Als sie wieder ihre Augen aufschlug, war sie geblendet von dem hellen, gleißenden Licht, das sie umgab. War sie etwa doch nicht zu Hause gelandet? War sie etwa tot? War dies der Himmel, das Paradies?
Doch dann hörte sie das Pochen und Fauchen des CTG, sie hörte Stimmen, die von Infusion und Blutdruck sprachen, und sie spürte, dass das Wasser immer noch aus ihr hervorsprudelte, schwallartig, als hätte man ihren Unterleib mit den Niagarafällen verbunden. Und im nächsten Augenblick kam wieder eine Wehe über sie. Diesmal hatte sie dabei den unwiderstehlichen Drang, zu pressen.
»Hundertzehn zu achtzig«, sagte hinter ihr eine Stimme. »Sie ist wieder da.«
»Na prima.«
Diese freundliche Stimme kannte sie doch? Das war doch… Sie drehte ihren Kopf.
»Dr. Wagner?«
»Ja, hier bin ich.«
»Was ist… Wie bin ich…«
Der Oberarzt trat in ihr Gesichtsfeld und lächelte sie an.
»Sie sind im Kreißsaal. Für einen kurzen Augenblick haben Sie uns Sorgen gemacht, Frau Doktor. Sie sind ohnmächtig geworden, und Ihr Blutdruck ist in den Keller gerauscht, vermutlich eine Nebenwirkung des Wehenhemmers. Aber jetzt haben wir alles im Griff. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen und können sich nun voll und ganz darauf konzentrieren, Ihr Baby zu bekommen.«
»Aber hat denn der Wehenhemmer nicht…«
Eine weitere Wehe schnitt ihr jedes Wort ab. Dr. Wagner ergriff ihre Hand und unterstützte sie beim Vorbeugen.
»Gut so und pressen.« Er lächelte. »Anfangs sah alles gut aus, die Wehen wurden schwächer. Aber dann, wie aus heiterem Himmel und für uns unerklärlich, setzten die Wehen wieder ein.«
»Ich sehe das Köpfchen!«, rief die Hebamme aus. »So, noch einmal, Frau Doktor, noch einmal pressen.«
Beatrice ergriff ihre Oberschenkel, zog die Beine an und neigte das Kinn zur Brust.
»Gut! Und pressen, pressen, pressen!«, riefen Dr. Wagner und die Hebamme im Chor.
Das tue ich doch die ganze Zeit!, hätte Beatrice allen am liebsten ins Gesicht geschrien, doch sie hatte kaum noch genügend Luft zum Atmen.
»Sie machen das hervorragend«, sagte Dr. Wagner.
Beatrice hatte zwar den Verdacht, dass er das zu jeder Gebärenden sagte, einer dieser typischen Standardsprüche der Ärzte, aber trotzdem tat es gut, diese Worte zu hören. Schließlich war es für sie das erste Mal.
Und wahrscheinlich auch das letzte Mal, dachte sie. Jede Frau, die diese Quälerei mehr als einmal auf sich nimmt, muss doch verrückt sein.
Wieder kam eine Wehe. Wieder presste Beatrice so stark sie konnte.
Sie hatte das Gefühl, jeden Moment würde ihr Kopf platzen. Wenn sie jetzt keine Hirnblutung kriegte, dann konnte sie sicher sein, dass sich dort kein bisher unbekanntes Aneurysma versteckte.
Lange halte ich das nicht mehr aus, dachte sie und sank keuchend und schwitzend in das Bett zurück. Sie hatte keine Kraft mehr.
»Jetzt nicht mehr pressen!«, rief ihr die Hebamme zu.
Und dann ging plötzlich alles so schnell. Sie bekam noch eine Wehe, und im nächsten Augenblick hörte sie den zuerst schwachen und dann immer lauter werdenden, quäkenden Schrei eines Babys.
»Es ist ein Mädchen«, sagte die Hebamme und legte ihr das kleine, vor sich hin wimmernde, nasse, schmierige und runzlige Geschöpf auf den Bauch. »Aber nur kurz. Die Kinderärztin muss sie noch untersuchen.«
Beatrice sah auf das kleine Wesen hinab und strich mit ihrer Hand über das nasse schwarze Haar, das wie eine dunkle Badekappe an dem Köpfchen klebte. Ein Köpfchen, kaum größer als eine Orange, und trotzdem war dort schon alles vorhanden. Alle Möglichkeiten, alle Eigenheiten. Ihre kleine Tochter. Ein neuer Mensch. Ihr liefen die Tränen über die Wangen. Sie war wunschlos glücklich. Fast.
