7

Das erste Jahr vergeht, in Bruchstücken und Einzelteilen, in lauter scharfkantigen Fragmenten. Es wird durch Stimmen definiert. Durch Gespräche. Wie dieses:

»Wie wäre es mit einer Straße? Na komm, hilf uns doch ein bisschen. Du musst dich doch an ein Straßenschild erinnern. Irgendwas musst du doch noch wissen.«

Und er deutet auf den Buchstaben X auf einem Alphabet-Puzzle. »Wie das da.«

»Hey, Joe, kennst du irgendwelche Straßennamen mit X?«

»Wie wär’s mit Scheiß-Xanadu?«

»Ich glaub, das fängt aber mit S an.«

Oder wie dieses:

»Mein Dad kommt zurück.«

»Klar, du kleiner Scheißer. Meine Mom auch. Unsere Eltern kommen alle zurück. Dann essen wir einen superfetten Truthahn zu Thanksgiving und schlafen vorm Kamin ein.«

Er sieht auch gewisse Momentaufnahmen – Licht und Bewegung, Fotos, die sich aneinanderreihen lassen zu zuckenden Geschichten. Zum Beispiel die Fahrt ins Krankenhaus – er zittert auf dem sterilen weißen Flur und hat schreckliche Angst, dass man ihn hergebracht hat, um ihn einzuschläfern, wie den Dobermann des Nachbarn, der einen Mechaniker gebissen hatte. (Welcher Nachbar? Warum erinnert er sich an einen Mechaniker, aber nicht an den Namen seiner Mutter?) Der Arzt kommt zu ihm, er ist turmhoch und herrisch und riecht nach Mundwasser, und er führt ihn in ein winziges Zimmer. Passiv geht er seinem Tod entgegen. Sie zählen seine Zähne, prüfen seine feinmotorischen Fähigkeiten, röntgen seine linke Hand und das Handgelenk, um die Knochenentwicklung einzuschätzen. Dann verpassen sie ihm einen Geburtstag. Eine Woche später bekommt er einen Nachnamen.

Doe. Der übliche Platzhaltername für eine Person mit ungeklärter Identität, zugeteilt von einem gesichtslosen Angestellten in einem Büro, das er nie zu sehen bekommen hat. Die Tatsache, dass ihm so ein verdammter Name einfach für alle Zeiten auferlegt werden konnte, wirkt wie ein Satzzeichen in einem Urteil, das lebenslänglich lautet, und das über ihn verhängt worden ist für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Michael Doe. Er wurde wiedergeboren, hat einen neuen Namen und kann jetzt ganz von vorne anfangen.

Im Laufe der Monate hat er seinen Erinnerungen hie und da etwas hinzugefügt, hat sie ergänzt, denn der Schock hat ihn Teile seines Gedächtnisses gekostet. Er hat den erzählerischen Bogen seiner Lebensgeschichte auf Hochglanz poliert, wie einen glatt geschliffenen Stein im Flussbett, er hat Konturen und Kanten eingearbeitet, bis das, was blieb, was er betrachtete, vielleicht gar nicht mehr dieselbe Form hatte, bis er aus demselben Marmorblock eine neue Skulptur herausgemeißelt hatte. Aber das – dieses wilde Konglomerat aus Vergangenheit und späteren Bearbeitungen – ist alles, was er hat. Das ist seine fehlerhafte Vergangenheit. Und genau so lebt sie in ihm weiter.

Danach kommt ein einziger Schneesturm.

Und als der sich legt, ist er sechs.

Ein heruntergekommenes Haus am Ende einer von Bäumen überschatteten Straße. Er kniet vor einem Erkerfenster, die Nase an der Scheibe, die Ellbogen auf dem Fensterbrett, seine Fäuste schieben die Wangen nach oben. Und er wartet. Das karierte gelbe Kissen unter seinen Knien stinkt nach Katzenpisse. Und er wartet. Ein Auto nähert sich, und er bekommt Herzklopfen vor freudiger Aufregung, aber das Auto fährt weiter, fährt davon. Und er wartet.

