17

 

 

 

Ahmad ging auf und ab, eingehüllt in einen dicken Mantel, ein Fez aus Fuchspelz auf dem Kopf zum Schutz gegen die grimmige Kälte. Das gefrorene Gras knirschte unter seinen weichen, mit Fell gefütterten Stiefeln. Wenn er gewollt hätte, hätte er sich auch hier lautlos fortbewegen können. Aber wozu? Es gab weit und breit nichts, vor dem er sich hätte verstecken müssen. Ganz in der Ferne konnte er die Wachfeuer der Soldaten auf der Stadtmauer erkennen. Aber hier draußen, vor den Toren der Stadt, brannte nicht einmal eine kleine Öllampe, geschweige denn eine Fackel. Wäre der Himmel bewölkt gewesen, er hätte nicht die eigene Hand vor Augen sehen können. Voller Sehnsucht dachte er an die Gärten und Oasen in seiner Heimat. In den lauen Nächten zirpten die Grillen, ein sanfter, angenehm frischer Wind fuhr durch die Wipfel der Palmen, aus den Brunnen sprudelte kühles, klares Wasser hervor, der süße Duft des Jasmins betörte die Sinne, und auf den Teichen schwammen Hunderte kleiner Talglichter. Ja, zu Hause, dort gab es Gärten, die diesen Namen verdienten, in denen Diener bereitstanden, um ihren Herren Erfrischungen anzubieten. Und wenn man die Gärten, die Städte oder Oasen verließ, war man in der unendlichen majestätischen Wüste, wo die Füße bis zum Knöchel im feinen gelben Sand versanken und die Sterne zum Greifen nahe zu sein schienen. Gut, es gab zwar auch hier den einen oder anderen Bach, aber das Wasser rauschte und plätscherte über Steine hinweg wie ein Wildbach in den Bergen. Nichts war hier fein, edel und erhaben. Hier gab es nur Wildnis, ein barbarisches, trostloses Nichts.

Im Dickicht hinter Ahmad raschelte es plötzlich. Er fuhr herum und tastete nach seinem Wurfdolch. Was war das, was dort durch die niedrigen Büsche ging? Ein Fuchs? Eine Maus? Eines der wilden Pferde, die von den Mongolen gejagt wurden? Oder möglicherweise etwas ganz anderes? Man erzählte sich, dass es in China Geister gab, böse Geister, grausame Feen und entsetzliche Dämonen. Sogar von furchtbaren Drachen sprach man, groß wie Häuser und stärker als tausend Soldaten, mit silbrig glänzenden Leibern voller Schuppen, die härter waren als die beste Klinge, und einem giftigen Feueratem, dem kein Lebewesen zu entrinnen vermochte.

Eine unsichtbare Hand schob und zerrte an Ahmads Beinen, eine höhere Macht wollte ihn dazu drängen, fortzulaufen. Fortlaufen? Nein, das kam nicht infrage. Denn feige war er nicht. Aber er sollte sich in Sicherheit bringen, sein Leben retten, bevor es zu spät war, bevor eine Horde ausgehungerter Dämonen über ihn herfiel, ihm das Herz aus der Brust riss und seine Eingeweide…

In diesem Augenblick trat ein Pferd, nur eine Armlänge von ihm entfernt, aus dem Unterholz hervor. Das Mondlicht ließ das makellose weiße Fell schimmern wie Sternenstaub. Das Pferd schüttelte den Kopf, sodass seine dichte lange Mähne glänzte wie der Schweif eines Kometen. Es schnaubte leise, und im fahlen Licht konnte er deutlich die Atemwolken vor seinen Nüstern sehen. Ahmad atmete erleichtert auf. Dieses Pferd war kein Geist, auch wenn es in diesem Augenblick so aussah. Er streckte seine Hand aus und tätschelte die Flanke des Pferdes. Das Tier nahm es kaum zur Kenntnis, setzte langsam einen Huf vor den nächsten und trottete davon, unbeeindruckt von dem Mann, der gerade versucht hatte, sich ihm zu nähern. Ahmad sah ihm nach, überrascht von so viel königlicher Würde. Vielleicht waren die Geschichten doch wahr, in denen man sich erzählte, dass die Mongolen ganz besondere Pferde hätten, Pferde, die sprechen konnten oder Zauberkräfte besaßen. Manche behaupteten sogar, dass die Pferde der Mongolen imstande waren, durch die Luft zu fliegen wie die Vögel. Selbst die Chinesen schienen diese Geschichten zu glauben, obwohl sie sonst für die Mongolen kaum mehr als Verachtung übrig hatten. Möglicherweise verbarg sich hinter den Legenden über die Zauberpferde aber auch nur der verzweifelte Versuch, zu erklären, weshalb es einem barbarischen, ungebildeten Volk wie den Mongolen gelingen konnte, die überlegenen Chinesen zu besiegen und zu unterwerfen. Aber vielleicht entsprach es auch der Wahrheit. Dies war ein seltsames Land. Und manchmal glaubte Ahmad, dass hier wohl alles möglich war.

Wieder raschelte es im Dickicht. Doch diesmal erschrak Ahmad nicht, denn deutlich erkannte er die Schritte eines Mannes.

»Sei gegrüßt, Ahmad, mein Freund«, sagte der Mann und umarmte ihn wie einen lang ersehnten Freund und küsste ihn auf die Wange. »Es freut mich, dich zu sehen.«

»Du kommst spät, Marco«, erwiderte Ahmad und löste sich aus der Umarmung. Er und Marco waren Freunde. Für den Augenblick. Doch diese Freundschaft würde schneller in Feindschaft umschlagen als das Wetter in den Bergen, wenn es einem von ihnen dienlich wäre. Wenigstens darin waren sie sich ähnlich. »Ich warte bereits seit mehr als einer Stunde auf dich.«

»Verzeih mir, mein Freund.« Der Venezianer verbeugte sich galant. Seine Stimme klang fast fröhlich. »Es gab noch dringende Geschäfte zu erledigen, die keinen Aufschub duldeten.«

Ahmad ersparte sich einen Kommentar. Das anzügliche Lächeln des jungen Mannes sprach seine eigene, deutliche Sprache. Es war typisch für den Venezianer. Das Einzige, was jemals seinen Aufstieg behindern oder ihn gar zu Fall bringen konnte, waren das Gesicht und der Körper einer schönen Frau.

»Hast du etwas in Erfahrung bringen können?«, fragte Ahmad. Er hatte keine Zeit, sich über Marcos Liebesabenteuer aufzuregen. Es gab Wichtigeres.

Das Lächeln verschwand vom Gesicht des Venezianers. »Ja, einiges. Meinem Onkel geht es gut. Viel zu gut«, fügte er grimmig hinzu. »Statt bereits mehrere Fuß tief unter der Erde zu liegen, wie es in unserer Heimat Brauch ist, erfreut sich Maffeo allerbester Gesundheit. Und nicht nur das. Obwohl er krank war, lässt er es sich nun nicht mehr nehmen, überall herumzuschnüffeln.«

Ahmad rang die Hände. Genau das hatte er befürchtet.

»Wie viel weiß er bereits? Und hat er Khubilai schon davon erzählt?«

Marco zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Mein Onkel vertraut mir schon lange nicht mehr.« Er runzelte missmutig die Stirn. »Aber eines weiß ich. Dieses angeblich so sichere Gift hat nicht gewirkt, der Plan ist jämmerlich gescheitert. Dieser Senge hat uns betrogen. Ich sage dir, Ahmad, wenn ich diesen Kerl in die Finger bekomme, werde ich ihn…«

»Was wirst du tun?«

Die raue, tiefe Stimme kam direkt vor ihnen aus der Dunkelheit, und plötzlich löste sich ein Schatten aus der Finsternis, die eben noch leer und schwarz gewesen war. Es war Senge. Ahmad spürte, wie eine eiskalte Hand seinen Nacken umfasste und das Grauen seine Wirbelsäule hinaufkroch. Der Mongole war eben noch nicht da gewesen, das hätte er bei allen Heiligen Allahs schwören können. Aber wie war er hierher gekommen? Wie war es ihm gelungen, sich unbemerkt an sie heranzuschleichen, wenn nicht durch Zauberei?