Noch schöner wäre es, wenn Ali auch dabei sein könnte, dachte sie. Oder Dschinkim.
Zwei Stunden später lag Beatrice in einem ruhigen Einzelzimmer der Entbindungsstation und schaute aus dem Fenster. Draußen schien der Mond, die Uhr auf dem Nachttisch zeigte ein Uhr dreißig. Es war alles in Ordnung. Ihre kleine Tochter lag im Brutkasten auf der Säuglingsstation zur Beobachtung. Zum Glück handelte es sich nur um eine Vorsichtsmaßnahme. Sie war zwar sehr klein und wog nur knapp über zweitausend Gramm, aber dennoch waren alle Reifezeichen da, so als wäre sie ein normal ausgereiftes Baby und nicht ein Frühchen der dreißigsten Woche. Die Kinderärztin und die Schwestern waren darüber mehr als überrascht gewesen. Oft war sie nach dem errechneten Geburtstermin gefragt worden. Schließlich hatte man sich darauf geeinigt, dass sich der niedergelassene Gynäkologe geirrt hatte. Die Kinderärztin vertrat die Ansicht, dass Beatrice in Wirklichkeit etwa in der vierzigsten Woche gewesen und dass das mangelnde Geburtsgewicht ihrer kleinen Tochter auf den beruflichen Stress zurückzuführen war. Keiner fragte laut danach, wie in der heutigen Zeit mit Ultraschall und allen anderen Untersuchungsmethoden ein rechnerischer Fehler von beinahe zwölf Wochen möglich war. Aber es war die einzige Erklärung, welche die Ärzte hatten. Nur Beatrice wusste es besser. Es war ein Wunder. Oder doch nicht? War sie wirklich in der dreißigsten Woche oder…
In Beatrices Kopf schwirrte alles. Eben hatte sie noch neben Tolui im Grab des Dschingis Khans gestanden, hatte den scharfen, spitzen Dolch von Ahmad an der Kehle gefühlt, und dann, im nächsten Augenblick, war sie im Kreißsaal aufgewacht und hatte ihr Kind zur Welt gebracht. Hatte sie das alles etwa nur geträumt? War sie einer Geburtshalluzination erlegen?
Beatrice seufzte und betrachtete den Stein in ihrer Hand. Während der Geburt hatte sie ihn so fest umklammert, dass sich seine Umrisse in ihre Handfläche eingegraben hatten. Er war so schön, so… Seltsam. Irgendetwas an dem Stein stimmte nicht. Er sah irgendwie anders aus als sonst, fühlte sich anders an. Ungewohnt. Fremd.
Es klopfte zaghaft an der Tür.
»Herein!«
»Entschuldigen Sie«, sagte eine junge Schwester. »Ich bringe nur schnell Ihre Sachen aus dem Kreißsaal.« Sie hängte Beatrices Kleidungsstücke in den Schrank und stellte die Tasche dazu. Wann hatte sie die Tasche gepackt? Eigentlich erst vor vier Stunden. Ihr kam es vor, als wäre das in einem anderen Leben geschehen.
»Haben Sie Ihre kleine Tochter noch gesehen?«, fragte die Schwester.
»Ja.« Beatrice lächelte. Dieses kleine, winzig kleine, tapfere, starke Wesen…
»Wissen Sie schon, wie sie heißen soll?«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Ich hatte eigentlich geglaubt, dass ich bis zur Geburt noch so viel Zeit hätte. Morgen werde ich darüber nachdenken.«
Die Schwester lächelte verständnisvoll. »Wegen der Kreislaufprobleme, die Sie hatten, wird die Infusion heute Nacht noch laufen«, erklärte sie. »Wenn Sie etwas brauchen oder zur Toilette wollen, klingeln Sie bitte. Stehen Sie auf gar keinen Fall das erste Mal alleine auf. Frühstück gibt es bei uns auf der Station zwischen sieben und halb zehn. Das Büfett steht am Ende des Gangs. Morgen werden wir aber für Sie eine Ausnahme machen und Ihnen ein Frühstück zusammenstellen. Sie sollten so lange wie möglich schlafen und sich ausruhen.«
»Danke.«
»Ach ja«, die Schwester griff in ihre Kitteltasche. »Der ist im Kreißsaal aus Ihren Sachen gefallen. Wo soll ich ihn hinlegen?«
Beatrice hob ihren Kopf, sah den blauen Schimmer, der von der Handfläche der Schwester ausging, und plötzlich begann sich wieder alles um sie herum zu drehen.