Eine Mädchenstimme hinter ihm. »Der Trottel glaubt immer noch, dass Daddy zurückkommt.«

Er hat niemandem von seiner Mutter erzählt. Dass er den Verdacht hat, sie könnte tot sein. Seine Gedanken huschen dahin wie ein Schmetterling über giftige Pflanzen. Hat sein Vater sie umgebracht? Hat er ein Messer benutzt? Ist das sein blutiges Erbe?

Er wendet sich nicht vom Fenster ab, aber seine Gedanken sind jetzt bei den Kindern, die sich hinter ihm sammeln. Ihre Turnschuhe machen schlurfende Geräusche auf dem ausgetretenen Teppichboden. Eine hohe, präpubertäre Stimme erhebt sich über alle anderen, mit der Grausamkeit kleiner Jungen: »Find dich damit ab, Doey-Baby. Papa wollte dich eben nicht.«

Mike versucht, die Zeit zu verlangsamen. Er trifft die bewusste Entscheidung, eine Faust zu ballen, der Reihe nach zieht er die Finger ein, drückt sie zusammen, überlegt, wo er den Daumen hintun soll. Er wird seine Hand benutzen, um zuzuschlagen. Die Wut gewinnt die Oberhand und ergreift schlagartig Besitz von ihm. Der überraschte wie eingefrorene Gesichtsausdruck auf Charlie Dubronskis Gesicht, als Mike zuschlägt. Doch eine Faust, die größer ist als seine, löscht den hellen Morgen aus. Ein einziger Wirbel aus rostfarbenem Teppich und ein dumpfer Schmerz im Kiefer. Und dann Dubronski, wie er sich über ihn lehnt, die Hände auf die feisten Knie gestützt, und mit seinem roten Gesicht höhnisch grinsend auf ihn niederblickt. »Na, wie ist das Wetter da unten, Doey-Baby?«

Und Mike denkt nur: Nächstes Mal geh ich’s ruhiger an.

Wochen später steht er um drei Uhr morgens im Badezimmer. Das ist die einzige Zeit, zu der niemand hier ist. Er braucht einen Schemel, um sich übers Waschbecken beugen und sein Gesicht im fahlen Nachtlicht betrachten zu können. Wenn er in den Spiegel schaut, sieht er einen Vermissten. Er untersucht seine Gesichtszüge. Er hat nicht die hohen Wangenknochen seiner Mutter. Er hat auch nicht ihr schönes schwarzbraunes Haar. Seine Haut riecht nicht nach Zimt, und in seiner Kleidung hängt nicht der leichte Hauch von Patschuli, wie bei ihr. Abgesehen von den letzten Bildern sind seine Erinnerungen an seinen Vater durchgehend gute, freundliche. Aber Erinnerungen werden nach Qualität gewertet, nicht nach Quantität. Er ruft sich die Hände seines Vaters am Lenkrad ins Gedächtnis. Den roten Spritzer auf seiner Manschette.

Er kann nicht anders, er hat einfach Angst davor, wie ähnlich er seinem Vater sein könnte.

Seinen Nachnamen kennt er nicht. Er weiß nicht, in welchem Staat er geboren ist. Er weiß nicht, wie sein Kinderzimmer aussah, oder was für Spielzeug er hatte, oder ob seine Mutter ihn jemals auf die Stirn geküsst hat, wie es die Mütter in den ganzen Kinderbüchern immer tun. Aber er weiß jetzt, dass er ungefähr sechs Jahre alt ist und in einem überfüllten Pflegeheim im smogverhangenen Valley groß wird.

Tageslicht. Die Couch-Mutter liegt auf ihrem Cordsofa, das für sie wie das Schneckenhaus für einen Einsiedlerkrebs ist. Sie ruft ihnen Anweisungen zu und verströmt dabei einen Geruch von Babypuder und noch etwas Schlimmerem, Verwesung vielleicht. Ein Aschenbecher surft ganz eigenständig auf den Wellen zwischen formlosen Brüsten und Oberschenkeln, auf einem Meer aus Vichy-Karo. Das rote Haar hat sie zu einer Sechziger-Jahre-Tolle frisiert, auf ihren Lippen spielt ein lässiges Lächeln, und ihre Virginia-Slims-Stimme scheppert ihnen durch den Flur nach: Charlie, mein Schatz, heb die Badematte auf. Tony, mein Schatz, mach mal den Abwasch. Michael, mein Schatz, leer mir doch mal meinen Aschenbecher aus.