Senge trat näher zu ihnen. Seine Bewegungen waren lautlos, abgesehen vom leisen Rauschen seines langen schwarzen Mantels, der sich bei jedem seiner Schritte um seine dürre Gestalt bewegte wie die Flügel einer Krähe oder einer Fledermaus. Vielleicht war dies das Geheimnis. Vielleicht hatte Senge die Gestalt einer Krähe angenommen und war unbemerkt hierher geflogen, um Ahmad und den Venezianer zu belauschen. Alles war möglich in diesem Land.

»Was wirst du tun?«, wiederholte Senge seine Frage. »Sprich, Marco Polo, mein Freund. Deine Pläne interessieren mich sehr.«

Die Stimme des Mongolen war sanft und freundlich. Doch Ahmad täuschte sie nicht über die Gefahr hinweg, die versteckt unter dem Mantel der Freundlichkeit lauerte. Senge war gefährlicher als eine Viper und ein Skorpion zusammen.

»Ich wollte dich zur Rede stellen«, antwortete Marco und straffte seine Schultern. Er machte den Eindruck eines trotzigen Jungen, der sich vor seinem Vater verteidigt. Aber sein Gesicht war leichenblass, und der Schweiß perlte auf seiner Stirn und seiner Oberlippe.

Marco hat Angst vor Senge. Sogar er spürt, dass dieser Mongole gefährlich ist, stellte Ahmad fest und war beinahe erleichtert, dass er diesen unheimlichen Mann nicht allein fürchtete.

»Zur Rede stellen?« Senge hob eine seiner dichten schwarzen Brauen, seine Augen funkelten spöttisch. »Weswegen wolltest du mich zur Rede stellen?«

»Das Gift, das du uns für Maffeo gegeben hast, hat nicht gewirkt«, sagte Marco schnell. Man musste schnell sein, wenn man Senge gegenüberstand. Andernfalls verließ einen der Mut, und man brachte kaum mehr als ein hilfloses Stottern hervor. »Er erfreut sich immer noch bester Gesundheit und…«

Was Marco außerdem sagte, erfuhr niemand, denn in diesem Moment legte Senge den Kopf in den Nacken und lachte. Sein hartes, grausames Lachen verschlang, was immer Marco noch sagte.

Allah sei uns gnädig! Dies ist nicht das Lachen eines Menschen. Es ist das Lachen eines Dämons, dachte Ahmad. Ihm standen die Haare zu Berge.

Schließlich senkte sich das Lachen zu einem wütenden Knurren, das einem zähnefletschenden Cerberus alle Ehre gemacht hätte.

»Du wagst es, mich infrage zu stellen? Meine Methoden, meine Fähigkeiten anzuzweifeln? Elender!« Senges Stimme donnerte über Marco hinweg. »Ein Wort von mir würde genügen, und du würdest dich auf der Stelle vor mir im Staub winden wie das niedere Gewürm, zu dem du gehörst.«

Jetzt zeigte Senge sein wahres Gesicht. Seine dunklen Augen funkelten wie glühende Kohlen und schleuderten Blitze, sein Gesicht verzerrte sich zu der Fratze eines zornigen Dämons. Ahmad wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Sollte Senge seinen Worten Taten folgen lassen und Marco mithilfe seiner gottlosen schwarzen Magie in einen Wurm verwandeln, wollte er so viel Raum wie möglich zwischen sich und die beiden Kontrahenten bringen. Er war nicht wild darauf, in den Bann des Zaubers hineinzugeraten und das Schicksal des Venezianers zu teilen.

Drohend hob Senge die Hand. Seine dünnen, langen Finger krümmten sich, sodass sie im fahlen Mondlicht aussahen wie die Krallen einer Krähe oder die Klauen einer Fledermaus. Vielleicht war dies ja tatsächlich der Fall. Vielleicht war Senge dank seiner schwarzen Kunst in der Lage, nach Belieben seine Gestalt zu wechseln.

Marco duckte sich, als versuchte er, sich so klein wie möglich zu machen und dadurch dem wütenden Zauberer zu entgehen. Doch nichts geschah.

»Tu das nie wieder«, sagte Senge. Seine Stimme klang etwas ruhiger. »Niemals.«

Marco nickte. Er war kreidebleich, der Schweiß rann an seinen Schläfen hinab, und doch lächelte er, als könnte er sein Glück nicht fassen, noch einmal lebend und unversehrt davongekommen zu sein.

Ahmad atmete tief ein und stellte erst jetzt fest, dass er die ganze Zeit über vor Aufregung und Angst die Luft angehalten hatte. Es war, als wäre ein furchtbarer Sturm, ein heftiges Gewitter an ihnen vorübergezogen.

Senge drehte sich einmal um sich selbst. Und als er ihnen erneut sein Gesicht zuwandte, schien er geschrumpft zu sein. Plötzlich war er wieder nichts weiter als ein Mongole mit einem ungepflegten langen Schnurrbart und struppigen schwarzen Haaren, die unter seiner schwarzen Fellmütze hervorschauten. Kein unheimlicher Zauberer, niemand, vor dem man sich zu fürchten brauchte.

»Sei gegrüßt, Ahmad, sei gegrüßt, Marco Polo«, sagte Senge, und es klang fast so, als wäre nichts geschehen, als wäre er eben erst hier eingetroffen und hätte ihr Gespräch nicht mitangehört. Als hätte er niemals damit gedroht, Marco in einen Wurm zu verwandeln. »Ich freue mich, euch zu sehen. Nun, meine Freunde, weshalb habt ihr diese Zusammenkunft einberufen?«

Ahmad und Marco sahen sich an. Spielte Senge mit ihnen ein Spiel? Oder wusste er wirklich nicht, weshalb sie sich getroffen hatten? Hatte er ihr Gespräch nicht gehört oder… Stand Senge womöglich unter dem Einfluss eines Dämons, der sich von Zeit zu Zeit aus seinem Körper zurückzog? Ahmad wurde heiß und kalt. Wenn dies der Fall war, dann war Senge noch gefährlicher, als er gedacht hatte. Sogar um ein Vielfaches.

Marco räusperte sich. »Wir treffen uns, um über unser weiteres Vorgehen zu beraten«, sagte er und warf Ahmad einen unsicheren Blick zu. Auch der Venezianer schien nicht zu wissen, was er von Senges Benehmen halten sollte. »Wie du weißt, lebt mein Onkel Maffeo immer noch. Das Gift, das du uns gegeben hast, war entweder zu schwach, oder es hat nicht die erwünschte Wirkung gehabt. Statt also tot in seinem Sarg zu liegen, schnüffelt er in meinen und Ahmads Aufzeichnungen herum und steckt seine Nase in Dinge, die ihn nichts angehen – und genau das wollten wir eigentlich verhindern.«

Dank Senges geändertem Verhalten schienen Marcos Mut und seine scharfe Zunge wieder zurückgekehrt zu sein. Und auch Ahmad fühlte sich durch den Mongolen nicht mehr bedroht. Im Gegenteil. Er wunderte sich jetzt sogar, weshalb er überhaupt jemals Angst vor Senge gehabt hatte. Gut, der Mongole kannte sich mit der Wirkung von Giften aus, aber ansonsten war der Mann harmlos und ebenso ungebildet wie alle Mongolen.

»Ich hoffe, du erinnerst dich noch daran, dass du uns die rasche Beseitigung unseres Problems in Aussicht gestellt hast«, sagte Ahmad mit jener Schärfe, welche die Schreiber, die Diener und sogar seine Geschäftspartner so an ihm fürchteten. »Doch das ist nicht geschehen. Im Gegenteil, das Problem hat sich sogar noch vergrößert.«

Senge sah Ahmad so überrascht an, als wüsste er tatsächlich nicht, was geschehen war, als wäre er in den vergangenen Tagen überall nur nicht hier in Taitu gewesen.

»Vergrößert? Aber warum denn?«

War Senge wirklich so dumm? Wusste er tatsächlich nicht, was sein Gift angerichtet hatte? Ahmad knirschte vor Wut mit den Zähnen.