»Geben Sie ihn mir«, sagte sie und schluckte, als die Schwester ihr den Stein auf die Handfläche legte.
»Brauchen Sie jetzt noch etwas?«
»Nein, danke.«
»Gute Nacht.«
Die junge Schwester verschwand. Beatrice war allein.
Sie betrachtete den Stein in ihrer linken Hand. Keine Frage, seine Rundungen waren ihr vertraut, seine Bruchkanten… Dies war ohne Zweifel ihr Stein, den sie vor langer Zeit von der alten Araberin bekommen hatte. Aber dann…
Sie öffnete ihre rechte Hand. Tatsächlich. Sie hatte nicht geträumt. Dort lag noch ein Saphir. Es war der Stein, der einst Maffeo Polo gehört hatte. Zwei Steine!
Ich muss es wissen, ich muss es jetzt einfach wissen, dachte sie.
Ihre Hände zitterten, als sie die beiden Stücke aneinander hielt. Sie drehte sie einmal und dann passten sie. Sie passten zueinander, als wären sie soeben erst zersprungen. Beatrices Herz klopfte, ihr Blut rauschte in ihren Ohren.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte sie. Dann habe ich also nicht geträumt. Dann ist alles wirklich passiert. Und ich habe jetzt zwei Steine. Aber warum?
Sie ließ ihren Kopf in das weiche Kissen sinken und dachte an Khubilai, Maffeo und Tolui. Hatte Maffeo geahnt, dass sie mit seinem Stein wieder in ihre eigene Zeit zurückkehren würde? Hatte er sie deshalb gebeten, den Stein aus dem Grab zu holen? Und was war aus Tolui geworden? Ob man ihn rechtzeitig gefunden und aus dem Grab seines Urgroßvaters befreit hatte? Oder war er etwa eines jämmerlichen Todes gestorben, verhungert und verdurstet, so wie Ahmad es geplant hatte?
»Mach dir keine Sorgen«, sagte plötzlich eine samtene Stimme. »Es ist alles gut gegangen.«
Beatrice sah überrascht auf.
»Saddin! Wie kommst du denn hierher?«
»Reg dich nicht auf, du träumst«, sagte er und lächelte. Er kam näher und setzte sich neben sie auf die Bettkante. »Ich bin nicht wirklich hier.«
Beatrice ließ sich wieder zurücksinken. Sein Duft umhüllte sie, dieser vertraute, warme Duft von Amber und Sandelholz.
»Was ist mit Tolui?«
»Sein Vater hat ihn befreit. Rechtzeitig. Ihm ist nichts geschehen.«
»Das Waffenklirren habe ich mir also nicht eingebildet? Es war wirklich da? Waren dies die Wächter, oder…«
Saddin lachte. »Nein, die Wächter gehören wohl wirklich eher in das Reich der Märchen. Aber Khubilai ist euch gefolgt. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dich und Tolui allein durch die Steppe reiten zu lassen. Und er kam mit einer Handvoll Soldaten gerade noch rechtzeitig, um dich verschwinden zu sehen.«
Beatrice seufzte. »Was geschah mit Ahmad?« – »Den Fidawi, diesen verrückten Anhänger der Assassinen?« Saddin schnaubte verächtlich. »Khubilai ließ ihn natürlich noch im Grab gefangen nehmen. Er wurde hingerichtet. Gleich nach der Rückkehr nach Taitu. Tolui selbst hat dem Henker das Zeichen gegeben.«
»Warum hat Ahmad das alles getan?«, fragte Beatrice. »Warum war er so wild auf den Stein?«
Saddin zuckte mit den Schultern. »Wer kann schon einen Fanatiker wie einen Fidawi verstehen? Ich weiß, dass er die Zerschlagung seines Bundes durch einen Mongolen rächen wollte. Natürlich am ganzen Volk der Mongolen. Diese Assassinen glauben, dass nur sie und ihre eigenen Überzeugungen ein Recht auf eine Existenz unter Allahs Sonne haben. Welche dunklen Pläne Ahmads Hirn jedoch ersonnen hatte, wer kann dies schon sagen? Dschinkims Tod gehörte dazu, Maffeos Vergiftung, die Betrügereien, mit deren Hilfe er Khubilai um viel Geld gebracht hat…«