Die Bürgerhilfe. Er hasst die Bürgerhilfe. Er hasst es, wenn er der Letzte ist, der seine neue Kleidung für die Schule bekommt, und am Ende nur noch das lachsfarbene Hemd übrig ist, das die anderen – den ganzen Tag lang – grausamerweise als rosa bezeichnen. Nachts hütet er seine Hemden, er schläft darauf. Aber heute Nacht, als er vom Zähneputzen zurückkommt, hat jemand sein Kissen weggezogen, und das blaugestreifte Hemd ist verschwunden. Dubronski sitzt im Schneidersitz auf seinem Bett und lächelt. Und Tony Moreno, sein dürrer Kumpel, muss sich unerklärlicherweise ausschütten vor Lachen.

»Gib es wieder her«, verlangt Mike.

Dubronski hebt seine pummeligen Hände, als wollte er Regentropfen auffangen. »Gib was wieder her?«

Für Tony M. ist diese Vorstellung umwerfend komisch.

»Es passt dir ja nicht mal«, sagte Mike.

»Warum holst du’s dir dann nicht wieder?«, fragt Dubronski. »Ach so, stimmt ja. Weil ich dir dann die Fresse polieren würde.«

Irgendetwas Hartes, Funkelndes flammt in Mikes Brust auf. Weißglühend, aber diesmal kontrolliert. Er beugt sich vor und sagt: »Ja. Aber irgendwann musst du auch mal schlafen. Und mein Bett steht direkt neben deinem.«

Dubronskis Gesichtszüge entgleisen einen Moment. Tony M. hört auf zu lachen. Im nächsten Augenblick hat Dubronski sich wieder gefangen und versucht, mit groben Worten seine überlegene Position wieder zurückzugewinnen. Er kann das Hemd nicht zurückgeben, nicht jetzt, wo ihm sechs Augenpaare von den anderen Klappbetten zusehen. Aber als es dunkel ist, liegt der Geruch seiner Angst im Raum. Der Bann ist gebrochen.

Am nächsten Tag humpelt Dubronski auf dem Weg in die Schule. Und Mike ist der Träger des blaugestreiften Hemdes.

Wie immer kniet er am Erkerfenster. Und er wartet. Michael, mein Schatz, geht doch raus zum Spielen – du wohnst ja fast schon an diesem Fenster. Ein neues Kind ist dazugekommen, nichts als Haut und Knochen, aber seine Füße sind groß, wie die Pfoten eines Hundes. Als er ankam, war sein Haar lockig und lang, aber jetzt ist es stoppelkurz geschoren wie bei allen anderen. Die Kopfläuse machen so oft die Runde, dass die Couch-Mutter nur noch den Bürstenschnitt erlaubt. Sie schwingt ihren Rasierer mit der unpersönlichen Effektivität eines Bürokraten, der ein Gesuch ablehnt. Funktion kommt grundsätzlich vor Form.

Der neue Junge hat einen Hundenamen, der zu seinen Hundepfoten passt: Shep. Dubronski und Tony M. verprügeln ihn gerade. Mike schaut von seinem Kissen zu, wie der Junge mit blutig geschlagenen Lippen wieder aufsteht. Und der nächste Schlag. Dubronskis Mund bewegt sich. Bleib liegen, du schwule Sau. Sämtliche Nachbarskinder kleben an den Fenstern. Sie sind das Römertheater in Shady Lane 1788 schon gewöhnt. Shep rappelt sich mühsam wieder hoch. Dubronski holt zum fünften oder fünfzehnten Mal mit der Faust aus. Die Stimme der Couch-Mutter kommt aus dem Wohnzimmer – »Aaaabendessen« – und setzt dem Fest für heute ein Ende.

