschinkim. »Maffeo nennt etwas überaus Wertvolles, Einmaliges sein Eigentum, etwas, für das sogar bessere, ehrlichere Männer als Marco bereit wären, einen Mord zu begehen. Ich glaube sogar, du weißt, was es ist.«
Sein Blick drang durch sie hindurch, als wäre sie aus Glas. Beatrice spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Konnte es sein, dass Dschinkim vom Stein der Fatima sprach? Aber woher sollte er davon wissen? Vielleicht hatte er tatsächlich telepathische Fähigkeiten.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Beatrice und gab sich Mühe, entrüstet zu erscheinen. Allerdings schien ihr das gründlich zu misslingen, denn Dschinkim lachte, als hätte sie ihm einen guten Witz erzählt.
»Du brauchst mir dein Geheimnis nicht anzuvertrauen«, sagte er schließlich. »Ich will es ebenso wenig, wie ich Maffeos Geheimnis möchte. Aber ich bin sicher, dass Marco es kennt. Sie haben schließlich vor Jahren die Reise hierher gemeinsam unternommen. Und er ist nicht genügsam, o nein. Jedes Mittel, das ihm zu mehr Macht, zu größerem Einfluss und Besitz verhelfen könnte, ist ihm recht. Und wenn nur die Hälfte dessen, was mir zu Ohren gekommen ist, der Wahrheit entspricht, so ist dieser Stein ein überaus mächtiges Kleinod. Marco wäre ohne Weiteres imstande, seinen Onkel zu beseitigen, nur um in den Besitz des Geheimnisses zu kommen. Und darüber, dass er als Europäer Kenntnisse über das seltsame Gift haben kann, brauchen wir gar nicht erst zu reden.«
Beatrice wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Dschinkims Argumente waren klar und nachvollziehbar. Aber woher wusste er von dem Stein? Hatte Maffeo ihm davon erzählt? Das konnte sie sich nicht vorstellen.
»Woher…«
Doch er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.
»Darüber können wir zu einem anderen Zeitpunkt reden.« Er seufzte, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Die Liste derer, die Maffeo nach dem Leben trachten, lässt sich noch beliebig verlängern. Es mag dir seltsam vorkommen, aber sogar er hat Feinde; Männer, die alles dafür tun würden, um seinen Posten am Hof des Khans einnehmen zu können. Und viele würden ihn einfach nur töten, um Khubilai oder mir zu schaden. Wie zum Beispiel Senge.«
»Senge?«, fragte Beatrice. »Wer ist das?«
»Er ist einer von uns, sogar ein Mitglied unserer eigenen Sippe. ›Der Unheimliche‹, so wird er von vielen genannt. Die Alten sagen, Senge sei ein Zauberer, der sich in den schwarzen Künsten auskennt, der mit den Dämonen im Bunde steht und dem kein Gift und keine Abscheulichkeit auf dieser Welt fremd ist.« Dschinkim zuckte mit den Schultern. »Ob an diesen Geschichten etwas Wahres dran ist, kann ich nicht sagen. Fest steht jedoch, dass Senge ein Störenfried ist, ein bösartiger Mann, dem es Freude bereitet, anderen Schaden zuzufügen. Ihm wäre es durchaus zuzutrauen, Maffeo aus reiner Bosheit zu töten. Und sei es nur, um herauszufinden, ob dieses fremdartige Gift tatsächlich die versprochene Wirkung hat oder ob es gelingt, ihm diesen Mord nachzuweisen.«
Beatrice schüttelte ungläubig den Kopf. Zauberer, schwarze Magie – welch ein Unsinn. Nicht einmal Dschinkim schien daran zu glauben. Doch dann hatte sie wieder das Lachen des Mannes in den Ohren, der mit Ahmad gesprochen hatte. Dieses harte, grausame Lachen. Und plötzlich wusste sie, dass dies Senge gewesen sein musste. »Der Unheimliche« – welch ein passender Name. Selbst wenn die Geschichten der Alten nichts als Schauergeschichten waren, würde sie diesem Mann nicht so schnell wieder begegnen wollen.
Was für ein Glück, dass er mich damals nicht gesehen hat, dachte sie und fröstelte. Doch diesmal war es nicht nur der Wind. Diesmal war es eine Kälte, die durch die Kleidung, durch Haut und Muskeln eindrang und das Mark in ihren Knochen gefrieren ließ.
»Und was können wir jetzt tun?«, fragte Beatrice und gab sich Mühe, dass ihre Zähne nicht vor Kälte klapperten. Oder vor Angst? Sie war sich dessen nicht so sicher. Um sich abzulenken, versuchte sie, an die nahe liegenden Probleme zu denken – sie mussten ein Verbrechen aufklären. Die Segnungen des 21. Jahrhunderts fielen ihr ein: Spurensicherung, Fingerabdrücke, Speicheltest, Handelswege, die sich per Mausklick via Computer überprüfen und nachvollziehen ließen… Aber welche Möglichkeiten standen ihnen hier zur Verfügung? Augen und Ohren offen halten, mehr war wohl nicht drin.