»Ich werde es dir erklären«, sagte er. Am liebsten hätte er Senge am Kragen gepackt, ihn geschüttelt und ihm mit seinem Dolch das Zeichen der Bruderschaft und das Zeichen der Fidawi in die Stirn geritzt. Trotzdem bemühte er sich, höflich zu bleiben. Denn schließlich wusste er nicht, wann der Dämon zurückkehren würde. Oder ob Senge nicht nur mit ihnen spielte und sich absichtlich verstellte. Diesem Mann, so wie er ihn bisher kennen gelernt hatte, war alles zuzutrauen. »Maffeo schnüffelt immer noch hinter uns her. Und, als würde das allein nicht ausreichen, haben wir nun auch noch Dschinkim am Hals. Sein Misstrauen ist geweckt, und er lässt uns keinen Moment mehr aus den Augen. Dieser Sohn einer räudigen Hündin will das ›Verbrechen‹ aufklären, und ihm zur Seite steht niemand Geringeres als dieses Weib aus dem Norden des Abendlandes. Die Hexe hat es bereits geschafft, mit ihren Künsten Maffeos Ableben zu verhindern. Wer weiß, wozu sie noch in der Lage ist. Vielleicht gelingt es ihr mit ihren Hexenkünsten tatsächlich, die Spuren zu uns zurück zu verfolgen. Und was dann?«

»Regt euch nicht auf, Freunde«, erwiderte Senge und lächelte sogar, als wäre das alles für ihn lediglich ein großes Vergnügen. »Mir wird schon etwas einfallen.«

»Du solltest dich aber damit beeilen, denn die Zeit wird langsam knapp«, sagte Ahmad. »Irgendwann wird Maffeo oder Dschinkim auf etwas stoßen, das uns gefährlich werden kann. Und sollte dann Khubilai davon erfahren…«

»Ich bin mir dieser Gefahr durchaus bewusst«, unterbrach ihn Senge. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und für einen kurzen Moment war es wieder der abscheuliche Dämon, der Ahmad aus den Augen des Mongolen angrinste. Zum Glück ging dieser Moment rasch vorüber. Die Gänsehaut auf Ahmads Armen aber blieb. »Auch solltet ihr nicht vergessen, dass Maffeo euer Problem ist, nicht meines. Wenn ich wollte, könnte ich euch auf der Stelle den Rücken zukehren und euch hier allein lassen. Dann müsstet ihr selbst darüber nachdenken, wie ihr diese Situation wieder in den Griff bekommt.«

Ahmad und Marco sahen sich erschrocken an. Senge hatte recht. Wenn er wollte, konnte er tatsächlich einfach verschwinden. Ihm würde niemand etwas nachweisen können, selbst wenn sie seine Mitschuld noch so sehr beteuern würden.

»Aber seid unbesorgt«, fuhr Senge fort, »ich bin ein freundlicher Mensch. Und ein einmal gegebenes Versprechen halte ich – in der Regel.« Er lachte. Und plötzlich war es wieder da, dieses grausame harte Lachen, das selbst dem tapfersten Mann den Angstschweiß aus den Poren treiben konnte. »Ich habe auch bereits einen Plan. Einen Plan, der so exzellent und genial ist, dass er alle Probleme mit einem Schlag beseitigen wird. Hört genau zu, meine Freunde, ihr werdet begeistert sein.«

Senge legte seine dünnen Arme um Ahmads und Marcos Schulter. Alles in Ahmad sträubte sich gegen diese Berührung, doch der Mongole ließ keine Gegenwehr zu. Unerbittlich zog er ihn zu sich heran, wie eine Spinne ihre Beute an sich zieht, um ihr wehrloses Opfer in einen Kokon einzuspinnen und es später auszusaugen. Senges Stimme senkte sich zu einem kaum hörbaren Flüstern, und doch drang jedes einzelne Wort in Ahmads Gehör und ließ sein Blut in den Adern erstarren wie ein giftiger, tödlicher Hauch. Als Senge fertig war, zitterte Ahmad vor innerer Kälte. Was der Mongole vorschlug, war grausam, heimtückisch, geradezu diabolisch. Aber eines war klar, Senge hatte nicht zu viel versprochen. Dieser Plan würde gelingen. Er war genial.

»Fabelhaft, Senge! Genauso machen wir es«, sagte Marco und nickte. Der Venezianer bemühte sich, kühl und erbarmungslos zu wirken, doch Ahmad erkannte an seinen hochgezogenen Schultern und seiner bleichen Gesichtsfarbe, dass er sich nur verstellte. Auch Marco Polo war das Grauen in die Glieder gefahren. »Und wann wollen wir beginnen?«

Senge lächelte. Es war das Lächeln eines Tigers vor dem Sprung. Und Ahmad fragte sich, wer in diesem Fall die Beute war, Maffeo und Dschinkim oder Marco und er selbst.

»Nun, ich dachte, die Sache wäre dringend und würde keinen Aufschub dulden? Was haltet ihr von morgen?«

»Morgen?!«, riefen Ahmad und Marco wie aus einem Mund. »Aber wir müssen doch erst planen und…«

»Macht euch darüber keine Gedanken«, sagte Senge und klopfte ihnen auf die Schultern wie ein gütiger Großvater, der seine kleinen aufgeregten Enkel beruhigt. »Ich habe schon vorgesorgt. Alles ist bereit. Und jetzt entschuldigt mich. Zur richtigen Zeit werdet ihr wieder von mir hören.«

Er tätschelte ihnen noch einmal die Schultern, dann löste er sich von ihnen. Sprachlos starrten Marco und Ahmad dem Mongolen nach und beobachteten, wie er in der Dunkelheit vor ihnen verschwand. Nur das Geräusch seiner Schritte war noch eine Weile zu hören. Der Plan würde gelingen, daran gab es keinen Zweifel. Dennoch wäre es Ahmad lieber gewesen, sie hätten mehr Zeit gehabt, um sich vorzubereiten. Nun mussten sie sich ganz und gar auf Senge verlassen. Ahmad hatte einen Instinkt für Menschen, die etwas im Schilde führten. Und dieser Sinn, der ihn niemals betrog oder im Stich ließ, meldete sich jetzt. Senge hatte von vornherein alles genau so geplant. Er hatte gewusst, dass Maffeo nicht beim ersten Versuch sterben würde. Sie waren in die vorbereitete Falle getappt. Und ganz gleich, welche dunklen, bösartigen Ziele der Mongole auch verfolgen mochte, Ahmad und Marco steckten jetzt mittendrin. Sie waren dem Mongolen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und das gefiel Ahmad nicht, das gefiel ihm überhaupt nicht.

Er seufzte. Der Wunsch, Senge niemals getroffen und um Hilfe gebeten zu haben, kam zu spät. Um etliche Monate. Als er das erste Mal davon erfahren hatte, dass der Venezianer dieses heilige Kleinod besaß, das nur den Gläubigen zustand, meinte er, nicht allein damit fertig zu werden. Er wurde allmählich alt, langsam und ungeschickt. Auch konnte er auf keine Verbündete zurückgreifen. Die waren getötet worden, vor Jahren, als Hülegü – verflucht seien seine Gebeine! – ihren Bund zerschlagen hatte. Er war allein. Aber er hätte es geschafft. Mit Allahs Hilfe wäre es ihm gelungen, den Stein in seinen Besitz zu bringen und endlich die Rache für diesen Frevel zu vollziehen. Es hätte zwar länger gedauert, aber letztendlich hätte er es geschafft. Doch niemals, nicht um alles in der Welt, hätte er sich mit dem Mongolen einlassen sollen. Das wusste er jetzt. Aber leider kam die Reue zu spät.

In diesem Moment rauschte es über ihren Köpfen, als würde ein mächtiger dunkler Vogel über sie hinwegfliegen. Ahmad starrte in den Himmel hinauf, und für einen kurzen Augenblick glaubte er, dort ein riesiges schwarzes Tier zu sehen; keinen Vogel, sondern eher ein schreckliches Ungeheuer mit mächtigen Schwingen und einem langen stachligen Schwanz. Vielleicht war es ein Drache – oder ein Dämon in seiner wahren Gestalt.

Eine Sinnestäuschung?, dachte Ahmad. Oder ist das etwa Senge? Unwillkürlich begann er zu zittern. Und plötzlich wusste er, dass er bereit war zu glauben, was er gesehen hatte – nämlich Senge in seiner wahren Gestalt, einen mächtigen Zauberer, einen Dämon. Hier in diesem seltsamen Land war wirklich alles möglich.

Die untergehende Sonne übergoss den klaren Himmel mit allen erdenklichen Rottönen, von leuchtendem Orange über feuriges Karmesin bis hin zu sattem Purpur. Es sah aus, als hätte ein begnadeter Künstler mehrere riesige Farbtöpfe über den Himmel gegossen und sie nach Lust und Laune ineinander fließen lassen.