Die Stimme des neuen Jungen ist komisch, irgendwie zu laut – Hey, du hörst dich ja an wie ein Behinderter, warum hörst du dich an wie ein Behinderter – deswegen redet er nicht viel. Er sitzt mit gesenktem Kopf am langen Küchentisch und schaufelt das Essen in sich hinein, aber sein zaundürrer Körper scheint die Kalorien schon verbrannt zu haben, bevor er auch nur fertig gekaut hat. Die Couch-Mutter steht auf, um sich Light-Limonade nachzuschenken, und Dubronski lehnt sich über den Tisch und haut gegen die Gabel, die Shep sich gerade in den Mund schieben will. Shep stößt einen schwachen Schrei aus. Die Couch-Mutter wirbelt herum. »Shepherd, mein Schatz, was ist?« Er zuckt zusammen und schüttelt nur den Kopf. Als die Couch-Mutter wieder hinter der Kühlschranktür verschwunden ist, drückt er seinen Mund auf eine Serviette und lässt seine mit Blut vermischte Spucke hineinlaufen.

Ein Traum. Hinter zuckenden Lidern tanzen Mikes Phantasiebilder von häuslichem Glück, Waffeleisen und cremeweißen Leinentischdecken. Dann wacht er auf seinem zu kurzen Klappbett auf und starrt an die Decke, auf der ein Wasserschaden lauter algenbraune Flecken hinterlassen hat.

Am nächsten Tag kniet er wieder auf seinem gelb karierten Kissen. Und er wartet. Shep ist draußen. Die Couch-Mutter im Fernsehzimmer ist ganz mit einer Talkshow und einer Melone beschäftigt. Draußen hämmert Dubronski gerade Shep systematisch in den Staub. Dieser steht mit zerrissener Jeans und blutigen Knien wieder auf. Sogar Tony M. darf mitmachen und den Kleinen zu Boden schlagen. Mike hört Dubronskis entnervten Ausruf: »Bleib liegen, du Wichser! Bleib liegen!« Shep steht wieder auf. Mike wendet den Blick zum Ende der Straße. Kein Kombi in Sicht.

Heute ist Hamburger-Abend. Da gestern Zucchini im Sonderangebot waren, müssen sie als Ersatz für die Zwiebeln herhalten. Zucchinistückchen haben in einem Hamburger natürlich nichts zu suchen, und das mit gutem Grund. Doch die Pflegekinder sind hungrig und essen mit Genuss. The Police singen ihr Da-da-da aus dem knatternden Radio neben dem Toaster. Dubronski hat sich gerade seine Insulinspritze gegeben – Nicht vergessen, Charlie, mein Schatz: Wenn dir kühl wird, brauchst du was Süßes, fühlst du eher Hitze, brauchst du eine Spritze – also muss er fünfzehn Minuten warten, bis er essen darf. Als die Zeit um ist, schlendert er in die Küche. Auf dem Rückweg bleibt er hinter Shep stehen, hebt sein überladenes Tablett über Sheps Kopf und lässt es dann vor ihm auf den Tisch donnern. Es klingt wie ein Gewehrschuss in einem Banktresor, aber Shep zuckt nicht mal mit der Wimper. Ein Sprühregen aus krümeligem Hackfleisch geht auf sein Gesicht nieder. Völlig ungerührt wischt er sich mit einem Finger etwas von der Wange und steckt es sich in den Mund. Die Couch-Mutter schaut ihn mit wabbelndem Doppelkinn von der Seite an, und am nächsten Tag kommt Shep zu spät in die Schule und trägt ein Hörgerät vom Shriners Hospital. In der Pause auf dem Spielplatz findet Dubronski zielsicher sein Opfer. »Hey, schaut euch den alten Mann an! Shep braucht ein Hörgerät wie ein alter Mann!« Inzwischen hat sich eine kleine Menge zusammengeschart. Shep zieht sich die fleischfarbenen Apparate aus den Ohren, lässt sie auf den Boden fallen und zertritt sie mit einem Turnschuh. Sein starrer Blick ist Zen-artig ruhig, und sogar seine Stimme klingt ausnahmsweise ganz gleichmäßig: »Überhaupt nichts brauch ich.«

Ein Gerücht macht die Runde, von Sheps saufendem Vater und einem Gewehr mit Platzpatronen. Aber Shep verschließt sich wie eine Muschel und weigert sich, seinen Schatz preiszugeben. Wo Mike körperliche Kraft hat, hat Shep Willenskraft, und Mike ist schlau genug zu erkennen, was das seltenere ist.