»Ich werde alle Verdächtigen, besonders Marco, Ahmad und Senge, beobachten. Unter Umständen gelingt es mir sogar, unbemerkt ihre Gemächer zu durchsuchen.«
»Und was ist mit den Dienern?«, schlug Beatrice vor. »Jemand sollte sie befragen. Vielleicht hat einer von ihnen etwas gehört oder gesehen, das uns weiterhelfen kann.«
Dschinkim nickte. »Ja, das ist ein guter Gedanke. Allerdings wird die Befragung der Diener viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht, ob ich…« Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. »Meine Pflichten lassen mir nicht unbegrenzt freie Hand, mich um diese Angelegenheit zu kümmern.«
»Du solltest einen deiner Soldaten damit beauftragen.«
Doch Dschinkim schüttelte langsam den Kopf. »Das geht nicht. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch trauen darf. Jeder meiner Soldaten könnte bestochen werden oder bereits seit Langem mit den Feinden gemeinsame Sache machen.«
Beatrice seufzte. Offensichtlich hatte er vor, diese Mammutaufgabe, die einen ganzen Polizeistab wochenlang beschäftigt hätte, allein zu übernehmen. Dschinkim, der »einsame Wolf«. Das war nicht nur verrückt, das war geradezu verantwortungslos. Niemals würde er diese Aufgabe allein bewältigen können. Und während er hinter einzelnen Spuren herjagte, verstrich wertvolle Zeit. Zeit, die der oder die Attentäter nutzen konnten, um Beweise zu vernichten und unterzutauchen. So würden sie das an Maffeo verübte Verbrechen niemals aufklären können. Doch als sie Dschinkim das sagte, zuckte er nur mit den Schultern.
»Ich weiß. Um ehrlich zu sein, rechne ich auch nicht damit, dass wir jemals den Schuldigen finden werden. Ich kann nur hoffen, so aufmerksam zu sein, dass es uns gelingt, einen weiteren Anschlag zu verhindern.«
Er wirkte so niedergeschlagen, so hoffnungslos und bedrückt, dass Beatrice das Herz schwer wurde. Sie hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, ihm zu helfen. Aber wie? Sie war doch Ärztin und keine Kriminalkommissarin. Alles Wissen über die Arbeit der Polizei hatte sie aus Büchern und Filmen, und das lag natürlich fernab jeder Realität. Aber vielleicht… wenn man davon ausging, dass Regisseure, Schriftsteller und Drehbuchautoren sich auch nicht alles aus den Fingern saugen konnten, sondern für ihre Geschichten recherchieren mussten, dann würde sie vielleicht die eine oder andere nützliche Idee…
»Ich werde dich bei dieser Aufgabe unterstützen«, sagte sie schließlich.
Dschinkim schüttelte den Kopf. Er lächelte und sah dabei gleichzeitig so traurig aus, dass es Beatrice die Kehle zuschnürte. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen und getröstet. Aber sie hielt sich zurück. Dschinkim war wirklich nicht der Mann, den man ungefragt einfach so berühren durfte.
»Ich danke dir für dein Angebot, aber…«
»Traust du mir etwa nicht?«
Dschinkim sah sie überrascht an. »Doch, natürlich, aber…«
»Gut«, unterbrach sie ihn. »Dann ist es also abgemacht.«
»Aber du bist eine Frau!«, rief Dschinkim aus. »Noch dazu eine Frau, die in Kürze ein Kind erwartet. Wie willst du mich unterstützen?«
»Ganz einfach. Erstens habe ich Zugang zu Maffeos Gemächern und zu seinen Dienern. Wenn das Gift dort versteckt ist oder in eine seiner Speisen gemischt wurde, habe ich die Chance, es herauszufinden. Im Gegensatz zu dir kann ich mich dort umsehen und jeden befragen, ohne dass es auffällt. Die meisten der chinesischen Diener halten mich ohnehin für ziemlich neugierig. Ich habe also keinen Ruf zu verlieren. Zweitens…«
»Gerade deshalb ist es ja so gefährlich, Beatrice«, unterbrach Dschinkim sie. »Sollte einer von Maffeos Dienern der Schuldige sein, bedeutet das, dass du mit dem Mörder unter einem Dach lebst. Es wäre für diesen Schurken eine Kleinigkeit, dich ebenfalls zu vergiften.«