Beatrice konnte sich nicht satt sehen an den kräftigen Farben. Sie ließen sie sogar die winterliche Kälte vergessen, die in ihre Wangen biss und unter ihren dichten, mit Fell gefütterten Mantel kroch. Diese Farben waren schön, so schön, dass sie sich nicht vorzustellen vermochte, wie die Natur so etwas Vollkommenes allein hatte hervorbringen können. Hätte sie nicht bereits an Gott geglaubt, spätestens in diesem Augenblick wäre sie nicht mehr in der Lage gewesen, die Existenz eines allmächtigen Schöpfers zu leugnen.

»Das ist…«, begann Beatrice, aber hilflos brach sie ab. Ihr fehlten einfach die Worte für das, was sie sah und fühlte.

»Göttlich«, sagte Dschinkim.

»Ja, genau. Göttlich. Das war das Wort, das ich gesucht habe.«

Sie schwiegen wieder. Dschinkim und Beatrice saßen nebeneinander auf ihren Pferden, so dicht, dass sie sich beinahe an den Knien berührten. Aber nur beinahe. Schweigend sahen sie zu, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand. Doch es war kein unangenehmes Schweigen. Es war, als ob es die fehlende körperliche Berührung zwischen ihnen ersetzte.

»Wir sollten jetzt umkehren«, sagte Dschinkim, als die Sonne verschwunden war und nur noch ihre Farben am Himmel zurückgelassen hatte. »Wenn wir uns beeilen, erreichen wir Taitu noch rechtzeitig, bevor es dunkel ist.«

»Schade. Ich könnte noch stundenlang hier bleiben.«

Dschinkim lächelte. »Und morgen früh würden wir dich dann steif gefroren hier finden. Komm jetzt. Die Nacht wird kalt.«

Sie warf Dschinkim einen kurzen Blick zu. Das Licht der Abenddämmerung ließ sein braunes Gesicht leuchten, als wäre es aus Erz gegossen. Seine grünen Augen strahlten wie Smaragde. War diese sanfte Stimme wirklich dieselbe, die sonst so hart und unnachgiebig klang und vor der die Soldaten auf dem Exerzierplatz zitterten? War dieses schöne, ebenmäßige Gesicht mit den kleinen freundlichen Falten um die Augen wirklich das gleiche, das sonst mit seinem grimmigen Ausdruck der Sonne das Licht stehlen konnte? Sie erinnerte sich noch genau daran, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Damals hätte sie nicht einmal im Traum daran geglaubt, dass sie sich eines Tages zu ihm hingezogen fühlen würde. Damals… eines Tages… Sie maß in Zeiträumen, als würde sie bereits seit mehreren Jahren an Khubilais Hof leben. Dabei waren es, wenn sie genau nachdachte, vielleicht acht, höchstens jedoch zehn Wochen. Eine verdammt kurze Zeit, um ein Leben radikal zu verändern. Trotzdem war es passiert – mal wieder.

»Du hast recht«, sagte Beatrice und schüttelte sich. Sie wollte nicht an den Stein der Fatima, an Zeitsprünge oder gar an ihr wahres Zuhause denken. Nicht jetzt. Jetzt wollte sie genießen und sich der Illusion hingeben, dass das Leben so weiterging, dass Taitu ihre Heimat war und blieb, dass sie dieses Mal niemanden zurücklassen musste. »Wahrscheinlich erwarten sie uns bereits.«

Sie wendeten ihre Pferde und ritten zurück, Seite an Seite. Schweigend. Es war erstaunlich, wie wenig Worte sie brauchten, um einander zu verstehen. Nachdem sie die Tiere in den Stall gebracht hatten, begleitete Dschinkim Beatrice bis zu ihrem Zimmer.

»Bis morgen?«, fragte Beatrice, bevor sie die Tür schloss.

Dschinkim lächelte. »Bis morgen.«

Beatrice ließ langsam die Tür ins Schloss fallen und lehnte sich gegen das Holz. Sie war glücklich. Was machte es schon aus, dass sie einander ihre Liebe noch nicht gestanden hatten? Dass er sie immer noch nicht geküsst hatte? Sie wussten, dass sie zueinander gehörten.

 

 

Beatrice fuhr aus dem Schlaf hoch und saß kerzengerade im Bett. Es war dunkel. Es musste mitten in der Nacht sein, und doch war sie sicher, dass etwas sie geweckt hatte, ein Geräusch, ein…

Jemand hämmerte so heftig gegen ihre Tür, als wollte er sie einschlagen.

»Beatrice! Beatrice, wach auf! Schnell!«

Das war doch Toluis Stimme. Sofort warf Beatrice die Decke zurück, schwang sich aus dem Bett und lief mit nackten Füßen so schnell sie konnte zur Tür.

Es war tatsächlich Tolui. Und noch bevor er den Mund aufmachte, wusste sie, dass etwas passiert war. Etwas Furchtbares. »Schnell, Beatrice, du musst kommen, sofort!«

Tolui war völlig außer sich. Seine dichten schwarzen Haare standen wirr von seinem Kopf ab, und die Kleidung war zerknittert. Sein Hemd war offen, und statt der dazugehörigen Weste trug er nur einen langen Mantel. Was auch immer geschehen war, es hatte ihn so in Panik versetzt, dass er sich noch nicht einmal die Zeit genommen hatte, sich korrekt anzuziehen.

»Was ist?«, fragte sie. »Ist etwas mit dem Khan? Ist er krank geworden?«

Tolui schüttelte den Kopf, Tränen liefen über seine bleichen Wangen. »Nein. Es ist Dschinkim…«

Beatrice fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Der Boden unter ihren Füßen wurde weich wie Watte, und die Wände und die Decke kamen auf sie zu, als hätten sie vor, sie zwischen sich zu zerquetschen.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie.

Viele mongolische Namen klangen ähnlich. Sie hatte diese Sprache zwar überraschend schnell gelernt, aber trotzdem waren ihr viele Feinheiten und Dialekte noch fremd. Wahrscheinlich hatte Tolui gar nicht von Dschinkim, ihrem Dschinkim gesprochen, sondern einen anderen Namen genannt. Sie hatte sich nur verhört. Ja, so war es wohl. Es musste einfach so sein.

»Mein Onkel! Dschinkim, der Bruder meines Vaters!«, antwortete Tolui und machte damit alle Hoffnungen zunichte. Er schluchzte, und seine Schultern bebten. »Ich glaube… ich fürchte… Beatrice, Meister, hilf uns doch! Ich fürchte, er stirbt!«

Beatrice schloss die Augen. Ihr wurde schwindlig. Das darf nicht sein, bitte, lieber Gott, mach, das dies nicht wahr ist! Dass ich träume, dass es ein übler Scherz ist, dass…

Und wenn doch?, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Wenn er wirklich krank ist und im Sterben liegt? Du bist Ärztin. Du solltest wertvolle Zeit nicht mit Spekulationen vertrödeln.

Sie atmete tief durch die Nase ein, um sich zu beruhigen. Wenn es jemals notwendig gewesen war, einen klaren Kopf zu behalten, dann jetzt.

»Ich ziehe mir schnell einen Mantel über. Und dann bringst du mich zu Dschinkim. Vielleicht können wir gemeinsam noch etwas für ihn tun.«

Sie eilte ins Zimmer zurück und riss ihren Mantel vom Stuhl. Flüchtig dachte sie daran, dass sie in eben diesem Mantel gemeinsam mit Dschinkim den Sonnenuntergang betrachtet hatte. Das war erst wenige Stunden her, und da war es ihm, so weit sie es beurteilen konnte, noch gut gegangen. Vor wenigen Stunden… Ihre Hände zitterten so stark, dass sie nicht einmal in der Lage war, den Gürtel zu schließen. Nach zwei erfolglosen Versuchen gab sie es auf. Dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Vermutlich war es Tolui nicht anders ergangen.

Gemeinsam mit dem jungen Mongolen lief sie zu Dschinkims Haus. Sie war kurzatmig, das Kind in ihrem Bauch wurde auf und ab gerüttelt und beschwerte sich mit heftigen Fußtritten gegen diese Behandlung. Sie bekam Seitenstechen, und ihre Kehle brannte vor Trockenheit. Aber sie achtete nicht darauf. Sie betete, dass Tolui sich geirrt hatte, dass Dschinkim nicht im Sterben lag, dass sie noch etwas für ihn tun konnte, dass es irgendeine Arznei oder Operation gab, eine Chance, dass ihr etwas einfiel.

Bitte, lass mich nicht zu spät kommen. Bitte!, flehte sie und beschleunigte ihre Schritte so, dass Tolui kaum noch in der Lage war, ihr zu folgen.