Es vergehen ein paar Monate, und Mike kniet immer noch auf dem nach Pisse stinkenden, gelben Kissen und drückt sich die Nase am Erkerfenster platt. Ein unirdisches Licht durchdringt Shady Lane 1788 und färbt alles schiefergrau ein – es sieht aus wie in einem Schwarzweiß-Film. Die Straße ist leer. Ein Kombi biegt in die Straße, und Mike spürt, wie sein Herz sich aufschwingen will. Das Auto nähert sich und – ja! – hält am Bordstein und – ja! – es ist ein Mann, ein einzelner Mann, der aussteigt – ja! – und er geht über den Gehweg, und ein Lichtstrahl fällt durch die Bäume und das schiefergraue Leichentuch und – ja! – das ist sein Vater. Mike rennt zur Tür und wird von starken Armen hochgehoben, sein Vater und er drehen eine Pirouette wie ein Pärchen in der Shampoo-Werbung, und er drückt ihn an sich, fühlt seine Wange warm an der eigenen und einen Hauch von Stoppeln unter der glatten Rasur, das Knistern des gestärkten Kragens. Sein Vater setzt ihn wieder ab und sagt: Es tut mir so leid. Ich bin zum Spielplatz zurückgekommen, um dich abzuholen, aber da warst du schon weg. Ich hab dich monatelang gesucht, jede wache Stunde, ich hab nicht mehr gegessen und nicht mehr geschlafen. Schau, da – er hält ihm die Manschette mit dem blutroten Spritzer vor die Nase – das ist nur ein Spritzer Preiselbeersaft, und schau, da – er deutet auf das Auto, und da ist seine Mutter, die ihm vom Beifahrersitz zuwinkt und mit ihrem Lächeln ein eigenes Licht verströmt, und …

Mike wird wachgerüttelt. Er reißt sich los, vergräbt sein Gesicht im Kissen und versucht, die Überreste seines Traums wiederzufinden. Aber die große Hand ist hartnäckig. Er dreht sich auf den Rücken und starrt in das parfümierte Gesicht, an dessen schlaffer Haut die Schwerkraft zerrt. »Michael, mein Schatz, komm mit.«

Sofort ist er in panischen Schweiß gebadet – wieder umziehen, wieder allein gelassen werden – aber er kommt mit, folgt der Couch-Mutter in Unterwäsche auf eiskalten, nackten Füßen, geht seinem Verderben oder Verlassenwerden entgegen. Sie bewegt sich mit vorsichtigen Schritten, aber das Haus knarrt trotzdem unter ihrem Gewicht. In die Küche, in einen Streifen gelbes Licht von der Lampe vor der Tür, und Mike schaut blinzelnd auf den Tisch: ein Kuchen! Sein Name in Buchstaben aus Zuckerguss. Er schaut die Couch-Mutter an, aber sie betrachtet den Kuchen mit glänzenden Augen. Das ist ihr kleines Geheimnis. Sein Hirn läuft auf Hochtouren. »Aber ich hab doch gar nicht Geburtstag.« – »Nein«, sagt die Couch-Mutter, »aber heute ist unser Geburtstag. Heute ist es genau ein Jahr, dass ich dich bekommen habe.« Er schnappt nach Luft. Dann springt er zu ihr, umarmt sie, vergräbt sein Gesicht in den weichen Falten ihres Nachthemds. »Ich liebe dich«, sagt er, und sie sagt, »Na, na, jetzt wollen wir mal nicht übertreiben.«