»Zweitens bin ich Ärztin«, fuhr Beatrice fort, ohne auf Dschinkims Argument einzugehen. Es war ein überzeugendes Argument, aber davon wollte sie nichts wissen. Zumindest nicht jetzt. Darüber konnte sie nachdenken, wenn der Giftmischer gefasst und es zu spät für Panikattacken war. »Ich gehe im Haus der Heilung ein und aus. Ich kann Li Mu Bai befragen und mich umhören, ob Tollkirschen hier bekannt sind. In der Apotheke im Haus der Heilung werden mindestens tausend verschiedene Arzneikräuter aufbewahrt. Wer weiß, vielleicht sind ja auch Tollkirschen darunter. Wenn ja, würde es den Kreis der Verdächtigen erheblich eingrenzen, denn nur die Ärzte und ihre Untergebenen haben Zutritt zur Apotheke. Drittens spreche ich fließend Arabisch. Dieser Ahmad hat mit Sicherheit einen Harem voller Frauen, die sich hier in Taitu tödlich langweilen. Wenn die arabischen Männer ahnen würden, was Frauen, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, alles hören und sehen, würden sie den Harem als Institution auf der Stelle abschaffen. Wenn ich also mit diesen Frauen Kontakt aufnehme, wird es nicht weiter auffallen. Für sie wird es eine willkommene Abwechslung sein, mit jemandem zu sprechen, der ihren Klatsch und Tratsch noch nicht kennt und…«
»Ahmad hat keine Frauen«, unterbrach Dschinkim sie. »Er ist unverheiratet.«
»Was?«, entfuhr es Beatrice. »Keine Frauen? Nicht einmal eine einzige? Nicht einmal eine Schwester oder seine Mutter leben bei ihm?«
»Nein.« Dschinkim schüttelte den Kopf. »Er lebt allein. Ich glaube, er hat noch nicht einmal einen Diener, so seltsam dies auch klingen mag.«
»Dann ist da wirklich etwas faul an diesem Kerl«, sagte Beatrice. Sie war enttäuscht. Ihr ganzer schöner Plan ging gerade den Bach runter. Nun gut, dann musste sie sich eben noch etwas anderes einfallen lassen.
»Es gibt auch noch Marco«, sagte sie und lächelte grimmig. »Er hat mir, wie du ja weißt, einen Ring geschenkt, als ich ihn das letzte Mal getroffen habe. Er sagte, falls ich ihn sehen wolle, soll ich ihm den Ring schicken. Bislang bin ich nicht davon ausgegangen, dass ich den Ring jemals benutzen würde. Aber nun glaube ich, der Zeitpunkt wäre günstig, Marcos großzügiges Angebot anzunehmen. Vielleicht kann ich ihn sogar davon überzeugen, dass wir uns in seinen Gemächern treffen sollten.«
»Das willst du wirklich alles tun?«, fragte Dschinkim, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Ist dir auch klar, wie gefährlich das werden kann? Mit Marco ist nicht zu spaßen. Sollte er dich jemals durchschauen, wird er…«
»Ja, das weiß ich.« Beatrice ballte ihre Hände zu Fäusten. Die Gefahr war ihr bewusst – wenigstens theoretisch. Trotzdem blieb sie dabei. Sie hatte sich etwas vorgenommen, und das wollte sie nun auch ausführen. »Aber es ist mir egal. Maffeo ist für mich wie ein Vater. Und ich kann und werde es nicht zulassen, dass dieser Kerl, der ihn beinahe ermordet hat, ungestraft davonkommt oder womöglich seinen feigen Anschlag wiederholt.«
Dass sie so ganz nebenbei auch hoffte, auf diese Weise öfter mit Dschinkim zusammen zu sein, brauchte er natürlich nicht zu wissen.
»Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass du das Richtige tust«, sagte Dschinkim, »aber ich habe den Eindruck, dass es zwecklos wäre, es dir ausreden zu wollen. Du würdest nur auf eigene Faust deine Nachforschungen anstellen. Wenn ich es dir aber gestatte, kann ich wenigstens ein Auge auf dich haben.« Er seufzte, doch ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und für einen kurzen Moment wirkte er sogar glücklich. »Also gut. Du wirst mir dabei helfen, den feigen Attentäter zu finden. Aber nur unter einer Bedingung. Du wirst mir regelmäßig Bericht erstatten. Und du wirst nichts tun, was dein Leben oder das deines Kindes gefährden könnte.«
Beatrice lächelte. Seine Besorgnis um sie ließ ihr Herz schneller schlagen. Vielleicht war da ja doch etwas zwischen ihnen…
»Ich verspreche es dir«, sagte sie.