»Ist Dschinkim verletzt?«

Tolui schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Was ist passiert?«, fragte sie, während sie über einen Platz liefen. Es war mitten in der Nacht. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Nur die Sterne funkelten an einem klaren schwarzen Himmel, unschuldig und unbeteiligt, als wäre gar nichts geschehen, als würde Dschinkim nicht in diesem Augenblick in seinen Gemächern liegen und um sein Leben kämpfen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Tolui. Er keuchte. Natürlich, er lief diesen Weg schließlich bereits zum zweiten Mal. »Der Diener rief mich kurz nach Mitternacht. Noch am Abend, nachdem er von seinem Ritt zurückgekehrt war, traf ich ihn und habe mit ihm gesprochen. Dschinkim fühlte sich wohl und war bei bester Gesundheit. So schien es mir wenigstens. Und dann hat es mitten in der Nacht ganz plötzlich mit heftigen Leibschmerzen und Krämpfen in den Eingeweiden begonnen. Seitdem hat er seinen ganzen Magen- und Darminhalt von sich gegeben. Und es hört nicht auf.«

Eine Infektion?, fragte sich Beatrice. Oder etwa wieder eine Vergiftung? Aber warum Dschinkim?

Weil er nach der Ursache für Maffeos Vergiftung geforscht hat, beantwortete sie sich die Frage selbst. Und wahrscheinlich ist er dem Täter zu dicht auf der Spur gewesen…

Aber daran wollte sie erst einmal nicht denken. Vielleicht war es nur eine banale Infektion. Warum immer sofort mit dem Schlimmsten rechnen? Weil es meistens zutrifft, dachte sie voller Bitterkeit. Du arbeitest schon lange genug als Ärztin. Du kennst diese Regel.

»Habt ihr bereits Li Mu Bai oder einen der anderen Ärzte verständigt?«, fragte Beatrice, während sie endlich Dschinkims Haus erreichten.

»Nein.«

»Und warum nicht?«, fauchte Beatrice Tolui an.

»Ich dachte, es sei wichtiger, dass zuerst du…«

»Du dachtest? Hast du mal darüber nachgedacht, dass dies hier nicht meine Heimat ist und dass es hier möglicherweise Krankheiten gibt, die ich nicht kenne und die ich folglich auch nicht behandeln kann? Wie dumm kann ein Mensch eigentlich sein!«

Beatrice wusste, dass sie ungerecht war, dass Tolui nichts dafür konnte, dass er ebenso verzweifelt war wie sie selbst, dass er sein Bestes getan hatte. Aber sie hatte Angst. Erbärmliche Angst.

Tolui öffnete eine Tür, und sie betraten Dschinkims Schlafgemach. Überall standen Diener herum, ängstlich, starr und stumm, wie eine Horde verschreckter Kaninchen. Nur am Rande registrierte sie, dass Tolui seinen Fehler sofort korrigierte und einen der Diener damit beauftragte, so rasch wie möglich Li Mu Bai zu holen. Der Diener rannte davon, als wäre er erleichtert, endlich aus seiner Erstarrung und Nutzlosigkeit befreit worden zu sein.

Flüchtig schoss Beatrice durch den Kopf, dass sie sich zum ersten Mal in Dschinkims Schlafgemach befand. Eigentlich hatte sie es sich ganz anders vorgestellt, das erste Mal hier zu sein. Sie hatte sich ausgemalt, schön gekleidet, vielleicht sogar parfümiert zu Dschinkim zu gehen und ihm dann langsam und behutsam näher zu kommen. Doch der Anblick, der sich ihr bot, vertrieb auf der Stelle jeden weiteren Gedanken an schöne, angenehme Dinge.

Es sah aus, als hätte in diesem Raum noch vor wenigen Augenblicken ein heftiger Kampf getobt. Das Bett, ein niedriges, mit Fellen und Kissen ausgestattetes Lager, war leer. Die Decken und Laken waren zerwühlt und beschmutzt wie in einem Feldlazarett mitten im Ersten Weltkrieg. Möbel waren umgestürzt, Teppiche waren umgeschlagen und lagen nicht mehr an den Stellen, an denen sie vorher gelegen hatten. Und über allem hing der scharfe, durchdringende Geruch von Erbrochenem und Kot. Ein Diener kniete auf dem Boden und war bemüht, aufzuräumen und den Schmutz wieder zu beseitigen. Dschinkim selbst lag zusammengekrümmt wie ein Embryo im hintersten Winkel seines Schlafzimmers auf dem Boden. Er war nackt. Einer der Diener musste ihm die Kleidung ausgezogen haben, vermutlich, weil Dschinkim nicht nur das Zimmer beschmutzt hatte, sondern auch sich selbst. Beatrice kniete sich sofort neben ihn auf den Boden und tastete nach seinem Puls. Sie musste lange suchen, bis sie ihn fand. Er war schnell und beängstigend schwach. Wenn es sich um eine Infektion handelte, so war sie keinesfalls banal. Sie war lebensbedrohlich.

Dschinkim schlug die Augen auf. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Beatrice erkannte. Doch es verschwand ebenso schnell wieder.

»Sieh mich nicht an, Beatrice, nicht jetzt. Du sollst mich so nicht sehen.« Er verbarg sein Gesicht mit seinem Arm. »Welcher Narr hat dich zu mir gebracht?«

»Tolui.«

»Sobald es mir wieder besser geht, werde ich mit ihm ein ernstes Wort sprechen. Sag ihm das.«

»Dschinkim, ich bin Ärztin. Deswegen hat Tolui mich geholt. Er macht sich große Sorgen um dich.«

Entkräftet ließ Dschinkim seinen Arm wieder sinken.

»Trotzdem solltest du mich nicht in diesem jämmerlichen Zustand sehen.«

»Das ist doch jetzt unwichtig«, sagte Beatrice und versuchte, ihr Entsetzen zu verbergen. Das vor wenigen Stunden noch schöne, volle Gesicht war eingefallen und grau, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Innerhalb weniger Stunden war aus dem kräftigen, gesunden Mann ein klappriger Greis geworden.

Dschinkim ergriff ihre Hände. Die kalte Berührung ließ sie zusammenzucken.

»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit«, flüsterte er matt. »Deshalb…«

»Unsinn«, unterbrach ihn Beatrice. Sie wollte ihm Mut machen, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. »Du wirst wieder gesund.«

Dschinkim schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Der Fuchs ist jetzt zu mir gekommen. Ich weiß es, ich fühle es. Deshalb…« Er hielt inne und schloss die Augen, um Kraft zu schöpfen. Und als er sie wieder öffnete, leuchteten sie voller Wärme. »Ich möchte dir noch etwas sagen, Beatrice. Jetzt, bevor es zu spät ist und ich keine Kraft mehr habe. Ich bitte dich um Vergebung. Anfangs hielt ich dich für eine Hexe, für einen Feind. Deine Schönheit, deine Klugheit – das alles war in meinen Augen verdächtig. Erst spät habe ich begriffen, dass die Götter mir ein Geschenk gemacht haben. Leider zu spät. Trotzdem bin ich für jede Stunde dankbar, die ich mit dir verbringen konnte.«

»Sag so etwas nicht, Dschinkim«, entgegnete Beatrice sanft und strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. »Es ist noch nicht zu spät. Wir werden noch so viel Zeit füreinander haben.«

Doch im Grunde wusste sie, dass Dschinkim recht hatte. Er würde sterben. Sein Gesicht war das Antlitz des Todes. Sie presste die Lippen aufeinander. Nicht weinen, nicht jetzt! Vielleicht konnte sie doch noch etwas für ihn tun. »Sprich jetzt nicht, sondern gib mir Zeichen. Das strengt dich weniger an. Du hast Schmerzen?«

Dschinkim nickte und lächelte dabei, zärtlich, wehmütig.

»Du bist eine tapfere Kriegerin. Du stehst in der Schlacht, selbst wenn alle anderen um dich herum geflohen sind. Du und ich, Seite an Seite – wir zwei wären stark. Aber diesen Kampf haben wir beide verloren. Ich kehre nach Shangdou zurück.«

»Bitte, Dschinkim, sag das nicht.« Beatrice versuchte immer noch, die Tränen zurückzuhalten. Niemals am Krankenbett weinen. Das galt auch für Menschen, die man liebte. »Wo hast du Schmerzen?«

Doch bevor er antworten konnte, verzerrte sich sein Gesicht. Er krümmte sich zusammen und erbrach sich mitten auf Beatrices Schoß. Gleichzeitig spritzte wässrige Flüssigkeit aus seinem Darm.