Am nächsten Tag kniet er wieder auf seinem Kissen. Und er wartet. Auf dem Erkerfenster haben seine Nase und seine Stirn schon tausend Schmierspuren hinterlassen. Tausendundeine. Und er wartet. Er denkt an die Zeit, die er schon auf diesem Katzenpisse-Kissen verbracht hat und fragt sich, ob das schon das ganze Leben ist, ein Jahr nach dem anderen. Jahr für Jahr nichts Bemerkenswertes, nur eine einzige sonnenverbrannte Folter. Draußen kassiert Shep gerade seine tägliche Tracht Prügel. Er liegt auf dem Rücken in den wunderschön herbstgefärbten Blättern und Dubronski fuchtelt ihm mit der Faust vor dem Gesicht herum. »Bleib liegen, du Zwerg. Bleib liegen.« Shep rappelt sich wieder hoch. Mikes Augen folgen der Arkade gelb-oranger Blätter und ihrem geometrischen Mustern bis zum Ende der Straße, zu dem Kombi, der immer noch nicht aufgetaucht ist. Und er wartet. Er versucht, die Zeit anzuhalten, das Bild einzufrieren wie ein Foto, diesen nicht im Geringsten außergewöhnlichen Moment, nur um ihn zu haben, um etwas zu haben, woran er sich festhalten kann, was er behalten kann. Er wartet auf seinen Vater.

Und dann, von einem Moment auf den anderen, hasst er ihn.

Shep steht wieder – nein, nicht mehr. Tony M., der unerklärlicherweise einen Baseballhelm der Los Angeles Angels trägt, gackert sein bescheuertes Lachen, haut Dubronski auf die Schultern und hüpft vor Begeisterung auf und ab. Shep, der sich inzwischen wieder auf alle vieren hochgerappelt hat, hält kurz inne. Zum ersten Mal hat er etwas von seinem Schwung eingebüßt. Dubronski johlt: »Ich hab’s dir gesagt, du tauber Zwerg, ich hab’s dir doch gleich gesagt, irgendwann bleibst du liegen.« Shep blickt zu ihm auf, zu der Faust, die über ihm schwebt, aber er schafft es nicht, sich ganz aufzurichten. Mike weiß, wenn Shep jetzt nicht wieder aufsteht, wird auf diesem braunen Rasenstück vor der Shady Lane 1788 etwas Schönes für immer sterben.

Mike geht hinaus. Dubronski steht in Siegerpose über Shep. Tony M. und drei andere bilden einen Halbkreis um ihn und stimmen ein Siegesgeschrei an. Als sie hören, wie die Fliegengittertür zufällt, drehen sie sich um. Man sieht, wie sich auf Dubronskis breitem Gesicht die Verunsicherung breitmacht. Mike stellt sich vor den Halbkreis, direkt gegenüber von Dubronski, im Abstand von einem guten halben Meter, genau richtig für einen Haken. Hinter Mike ist Shep immer noch auf allen vieren, Mike spürt seine Körperwärme an den Waden.

»Steh auf«, sagt Mike laut.

Er hört Shep laut schnaufen. Er hört Shep vor Anstrengung ächzen. Und dann sieht Mike seinen Schatten.

Shep steht wieder aufrecht.

Dubronski läuft feuerrot an. »Ihr passt zusammen, ihr zwei Schwulis«, sagt er, aber er befindet sich schon auf dem Rückzug und bahnt sich einen Weg durch sein Publikum, das sich nun auch zerstreut. Sie gehen hinein. In Shady Lane 1788 ist es jetzt ganz still. Die Dämmerung bricht an, bald gibt es Abendessen.

 

Mit der Sachlichkeit eines Geschäftsmannes, der seinen Anzug mit der Fusselbürste bearbeitet, bürstet sich Shep den Dreck von seinen Sachen. Mike geht zum Haus.

Shep folgt ihm.

 

»Wo habt ihr die her?« Die Couch-Mutter steht vor ihnen, und hält ihnen anklagend die kleinen Schnapsfläschchen vor die Nase, die sich auf ihrer roten, kissenartigen Handfläche winzig klein ausnehmen. Ihre Beine zittern unter der Last ihres Körpergewichts.