»Gut. Wir sollten jetzt nach Taitu zurückreiten. Wahrscheinlich hat man unser Verschwinden bereits bemerkt. Es könnte unnötig Verdacht erregen, wenn wir zu lange fortbleiben. Außerdem ist es kalt. Du frierst bestimmt schon.«
Dschinkim wendete sein Pferd und trat ihm leicht in die Flanken. Beatrice folgte ihm und konnte ihren Blick kaum von ihm abwenden. Seine Haltung war gerade, stolz und doch biegsam und geschmeidig, ein Jäger und Krieger wie aus dem Bilderbuch. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie sich gern noch die Gegend ansehen würde – auch wenn es hier nichts zu sehen gab außer Himmel, Gras, ein paar Hügel und Wälder. Nichts, was von seinen eindrucksvollen Augen ablenken konnte. Stundenlang hätte sie in diese leuchtenden grünen Augen sehen können. Und dann seine Stimme… Sie klang rau und tief, als hätte er seine Stimmbänder mit Schleifpapier bearbeitet. Wenn er sprach, liefen ihr mit jedem seiner Worte wohlige Schauer über den Rücken. Was er wohl über sie dachte? Manchmal, so wie eben, hatte sie den Eindruck, dass auch er sich zu ihr hingezogen fühlte. Und dann wieder wirkte er so distanziert, dass sie nicht mehr sicher war. Wollte er wirklich nichts von ihr, oder war er vielleicht einfach nur schüchtern? Sollte sie den ersten Schritt wagen? Aber wie würde er dann reagieren? Selbst im 21. Jahrhundert gab es immer noch genügend Männer, die es abstoßend fanden, wenn eine Frau auf sie zuging. Und Dschinkim war stolz. Eine zu forsche Art konnte ihn unter Umständen verletzen. Er würde sich ganz von ihr abwenden. Und dann war alles zu Ende, noch bevor es angefangen hatte.
Sie dachte an Markus, an Ali und an Saddin. Keine dieser Beziehungen war einfach und problemlos gewesen. Markus hatte drei Jahre lang sehr erfolgreich ihre Persönlichkeit unterdrückt, und sie hatte es noch nicht einmal gemerkt. Das Verhältnis zu Saddin war von vornherein nur von begrenzter Dauer gewesen, weil er sie töten wollte – oder musste, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete. Und wie sehr sie Ali geliebt hatte, war ihr eigentlich erst klar geworden, als es fast schon zu spät war. Jetzt fehlte er ihr so sehr, dass sie sich wünschte, sie hätten mehr Zeit zur Verfügung gehabt. Beatrice seufzte. Warum musste alles nur immer so kompliziert sein? Sie dachte an die kleine Schriftrolle, die sie von der alten Wahrsagerin bekommen hatte. Was wohl darin stehen mochte?
»Schau, da vorne. Dort am Horizont kannst du die Dächer von Taitu sehen«, sagte Dschinkim. Er hatte sein Pferd gezügelt, sodass sie jetzt nebeneinanderher ritten. »Wir werden bald dort sein. Doch bevor uns der Palast wieder mit seinen Klauen umfängt, wollte ich dich noch um etwas bitten.« Er sah sie an. »Das, was wir miteinander besprochen haben, sollte unter uns bleiben. Rede mit niemanden darüber, nicht einmal mit Maffeo oder Khubilai.«
»Natürlich verspreche ich dir das«, erwiderte Beatrice. »Aber willst du es wirklich vor Khubilai verheimlichen?«
»Ja.« Er wandte seinen Blick wieder zum Horizont, wo die Pagodendächer der Stadt im Licht der winterlichen Sonne glänzten wie bunte, goldeingefasste Juwelen. »Irgendwann, wenn die Gelegenheit günstig ist, werde ich Khubilai einweihen. Aber den Zeitpunkt dafür will ich bestimmen.«
Beatrice widersprach nicht. Dennoch fragte sie sich, wie Dschinkim es anstellen wollte, seinem Bruder diese Angelegenheit zu verheimlichen. Sie kannte Khubilai zwar nicht sehr gut, sie hatte ihn schließlich erst zweimal persönlich getroffen, doch sie hatte den Eindruck gewonnen, dass sich hinter der breiten Stirn des Khans ein scharfer Verstand verbarg, dem nichts von dem entging, was in seinem Reich vorfiel. Und da machte Maffeos Vergiftung sicherlich keine Ausnahme.
Aber das war Dschinkims Angelegenheit. Khubilai war schließlich sein Bruder, nicht ihrer. Sollte er ihn doch besänftigen, wenn er eines Tages wutschnaubend Rechenschaft von ihnen forderte.
Sie kamen Taitu erstaunlich schnell näher. Schließlich zügelten Dschinkim und Beatrice wie auf ein geheimes Zeichen hin ihre Pferde und blieben stehen. Bunt und strahlend schön im Licht der Sonne lag die Stadt vor ihnen. Trotzdem lief Beatrice ein Schauer über den Rücken, und wieder hatte sie den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht in das Bild passte.