»Es tut mir leid«, flüsterte er, als der Anfall vorüber war. Tränen liefen über seine Wangen, und erneut verbarg er vor lauter Scham sein Gesicht. Er zitterte heftig, so heftig, dass er seine Hände kaum mehr unter Kontrolle hatte. »Das ist eines Kriegers unwürdig.«

»Gar nichts muss dir leid tun«, sagte Beatrice und wischte ihm die Schweißperlen von der Stirn. »Genau aus diesem Grunde bin ich hier.«

»Versprich mir, dass du nicht an diesen jämmerlichen, verfallenden Körper denkst, wenn du dich eines Tages an mich erinnerst.«

»Dschinkim, ich…«

Er hob mühsam seinen Kopf, seine Stimme war kaum noch zu verstehen.

»Bitte.«

Beatrice schluckte. Ihre Augen brannten, doch immer noch gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten.

»Ich verspreche es dir.«

Dschinkim schloss die Augen und ließ seinen Kopf zurücksinken. Seine Lippen formten noch Worte, doch sie konnte sie nicht mehr hören. Vielleicht galten sie aber auch den Göttern.

Starkes Erbrechen, wässriger Durchfall – Hunderte von möglichen Diagnosen gingen Beatrice durch den Kopf. War es Cholera? Vielleicht. Doch dann fiel ihr ein, dass es diese Krankheit erst seit dem 19. Jahrhundert gab. Die Mutation eines bis dahin harmlosen Bakteriums hatte zu der gefährlichen Krankheit geführt. Also Cholera kam nicht infrage. Eine andere bakterielle Gastroenteritis? Vielleicht irgendein ekelhafter Parasit, den sie nicht kannte? Oder doch eine Vergiftung? Hoffentlich kam Li Mu Bai bald. Auf alle Fälle musste sie etwas gegen den erheblichen Flüssigkeitsverlust tun, um einen drohenden Schockzustand zu verhindern. Dem schwachen, schnellen Puls nach zu urteilen, war er davon nicht mehr weit entfernt.

»He, du!«, rief sie und winkte einen Diener herbei. »Hol sofort Wasser. Es muss salziges Wasser sein, in dem Reis gekocht wurde. Wir brauchen es in großen Mengen, am besten einen ganzen Kessel voll.«

Der Diener sah sie mit großen Augen an.

»Aber Herrin, es ist Nacht. Woher soll ich da…«

»Du meine Güte! Wenn es jetzt kein Reiswasser gibt, dann kochst du eben welches. Es sollte doch wohl möglich sein, mitten in China Reis, Salz und einen großen Topf aufzutreiben?«

»Natürlich, Herrin, ich werde…«

»Worauf wartest du dann noch? Los, beeil dich!«

Der Diener sprang hoch wie eine aufgeschreckte Maus und lief aus dem Zimmer, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.

»Was fehlt meinem Onkel?«, fragte Tolui schüchtern. Beatrice seufzte. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, sich abzulenken. »Ich weiß es noch nicht«, gestand sie und wischte mit einem der herumliegenden Kleidungsstücke ihren Mantel notdürftig sauber. Einer der Gründe, weshalb Ärzte und Pflegepersonal auf der Notaufnahme Plastikschürzen benutzten. Die konnte man anschließend einfach wegwerfen. »Zuerst ist es wichtig, ihm wieder Flüssigkeit einzuflößen. Flüssigkeit und Salze.«

»Deshalb also das salzige Wasser von gekochtem Reis?«

Beatrice nickte. Eine Infusion mit Elektrolyten und Glukose wäre ihr lieber gewesen. Viel lieber. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie Dschinkim bei diesem heftigen Erbrechen das Reiswasser bei sich behalten sollte.

»Tolui, schick einen der Diener los, um ein Stück Kohle zu besorgen«, sagte sie, während sie Dschinkim behutsam auf den Rücken drehte, damit sie seinen Bauch abtasten konnte. Natürlich hätte sie auch selbst einen Diener damit beauftragen können, aber sie brachte nicht mehr die nötige Geduld auf.

»Kohle?«, fragte Tolui verwundert. »Wozu denn das?«

Beatrice verdrehte die Augen. Neugierde und Wissensdurst waren wirklich gute Eigenschaften – aber alles zu seiner Zeit. Trotzdem brachte sie es fertig, ihn diesmal nicht anzufahren.

»Tolui, würde es dir etwas ausmachen, mir jetzt keine Fragen zu stellen? Tu bitte einfach nur, was ich dir sage. Später können wir reden. Ich kann dir dann alles genau erklären. Doch jetzt habe ich wirklich weder die Zeit noch die Nerven dafür.«

Ob Tolui es wirklich verstanden hatte, konnte sie nicht sagen. Aber wenigstens nickte er gehorsam und erhob sich.

An der Tür stieß er mit Li Mu Bai zusammen. Das Aussehen des kleinen Mönches überraschte sie wieder mal. Sie selbst sah vermutlich nicht einmal halb so frisch und ausgeschlafen aus wie er. Dabei war Li Mu Bai fast doppelt so alt wie sie. Aber vielleicht hatte man ihn auch im Gegensatz zu ihr nicht wecken müssen. Nach Beatrices Informationen begannen die buddhistischen Mönche ihren Tag immer sehr früh.

Möglich, dass Li Mu Bai bereits mitten in seiner Morgenmeditation war, als Dschinkims Diener bei ihm eingetroffen war.

»Gut, dass du da bist«, sagte Beatrice, als Li Mu Bai sich neben sie hockte. Sie mochte den kleinen Mönch. Er war ein freundlicher, gütiger, sympathischer Mann. Trotzdem hatte sie sich noch nie so darüber gefreut, diese schmächtige orangegewandete Gestalt mit dem kahlen Kopf und dem weisen Lächeln zu sehen wie gerade in diesem Moment.

»Was ist geschehen?«, fragte Li Mu Bai und ließ einen prüfenden, routinierten Blick über Dschinkim gleiten.

»Seit ein bis zwei Stunden leidet er unter heftigen Krämpfen, begleitet von starkem Erbrechen und wässrigem Durchfall. Bis zu diesem Zeitpunkt ging es ihm gut, keine Sehstörungen, kein Unwohlsein, nichts, was auf eine Erkrankung hingedeutet hätte – so erzählte man mir wenigstens. Bei der körperlichen Untersuchung konnte ich bisher keine Verletzungen wie Einstiche oder Bisse entdecken. Hast du eine Idee, was die Ursache sein könnte?«

Li Mu Bai neigte seinen Kopf zur Seite und dachte nach.

»Nein«, sagte er schließlich. »Aber vielleicht sollte ich ihn untersuchen, bevor ich Vermutungen äußere.«

»Ja, natürlich«, murmelte Beatrice.

Mühsam erhob sie sich aus der Hocke und trat ein paar Schritte zurück, um Li Mu Bai genügend Platz zu lassen. Nachdenklich sah sie zu, wie der Mönch erst Dschinkims linkes, dann das rechte Handgelenk nahm und mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand die Pulse tastete. Es hatte lange gedauert, bis sie begriffen hatte, dass sich die chinesischen Ärzte im Gegensatz zu den westlichen Schulmedizinern nicht allein für die Frequenz und den Rhythmus des Pulses interessierten. Für sie waren die Pulsqualitäten wichtig, für deren Beschreibung es unendlich viele Worte gab und deren Unterscheidung sehr viel Erfahrung brauchte. Beatrice hatte erhebliche Mühe damit. Trotz Li Mu Bais geduldiger Anleitung konnte sie immer noch nicht die feinen Unterschiede zwischen »schlüpfrig« und »fadenförmig« oder »prall« und »klopfend« erkennen, und oft genug hielt sie diese Bezeichnungen für reine Willkür. Aber die Schlüsse, welche die chinesischen Ärzte aus der Pulsdiagnose zogen, waren höchst interessant und manchmal sogar verblüffend. Und Beatrice hatte gelernt, sie zu respektieren – auch wenn sie die Hintergründe nicht verstand.