»Er hat Dschinkim getötet?«
»Ja. Aber er war nicht allein. Senge wurde ebenfalls hingerichtet. Zwar nicht für den Mord an Dschinkim, aber das spielt eigentlich keine Rolle. Hauptsache, der Kerl ist tot. Dem Dritten im Bunde konnte man nie etwas nachweisen. Er behauptete, er habe in Dschinkims Auftrag Senge nachspioniert.« Saddin zuckte mit den Schultern. »Das Gegenteil ließ sich natürlich nie beweisen. Allerdings hat Senge ihn im Angesicht des Henkers verflucht. Bis zum Ende seines Lebens musste er sich als Lügner beschimpfen und den Spott seiner Mitbürger über sich ergehen lassen.«
Beatrice seufzte. Das war sicher die schlimmste Strafe für Marco. Schlimmer noch als der Tod.
»Und was ist mit mir?«, fragte sie leise. »Habe ich meine Aufgabe erfüllt?«
Saddin lächelte. »Ja, das hast du.«
»Aber ich habe doch den Mord an Dschinkim nicht richtig aufgeklärt.«
»Das war auch nie deine Aufgabe.«
»Aber…«
»Du hast jetzt zwei Steine.«
»Was willst du damit sagen?«
Saddin lächelte wieder. »Ich sollte jetzt wohl besser gehen«, sagte er. »Wie ich dich kenne, versuchst du noch, mich mit allen dir zur Verfügung stehenden Mitteln auszuhorchen. Dabei habe ich nur einen Auftrag zu erfüllen, nichts weiter.« Er ergriff ihre Hände, küsste sie und führte sie an seine Stirn. »Du hast deine Sache gut gemacht, Beatrice. Hüte die beiden Steine und sprich mit niemandem darüber.«
Er erhob sich und ging davon.
Beatrice wunderte sich nicht einmal, dass er direkt durch die Wand hindurchspazierte. Er war schließlich nur ein Traumbild, sonst nichts.
Beatrice wachte auf. Sie bekam gerade noch mit, dass die Schwester, die ihr den Blutdruck gemessen hatte, das Zimmer wieder verließ.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Zwei Uhr dreißig. Eine Stunde lang hatte sie geschlafen.
Sie hob ihre Hände und betrachtete die beiden Steine, die sie immer noch festhielt, als würde sie fürchten, jemand könnte sie ihr wegnehmen. Jetzt waren es zwei. Und es hatte fast den Anschein, als hätten die beiden Steine sie gefunden und nicht umgekehrt.
Sie musste an die Legende denken, an das Auge der Fatima, das der Zorn Allahs in viele Stücke zersprengt hatte. Wie viele Teile mochte es wohl noch geben?
Sie sah aus dem Fenster. Alles hatte sich doch noch zum Guten gewendet. Tolui, Maffeo… Irgendwann würde sie sich mit diesem Rätsel beschäftigen und herausfinden, warum die Steine ausgerechnet in ihren Besitz gelangt waren. Ob eine Absicht, ein Wille dahinter stand oder ob es sich nur um einen Zufall handelte. Aber nicht jetzt. Jetzt hatte sie eine andere Aufgabe zu erfüllen. Ein paar Zimmer weiter schlief ein kleines, zartes Wesen. Ihre Tochter. Sie war ein Teil von ihr und trotzdem ein ganz eigener Mensch. Die Kleine würde sie brauchen. Und sie würde dieses kleine, zarte und doch so starke Menschenkind von ganzem Herzen lieben. Immer.
Die Sichel des Mondes war gewandert.
Dort, wo er noch vor einer Stunde gestanden hatte, befand sich jetzt ein Sternbild.
»Das Auge der Fatima«, flüsterte sie. Und dann lächelte sie dem Sternbild zu.