»Die ›Große Stadt‹«, sagte Dschinkim. Die Art, wie er den Namen aussprach, wirkte verächtlich. »Khubilai hätte sie niemals errichten lassen sollen.«
»Maffeo und Marco erzählten mir bereits, dass du Bedenken gegen den Umzug hattest«, sagte Beatrice. »Warum eigentlich?«
»Taitu wurde von Chinesen geplant und erbaut. Erbaut für einen fremden Kaiser, einen, der nicht aus ihrem Volk stammt. Und der zudem noch Mongole ist, ein Volk, das sie zutiefst verachten und verabscheuen. Deshalb werden sie während ihrer Arbeit die Götter nicht gerade um ihren Segen angefleht haben. Mein Bruder glaubt fest daran, dass eine Stadt in der Mitte des Reiches, von Chinesen erbaut, dem Imperium Festigkeit verleihen könnte. Er hofft, dass sich die Chinesen nun mit seiner Herrschaft arrangieren können. Dass sie ihn als einen der ihren, als ihr Oberhaupt akzeptieren, jetzt, da ihre Stadt die Hauptstadt und der Mittelpunkt des Reiches geworden ist. Ihm schwebt ein Kaiserreich vor, wie es noch nie eines auf dieser Welt gegeben hat. Ein Reich, in dem die Menschen aller bekannten Völker friedlich neben- und miteinander leben und zum gegenseitigen Nutzen voneinander lernen und sich bereichern.«
»Welch eine Vorstellung! Sollte Khubilai das wirklich fertig bringen, würde er das Paradies auf Erden errichten.«
Dschinkim schnaubte verächtlich. »Das ›Paradies‹, so wie ihr Christen es nennt, ist die Aufgabe der Götter. Es ist nicht für die Lebenden bestimmt. Khubilai ist ein Träumer, ein Narr. Ein Reich, so wie es ihm vorschwebt, wird es niemals auf dieser Welt geben, nicht bis zum Ende der Zeiten.«
»Und warum nicht?«, fragte Beatrice. Khubilais Vision von einem friedlichen multikulturellen Staat gefiel ihr so gut, dass sie sie instinktiv gegen Dschinkims Pessimismus verteidigen wollte. Und dass, obwohl sie genau wusste, dass er recht hatte. Khubilai hatte es in seinem Leben nicht geschafft, seinen Traum zu verwirklichen. Und die Kriege und Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert zeigten deutlich, dass die Menschheit der Erfüllung dieses Ideals auch in den folgenden Jahrhunderten keinen Schritt näher gekommen war. »Natürlich wird es dieses perfekte Reich niemals geben, wenn jeder so denkt wie du. Wenn jeder davon ausgeht, dass ohnehin nur alles beim Alten bleibt und Veränderungen unmöglich sind, wird sich auch nie etwas ändern. Khubilais Einstellung zeugt von Mut. Ich bewundere ihn dafür. Während alle um ihn herum den Kopf in den Sand stecken, versucht er wenigstens, etwas zu bewegen.«
Dschinkim sah Beatrice mit einem wehmütigen Blick an.
»Du bist noch nicht lange hier, du verstehst es vielleicht noch nicht. Aber Chinesen und Mongolen sind zwei verschiedene Völker, so unterschiedlich in ihrer Lebensweise und ihren Vorstellungen, wie zwei Völker nur sein können. Niemals, nicht einmal in Hunderten von Jahren wird es gelingen, die tiefe Kluft zu überwinden, die unsere Völker voneinander trennt. Und da wird auch Taitu keine Ausnahme bilden. Im Gegenteil, ich fürchte, dass diese Umsiedelung nach Taitu Khubilais Herrschaft sogar zusätzlich schaden wird.«
»Wieso glaubst du das?«
»Sieh dir Taitu an und vergleiche es mit Shangdou. Dies hier ist eine Stadt mit geraden Straßen, eckigen Häusern und quadratischen Plätzen. Die Chinesen können vielleicht so leben, sie sind ein seltsames Volk mit seltsamen, starren Regeln und Grundsätzen. Sie stellen bestimmte Möbel nur in bestimmten Ecken des Raums auf, und wenn sie feiern und tanzen, so ist jede Geste, jeder Schritt seit vielen Generationen genau festgelegt. Aber wir sind Mongolen.