Inzwischen hatte Li Mu Bai die Pulsdiagnose beendet. Er bat den vor sich hindämmernden Dschinkim, den Mund zu öffnen, damit er sich die Zunge ansehen konnte. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Für einen kurzen Augenblick hatte Beatrice den Eindruck, als ob Li Mu Bai an Dschinkim roch, als wollte er herausfinden, welches Duftwasser der Mongole benutzte. Diesen Teil der chinesischen Untersuchung hatte Beatrice noch nie zuvor gesehen. Noch einmal prüfte Li Mu Bai Dschinkims Pulse, dann erhob er sich, leichtfüßig und geschmeidig wie ein Jüngling. Er ging ein paar Meter von Dschinkim fort und winkte Beatrice zu sich.

»Hast du etwas herausbekommen?«, fragte sie, und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Wider besseres Wissen hoffte sie, dass Li Mu Bai eine gute Nachricht für sie hatte, dass er wusste, an welcher Krankheit Dschinkim litt und welche Arznei ihn heilen konnte. Aber das freundliche Gesicht des Mönches sah geradezu erschreckend ernst aus.

»Ich fürchte, ich habe nichts Gutes zu berichten«, sagte er leise und schüttelte bedauernd den Kopf. »Sein Puls ist fadenförmig und schwach, ich konnte ihn kaum noch tasten. Das spricht für eine schwere Schädigung der Mitte, hervorgerufen durch eine Schwäche des Milz-Chi und ein rebellisches Magen-Chi. Ich…«

»Du musst es mir schon etwas genauer erklären, wenn ich das verstehen soll«, unterbrach ihn Beatrice ungeduldig. Während der Arbeit im Haus der Heilung hatte Li Mu Bai ihr zwar immer wieder die Grundlagen der chinesischen Medizin erklärt, von Meridianen und Kreisläufen, Chi, Yin und Yang gesprochen, aber so richtig hatte sie das alles bisher nicht begriffen. Und in diesem Augenblick war ihr Gehirn ohnehin nur begrenzt aufnahmefähig. »Was hat das mit diesem Milz-Chi auf sich? Und was ist ein rebellisches Magen-Chi?«

»Das Milz-Chi soll die guten Energien nach oben führen«, sagte Li Mu Bai so ruhig und geduldig wie immer. So als läge nicht ein paar Meter weiter der Thronfolger des Khans im Sterben. »Wenn das Milz-Chi zu schwach ist, fallen die guten Energien, und der Mensch verliert…«

»Aha, so erklärt ihr also das, was wir im Westen ganz einfach Durchfall nennen«, fiel Beatrice ihm ins Wort. »Und dieses Magen-Chi hat etwas mit dem Erbrechen zu tun?«

Li Mu Bai nickte. »Normalerweise soll es die Verdauungssäfte nach unten lenken.«

Beatrice seufzte. Also hatte der alte Mönch lediglich mit anderen, blumigeren und umständlicheren Worten beschrieben, dass Dschinkim unter Erbrechen und Durchfall litt. Das hatte sie allerdings auch schon vorher gewusst.

»Und nun?«

»Beides zusammen führt zu einer Schädigung der Mitte und damit zu einer Trockenheit der Säfte. Die dadurch entstehende Hitze kann den Geist verwirren, den Herzschlag beschleunigen…«

»Aber bringt uns das weiter? Warum hat Dschinkim diese Durchfälle? Wodurch wurde er krank? Hat er eine Infektion? Und vor allem – was können wir dagegen tun?«

Li Mu Bai schüttelte bekümmert den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Aber ich habe keine Hinweise für in den Körper eingetretenen Wind, Hitze oder Kälte gefunden. Was auch immer ihn krank macht, es kam nicht von außen.«

Beatrice rieb sich die Stirn und versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, was das alles bedeutete. Wenn sie sich nicht täuschte, so wollte Li Mu Bai damit sagen, dass kein Erreger die Ursache für Dschinkims Krankheit war, also entgegen ihrer Vermutung keine Infektion vorlag.

»Allerdings«, fuhr der Mönch leise fort und sah sich über die Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass sie keine Zuhörer hatten, »habe ich einen Hinweis auf giftige Nahrungssäfte gefunden.«

Beatrice sah den Mönch scharf an. »Du sprichst von Gift?«

Li Mu Bai nickte. »Ja. Entweder giftige oder alte, verdorbene Nahrung.«

»Bist du sicher?«

»Ich sehe keine andere Möglichkeit.«

Beatrice ging nervös auf und ab. »Wir müssen unbedingt herausfinden, was Dschinkim im Verlauf der letzten vierundzwanzig Stunden gegessen und getrunken hat. Vielleicht gelingt es uns auf diese Weise, ein geeignetes Gegenmittel zu finden.«

Doch Li Mu Bai schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dafür ist es zu spät. Er wird sterben.«

Beatrice fuhr herum. »Wie kannst du dir dessen so sicher sein?«, fauchte sie den Mönch an, obwohl sie wusste, dass er recht hatte. Genauso wie Dschinkim selbst. Trotzdem fiel es ihr schwer, das zu akzeptieren. Wo Leben ist, ist Hoffnung. Das musste jetzt ihre Devise sein. »Hast du dasselbe nicht auch von Maffeo gesagt?«

»Ich weiß, aber bei Maffeo Polo lagen die Dinge anders. Ich habe bei ihm nicht das getastet, was ich an Dschinkims Pulsen ertasten musste.« Li Mu Bai legte seine Hände gegeneinander und sprach so leise, dass es niemand im Raum hören konnte außer Beatrice. »Bei Dschinkim beginnt sich bereits das Yang vom Yin zu lösen. Und dann dieser Geruch…«

»Welcher Geruch?«

»Ist er dir etwa nicht aufgefallen? Der Bruder des Kaisers ist umgeben von einem durchdringenden, schon beinahe süßlichen Geruch. Er erinnert mich an den Geruch ungekochter Schweineleber.«

»Schweineleber?« Beatrice spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Wenn das wirklich zutraf… »Mir ist nichts aufgefallen. Vielleicht hast du dich getäuscht.«

Hoffentlich, fügte sie in Gedanken hinzu.

Sie kniete sich sofort neben Dschinkim nieder und roch an ihm. Natürlich hatte Li Mu Bai sich nicht geirrt, so sehr sie es sich auch gewünscht hatte. Da war wirklich der erdige Geruch von frischer, roher Leber, den sie vorher bei ihrer Untersuchung nicht wahrgenommen hatte – oder vielleicht auch nicht hatte wahrnehmen wollen. Sie schloss die Augen und versuchte krampfhaft, nicht ohnmächtig zu werden. Vor ihrem Geist tauchte das Bild eines Mannes auf, ein Patient, der vor einiger Zeit in die Notaufnahme eingeliefert worden war. Es war ein hagerer Mann mit einem dicken, aufgetriebenen Bauch, kleinen spinnenartigen roten Flecken im Gesicht, fleischig roten Lippen und gelben Augäpfeln. Jener Patient hatte eine Leberzirrhose im Endstadium und war nur wenige Tage nach seiner Einlieferung infolge des fortschreitenden Leberversagens auf der Intensivstation verstorben. Dieser Mann hatte bei seiner Einlieferung genauso gerochen wie Dschinkim jetzt. Aber das durfte nicht sein! Jener Patient war zweiundsiebzig gewesen, er war ein Alkoholiker, ein Säufer, der bereits mehrere Entziehungskuren erfolglos abgebrochen hatte. Er war schon lange nicht mehr gesund gewesen. Er hatte nicht wie Dschinkim mitten im Leben gestanden. Und – sie hatte ihn nicht geliebt.

Doch sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Dieser penetrante Geruch war ein eindeutiger Hinweis auf den beginnenden Zerfall der Leber, ein unverwechselbares Merkmal und gleichzeitig das Todesurteil. Denn sollte Dschinkim wirklich an akutem Leberzerfall leiden, so konnte ihn nur intensivmedizinische Betreuung retten – die Möglichkeit von Infusionen, Dialyse, künstlicher Beatmung. Und selbst dann stünden seine Überlebenschancen schlecht.

»Das darf einfach nicht wahr sein«, sagte Beatrice und raufte sich die Haare.

Sie wusste nicht, ob sie weinen oder schreien sollte. Wenn es etwas gab, wovor sie sich in ihrer Tätigkeit als Ärztin immer gefürchtet hatte, so war es diese Hilflosigkeit. Am Bett eines Patienten stehen zu müssen, ohne etwas tun zu können. Nie zuvor war sie in einer vergleichbaren Situation gewesen. Selbst in Buchara war ihr immer noch etwas eingefallen, um wenigstens die Leiden des Patienten zu lindern, wenn es schon keine Aussicht auf Besserung oder gar Heilung gab. Dass es jetzt ausgerechnet Dschinkim treffen musste, dass er der erste Patient war, für den sie nichts tun konnte, gar nichts, das war eine mehr als grausame Laune des Schicksals. Es war boshaft, gemein, unfair.

»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Li Mu Bai leise und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Selbst der weiseste Arzt steht machtlos daneben, wenn die Lebensenergie eines Menschen erlischt. Das ist der Kreislauf der Dinge, dem wir nur durch Meditation entrinnen können. Dich trifft keine Schuld.«

Doch Beatrice schüttelte den Kopf. Sie war keine Buddhistin. Sie konnte sich nicht einfach mit dem Schicksal abfinden und sich mit der Hoffnung abspeisen lassen, dass eine Wiedergeburt bevorstand, die Dschinkim vielleicht dem erlösenden Nirwana näher bringen würde. Sie war es gewohnt, zu kämpfen. Sie musste herausfinden, wodurch Dschinkim vergiftet worden war. Vielleicht gab es doch ein Heilmittel, ein Gegengift, das die Chinesen nicht kannten, weil es aus Europa stammte. Etwas, das das Unvermeidliche aufhielt oder sogar abwendete. So war es schließlich auch bei Maffeo gewesen. Und warum sollte es bei Dschinkim anders sein? Es war nur ein winziger Strohhalm.

Aber besser als gar keine Hoffnung, dachte sie. Heulen kannst du immer noch. Und dann kannst du dir wenigstens sagen, dass du nichts unversucht gelassen hast.

Energisch wischte sie sich die Tränen vom Gesicht und zog Tolui am Ärmel zu sich heran.

»Welcher Diener kümmert sich um die Speisen, die Dschinkim zu sich nimmt?«

»Diener?«, flüsterte er. »Welcher Diener?«

Tolui wirkte wie betäubt. Beatrice wusste nicht, ob er etwas von dem Gespräch zwischen ihr und Li Mu Bai gehört hatte. Zumindest ahnte er, worum es dabei gegangen war. Das zeigte deutlich sein verstörtes bleiches Gesicht.

»Ich will ehrlich zu dir sein, Tolui«, sagte sie und nahm all ihre Kraft zusammen. Es half niemandem, wenn sie jetzt in Tränen ausbrach, am allerwenigsten Dschinkim. »Es geht deinem Onkel sehr schlecht. Li Mu Bai ist fest davon überzeugt, dass er sterben wird. Aber…« Tolui begann zu weinen, und Beatrice schluckte.

Nicht jetzt, ermahnte sie sich. Du darfst jetzt nicht schlappmachen.

»Ich bin noch nicht bereit aufzugeben.« Sie packte Tolui bei den Schultern. »Hörst du? Sieh mich an!«

Gehorsam hob er den Kopf und wandte ihr sein tränennasses Gesicht zu.

»Solange Dschinkim noch atmet, gibt es eine Chance, und sei sie noch so gering. Wo Leben ist, ist Hoffnung. Darum ist es wichtig, dass wir so schnell wie möglich herausfinden, was Dschinkim seit gestern Abend gegessen und getrunken hat. Vielleicht gibt es doch ein Heilmittel.« Sie nahm Tolui in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Ich gebe Dschinkim nicht kampflos auf, und ich bin sicher, dass du das auch nicht willst. Wirst du mir helfen?«

Tolui nickte.

»Gut. Aber dafür brauche ich deinen klaren Verstand. Du musst dich jetzt zusammenreißen, Tolui.«

»Ja«, sagte er. »Das werde ich.«

Seine Stimme zitterte zwar, aber sein Blick war fest. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels über das Gesicht.

»Taijin«, sagte er und deutete auf einen kleinen Mann, der beinahe ebenso breit wie groß war. »Er allein kümmert sich um Dschinkims Mahlzeiten. Er besorgt die Lebensmittel und bereitet die Speisen auch eigenhändig zu. Wenn er nicht weiß, was Dschinkim in den vergangenen Tagen zu sich genommen hat, so weiß es niemand auf dieser Welt.«

»Befrage du ihn«, sagte Beatrice. »Dir gegenüber wird er sicher offener sein. Frag ihn auch nach der Herkunft der Nahrungsmittel, nach den Gewürzen und der Art der Zubereitung und ob noch weitere Personen Zugang zu Dschinkims Speisen hatten. Jede noch so unbedeutend erscheinende Einzelheit kann dabei wichtig sein. Ach ja«, Beatrice sah Tolui an, »erkundige dich auch nach dem Geschirr. Ich muss wissen, wie und von wem es gereinigt wird.«

Tolui nickte und verbeugte sich. »Jawohl, Meister. Und was wirst du in der Zwischenzeit tun?«

»Ich werde solange bei Dschinkim bleiben.«

Beatrice breitete eine Decke über Dschinkim und setzte sich neben ihn auf den Boden.

Sie war sich bewusst, dass sie zurzeit kaum mehr tun konnte, als seine kraftlose, schwielige Hand zu halten. Trotzdem brachte sie es nicht übers Herz, ihn auch nur eine Minute länger allein zu lassen.

Er war mittlerweile bewusstlos. Wenn er sich gerade jetzt übergab, konnte er daran ersticken. Außerdem konnte jeden Augenblick der Diener mit dem Reiswasser zurückkommen. Beatrice seufzte und versuchte eine halbwegs bequeme Position für sich zu finden. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würde Dschinkim ins Leberzerfallskoma hinübergleiten, und dann blieben ihnen nur noch wenige Stunden.

Mit lautem Gepolter schleppte der Diener endlich einen großen Kessel herbei. Die milchigweiße, dampfende Flüssigkeit schwappte über, und mehrfach hörte Beatrice den Mann leise fluchen, da er sich offensichtlich verbrüht hatte.

»Stell den Kessel hier neben mir auf!«, rief sie ihm zu. Sie war erleichtert, dass sie endlich aus ihrer passiven Rolle befreit wurde, dass sie endlich etwas tun konnte, und sei es auch noch so hoffnungslos.

Beatrice füllte einen Becher mit dem Reiswasser, hob Dschinkims Kopf an und hielt ihm den Becher an die Lippen. Doch nichts geschah. Er rührte sich nicht.

Sie schüttelte ihn, sie klopfte ihn auf die Wangen.

Nichts.

Beatrice spürte, wie ihr Mund trocken wurde.

Nein, dachte sie. Bitte nicht…

Langsam streckte sie ihre Hand aus, griff nach der Haut über Dschinkims Brustbein, hob sie und drehte sie einmal im Uhrzeigersinn.

Nichts.

Sie kniff Dschinkim in die Nasenscheidewand.

Immer noch nichts.

Wie in Trance hob sie eines seiner Beine an und schlug mit der Handkante auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe.

Nichts.

Beatrice schloss die Augen und legte eine Hand vor den Mund. Ihr wurde schlecht. Der Boden unter ihren Füßen wankte, verschwand. Die Welt um sie herum wurde schwarz, und trotzdem glitt sie nicht in die wohltuende Dunkelheit hinab. Eine grausame Hand hielt sie an der Oberfläche des Bewusstseins, als wollte ein abscheulicher Dämon ihr ins Gesicht lachen, sie verhöhnen und ihr sagen: Komm, bleib doch wach, sieh dir doch an, wie der Mann, den du liebst, im Koma liegt und langsam, von Minute zu Minute vor sich hin stirbt.

Tolui trat neben sie. »Was ist?«, fragte er. »Will mein Onkel nicht trinken?«

Beatrice öffnete den Mund, aber sie brachte keinen Ton hervor. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, krächzte sie schließlich heiser. Ihre Stimme klang, als hätte sie sich Watte in den Mund gestopft. Trockene, staubige Watte, an der sie gleich ersticken würde. »Es ist zu spät…« Sie richtete ihren Blick auf Tolui, der so blass wurde, als wäre er derjenige, der im Sterben lag. »Er reagiert nicht mehr, nicht einmal auf Schmerzreize. Und die Reflexe…« Sie schluckte, schluckte wieder. Die Watte wollte nicht verschwinden. Wenn sie doch wenigstens wirklich daran ersticken würde. »Sie sind weg, verstehst du? Er hat keine Reflexe mehr. Dschinkim verlässt uns. Und ich kann nichts tun… Gar nichts.«