« Er starrte auf das vor ihnen liegende Taitu, doch Beatrice hatte den Eindruck, dass er statt der bunten Dächer die zierlichen, fast durchsichtigen Türme Shangdous vor sich sah. Seine Stimme wurde leise. »Das Leben der Menschen und Tiere, der Wandel der Jahreszeiten, sogar die Wanderung der Gestirne am Himmel – alles bewegt sich in Kreisen. So war es schon immer, und so wird es sein bis zum Ende aller Tage. Deshalb sind auch die Jurten der Mongolen rund, deshalb verwenden wir runde Schilde, wenn wir in den Kampf ziehen. Und deshalb wurde auch Shangdou so erbaut – mit runden Türmen, runden Plätzen. Es ist nicht gut, wenn der Mensch aus diesem Kreis des Lebens ausbricht. Es kommt einer Beleidigung der Götter gleich. Die Chinesen spüren das möglicherweise nicht. Sie beten zu anderen Göttern. Vielleicht stören diese die eckigen Formen nicht, vielleicht fühlen ihre Götter sich in den engen Straßen aus Stein wohl. Aber bei uns ist das anders. Bei uns gibt es ein Sprichwort: Die Steppe gibt die Freiheit, die Steppe gibt das Glück. Mit dem Verlassen der Steppe haben wir beides hinter uns gelassen.« Er seufzte. »Wir hätten in Shangdou bleiben sollen. Manchmal glaube ich sogar, wir hätten damals gar nicht erst unsere Jurten verlassen dürfen.«
Betroffen betrachtete Beatrice sein von Sorgenfalten durchfurchtes Gesicht. Dschinkim schien innerhalb weniger Augenblicke um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein. Der Konflikt zwischen dem Kreis und dem Rechteck – wo hatte sie nur schon mal davon gehört oder gelesen? Natürlich, Tahca Ushte, Medizinmann der Sioux. Der alte Indianer hatte im Gespräch mit einem österreichischen Journalisten fast die gleichen Worte benutzt. Ihm zufolge hielten die Indianer am Kreis fest, weil dieser den Lauf des Lebens und der Natur symbolisierte, während die Weißen allem eine rechteckige Form gaben, die so in der Natur nicht existierte. Kreis und Rechteck. Erstaunlich, wie treffend und einleuchtend diese einfachen geometrischen Symbole einen kulturellen Konflikt erklären konnten, an dessen Grundlagen sich Generationen von Historikern und Ethnologen habilitiert hatten.
»Die Chinesen werden durch Taitu an Stärke gewinnen, aber uns wird diese Stadt schwächen. Wir haben dort nichts mehr, das uns Kraft spenden könnte – kein Gras, keinen Baum, kein Wild. Nicht einmal mehr die weiche, duftende Erde unter unseren Füßen. Oft frage ich mich, ob wir überhaupt noch unsere Pferde behalten können in dieser engen, stinkenden Stadt mit ihren Straßen aus Stein. Wenn aber ein Mongole von seinem Pferd getrennt wird, was bleibt ihm dann noch, als zu sterben? Das Leben in Taitu wird uns auslaugen und entzweien. Wir werden immer schwächer und hilfloser, bis es den Chinesen gelingt, uns zu überwinden und zu vertreiben.« Er sah wieder in die Ferne. »Wir werden dann nur noch Staub sein. Staub, der vom Wind in alle Richtungen getrieben wird wie die letzten Überreste von Shangdou.«
»Ich glaube, du siehst die Zukunft in einem zu düsteren Licht«, entgegnete Beatrice. Sie wollte etwas sagen, etwas, das diese Schwermut und Melancholie aus seinen Augen vertrieb. Sie konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen. »Vielleicht kommt ja alles ganz anders.«
Doch Dschinkim schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß, dass ich recht habe. Ich habe die Zeichen gesehen.« Er machte eine kurze Pause. »An jenem Tag, als Maffeo und ich dich in der Steppe gefunden haben, waren wir auf der Jagd. Dabei wurde mein Adlerweibchen von einem riesigen Fuchs auf grausame Art getötet. Ich wusste sofort, dass es sich um ein böses Omen handelte, um ein Zeichen des Todes. Anfangs dachte ich, dass es ein Zeichen für Khubilais bevorstehendes Ende sei, doch dann zeigten die Götter mir im Traum, dass der Fuchs ein Symbol für die Chinesen war. Und wir Mongolen sind das Adlerweibchen.« In seinen grünen Augen funkelten Tränen. »Wir werden sterben, Beatrice. Schon bald wird das Volk der Mongolen nicht mehr sein. Und es gibt nichts, was das ändern könnte.«
Beatrice schluckte. Noch ein Wort von Dschinkim, und sie würde anfangen zu heulen. Lag es daran, dass Dschinkim recht hatte, dass Khubilai das so offensichtlich Unerreichbare wollte und damit die Götter erzürnte? War Taitu nichts anderes als die mongolisch-chinesische Version des Turmbaus zu Babel?
»Nein, du irrst dich. Das Volk der Mongolen wird nicht sterben«, sagte sie sanft. »In einem Punkt hast du allerdings recht, euer Reich, so wie ihr es jetzt kennt, wird nicht mehr lange bestehen. Die Chinesen werden euch tatsächlich vertreiben und dabei ihr eigenes Reich gründen. Aber es wird in Zukunft auch ein Reich der Mongolen geben, einen großen, weitläufigen Staat im Norden des chinesischen Reiches mit einer Hauptstadt, die Ulan Bator heißen wird. Ihr werdet dort nach euren eigenen Gesetzen und euren eigenen Traditionen leben. Und in der ganzen Welt werden Dschingis Khan und Khubilai Khan berühmte und geachtete Namen sein, von denen man auch in vielen hundert Jahren noch sprechen wird. Und Shangdou… Die ›Gläserne Stadt‹ wird zu einem Ort der Sagen und Märchen, einem Ort der Sehnsucht, an dem Träume wahr werden. Du siehst«, sie lächelte und legte ihm eine Hand auf den Arm, »das Volk der Mongolen wird nicht sterben. Es lebt weiter.«
Dschinkim sah sie an. »Woher willst du das alles wissen?«, fragte er. Das Misstrauen war deutlich herauszuhören. »Kannst du in die Zukunft sehen? Bist du vielleicht doch eine Hexe, so wie ich es anfangs vermutet habe? Oder willst du mir lediglich aus Mitleid Trost spenden?« Er hob den Kopf. »Ich brauche deine Anteilnahme nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte Beatrice und schnappte mühsam nach Luft. Sie war entsetzt darüber, was sie eben alles erzählt hatte. Sie hatte geredet, ohne nachzudenken. Wie konnte sie nur so unvorsichtig sein und sich so gehen lassen? Genauso gut hätte sie Dschinkim gleich alles über den Stein der Fatima verraten können. Aber sie war nun schon zu weit gegangen. Wenn sie Dschinkims Vertrauen, das sie langsam und in mühevoller Arbeit errungen hatte, nicht gleich wieder verlieren wollte, durfte sie ihn auf gar keinen Fall mit einer billigen Ausrede abspeisen. Sie musste bei der Wahrheit bleiben, ob sie nun wollte oder nicht. »Ich will dich weder trösten, noch bin ich eine Hexe. Dennoch ist jedes Wort, das ich dir gesagt habe, wahr.«
»Und wie soll ich dir glauben?«
Beatrice biss sich auf die Lippe. Wie sollte sie es ihm erklären, ohne zu viel zu verraten?
Das hättest du dir besser vorher überlegen sollen, schalt sie sich. Jetzt bring die Sache zu Ende und halt das nächste Mal einfach den Mund.
»Du selbst hast vorhin von Maffeos Geheimnis gesprochen«, begann sie langsam. »Außerdem hast du die Vermutung geäußert, dass ich auch davon weiß. Du hast recht. Ich kenne Maffeos Geheimnis, ich teile es mit ihm. Und dieses Geheimnis offenbart mir manchmal Dinge, die anderen Menschen verborgen bleiben.«
Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie auf Dschinkims Entgegnung wartete. Sie konnte nur hoffen, dass er sie akzeptierte, ohne tiefer zu bohren und noch mehr unangenehme Fragen zu stellen.
»Und mein Volk wird nicht untergehen?« Er sah sie an, als würde sein Leben von ihrer Antwort abhängen.
»Nein. Noch in Hunderten von Jahren werden Mongolen Pferde züchten, die Falknerei betreiben und in der Steppe Reiterwettkämpfe austragen.«
»Das Nadam-Fest wird es weiterhin geben? Die Sieger der Ringkämpfe werden ihre Adlertänze aufführen, während die Verlierer unter ihren Armen hindurchgehen? Es wird auch in Zukunft Falken, Elefanten und Löwen geben?«
»Ja«, sagte Beatrice, obgleich sie nicht sicher war, was Dschinkim meinte, was es mit den Falken, Löwen und Elefanten auf sich hatte. Aber sie konnte nachher Tolui fragen. Er würde es ihr bereitwillig erklären. »Du kannst mir glauben.«
Dschinkim schloss die Augen und atmete tief ein, so als würde er zum ersten Mal seit langer, sehr langer Zeit frische, unverbrauchte Luft atmen.
»Ich danke dir«, sagte er. »Ich danke dir und den Göttern, die dich geschickt haben.«
Sie drückte seinen Arm. Mehr war nicht nötig. Er glaubte ihr, ohne dass sie ihm alle Details verraten musste. Beatrice schickte ein Dankgebet zum Himmel. Trotz ihrer Dummheit war noch einmal alles gutgegangen.
Heute Abend werde ich wohl Abbitte leisten müssen, dachte sie. Hoffentlich kann mir Fatima noch einmal verzeihen.
Spät am Abend trat Beatrice an das Fenster ihres Gemachs. Sie war allein. Maffeos Befinden hatte sich im Laufe des Tages erheblich gebessert. Wie die Diener Beatrice berichteten, hatte er bereits zur Mittagszeit mit gutem Appetit eine Mahlzeit zu sich genommen und war dann anschließend selbstständig und ohne Hilfe in seine eigene Wohnung hinübergegangen. Li Mu Bai hatte sich während ihrer Abwesenheit um Maffeo gekümmert und ihm einen Kräutersud verordnet. Es musste sich um eine überaus wirksame Arznei handeln, denn Maffeos rasche Genesung ließ sich nicht allein mit der einmaligen Kohlegabe erklären. Besonders wegen seiner Herzerkrankung hatte Beatrice mit einem langen, zögerlichen Heilungsverlauf gerechnet. Gleich als sie am späten Nachmittag nach Hause gekommen war, hatte sie bei Maffeo vorbeigeschaut, um ihn noch einmal zu untersuchen. Er hatte lächelnd und mit rosigen Wangen in seinem Bett gesessen und seinem Schreiber gerade einen Brief diktiert. Von der Tachykardie und der Pupillenerweiterung war kaum noch etwas zu merken, seine Körpertemperatur war wieder auf ein normales Maß gesunken, und die Halluzinationen waren verschwunden. Jetzt schlief er tief und fest, nur bewacht von seinem treuesten Diener. Alles war wieder im Lot. Wirklich alles?
Nachdenklich sah Beatrice in die Dunkelheit hinaus. Nein, sagte sie sich, gar nichts ist in Ordnung. Maffeo ist um ein Haar einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Wir müssen einen Mörder finden, bevor dieser sein Attentat wiederholt. Denn das nächste Mal wird dieser Mistkerl bestimmt kein Risiko mehr eingehen. Er wird eine Methode wählen, die im wahrsten Sinne des Wortes wirklich »todsicher« ist. Und während all das um mich herum geschieht, habe ich nichts Besseres zu tun, als munter die Geheimnisse des Steines der Fatima weiterzugeben. Plaudere mit Dschinkim über das, was in sieben- oder achthundert Jahren sein wird. Dämlicher kann man doch wohl kaum sein.
Ihre Wangen brannten vor Scham, und am liebsten hätte sie sich vor sich selbst irgendwo verkrochen. Doch alles Schämen, Schimpfen und Lamentieren half nichts. Es war passiert, und daran ließ sich nun mal nichts mehr ändern. Aber wie konnte sie jetzt den entstandenen Schaden wiedergutmachen?
Sie betrachtete das Räucherstäbchen in ihrer Hand. Sie hatte es aus einem kleinen Kasten genommen, der neben dem Hausaltar auf dem Flur stand, damit jeder zu jeder Zeit die Gelegenheit hatte, den Göttern ein Rauchopfer darzubringen.
Ob dies die richtige Art war, Fatima um Verzeihung zu bitten? Sie war sich nicht sicher. Aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Außerdem konnten Millionen von Buddhisten, Hindus und Gläubige anderer Religionen, die ihren Göttern Rauchopfer darbrachten, doch nicht irren.
Sie zündete das Räucherstäbchen an einer Lampe an, wartete, bis die Spitze brannte, und blies die kleine grüne Flamme dann aus. Langsam stieg die Rauchsäule in den klaren Nachthimmel auf und verbreitete dabei einen wohltuenden, beruhigenden Duft. Ihre verkrampften Muskeln begannen sich zu entspannen, ihr Herzschlag wurde ruhiger, die Stimme, die ihr Vorwürfe machte, wurde leiser und leiser, bis sie schließlich ganz verstummte. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, nein, sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte. Es war gut, dass sie Dschinkim alles gesagt hatte. Es würde den Lauf der Welt nicht verändern. Aber es würde einem Mann, der sein Volk liebte und unter seinen düsteren Vorahnungen Höllenqualen litt, das Leben erleichtern. Und wenn es nicht ihr Auftrag war, anderen Menschen in ihren Nöten beizustehen, ihre körperlichen und seelischen Leiden zu lindern, warum hatte der Stein der Fatima sonst ausgerechnet sie ausgewählt und hierher gesandt? Vielleicht war gerade das die Aufgabe gewesen, die sie hier an Khubilais Hof zu erfüllen hatte?
Beatrice schaute wieder in den Himmel hinauf. Direkt über ihr stand jenes seltsame Sternbild, das die Form eines Auges hatte. Und in dem Moment, als sie es sah, wusste sie, dass sie dieses Auge gesucht hatte, seit sie ans Fenster getreten war. Allerdings hätte sie schwören können, dass es vor wenigen Minuten noch nicht dort oben gewesen war.
Wahrscheinlich habe ich nicht richtig hingesehen, dachte sie. Es wird schon die ganze Zeit über da gewesen sein, denn Sterne können nicht einfach verschwinden und dann wieder auftauchen. Oder?
Sie betrachtete das Auge. Es stand am Himmel, groß und strahlend. Beatrice stellte sich vor, dass es zu einem Gesicht gehörte. Ein schönes, gütiges Gesicht mit einem freundlichen, verständnisvollen Lächeln.
Und während sie es noch betrachtete, schien es ihr, als würden die Sterne für einen Augenblick besonders hell leuchten.