Mike und Shep sind zehn. Sie sind mittlerweile gleich groß, aber Mike ist breiter, robuster gebaut, während Shep aussieht, als hätte man ihn einfach wie ein Toffeebonbon in die Länge gezogen.

»Was?«, fragt Shep.

Er hat gelernt, leise zu sprechen, um seine Stimme unter Kontrolle zu halten und sein schlechtes Gehör zu kompensieren, seine explodierenden, kehligen Laute und die verschwommenen Konsonanten. Die Leute beugen sich zu ihm vor, um die Worte zu verstehen, machen ein, zwei Schritte auf ihn zu. Wenn sich die Welt für ihn interessiert, wird sie zu ihm hingezogen. Meistens ist sie aber gar nicht interessiert. Also hat er etwas anderes gelernt. Er hat gelernt, seine Beinahe-Taubheit zu seinem Vorteil zu nutzen.

In diesem Moment ist es offensichtlicher denn je.

Der Blick der Couch-Mutter wandert von Shep zu Mike. Er starrt auf ihren Häkelpullover mit den Ascheflecken, verzieht das Gesicht und sagt:

»Von Valley Liquor.«

Die Couch-Mutter runzelt die Stirn, und ihr ganzes Gesicht faltet sich um ihre Lippen zusammen. »Wir gehen da jetzt hin und geben die zurück, und ihr werdet euch beide entschuldigen und eure Strafe annehmen. Habt ihr mich verstanden?«

Mike sieht zu, wie die Fünfzig-Milliliter-Fläschchen Jack Daniel’s in ihrer Elefantentasche verschwinden. »Ja, Madam«, sagt er.

»Was?«, fragt Shep.

Die Couch-Mutter macht keine leeren Worte. Sie scheucht sie nach draußen und setzt sich in ihren leidgeprüften Pontiac. Mike hat sie erst ein paar Mal fahren sehen, und dann auch nur ins Krankenhaus, wenn jemand genäht werden musste oder das Fieber absolut nicht heruntergehen wollte. Vom Beifahrersitz sind nur noch die Federn da, und der Fahrersitz ist so weit zurückgeschoben, dass Shep sich auf dem Rücksitz auf Mikes Schoß setzen muss. Ängstlich beobachten sie, wie die Umgebung an ihnen vorbeizieht, während die Couch-Mutter durch die Straße fährt und ächzend am Lenkrad kurbelt – das Auto hat keine Servolenkung, und ihr Bauch sorgt für zusätzlichen Widerstand.

Wenig später stehen sie in Habachtstellung vor dem Tresen des Spirituosenladens und Mr. Sandoval, der sie nie die Comics durchblättern lässt, der eine genervte Miene zieht, wenn er ihr Kleingeld für die Dr.-Pepper-Limonade zählt, und der sie einfach nur hasst. Mike murmelt eine Entschuldigung, und Mr. Sandoval, der vor der Couch-Mutter ausnahmsweise einmal nicht flucht, heuchelt mit großem Trara jovialen Großmut.

Auch Shep müsste sich jetzt entschuldigen, aber Mike weiß, dass er das nicht tun wird. Shep ist nicht wie er oder irgendjemand anders, er ist aus Stahl und Zement, ihn kann man nicht brechen.

»Shepherd, mein Schatz, du bist dran.«

»Was?«

»Das Spielchen spielst du nicht mit mir. Entschuldige dich sofort bei Mr. Sandoval.«

»Was?«

Es eskaliert, bis Mike unwohl in seiner Haut wird, bis er nach hinten ausweicht, so dass seine Schulter die großen Schnapsflaschen auf den Regalen streift. Er bemerkt ein Bild, dass sich Mr. Sandoval an die Registrierkasse geklebt hat – seine Tochter. Es ist eine Aufnahme, die in der Schule gemacht worden ist, und sie strahlt ganz stolz, aber ihr kleiner Rock hat Flecken und ist am Saum ausgefranst. Er erinnert Mike an die Hemden bei der Bürgerhilfe, und Schuldgefühle überfluten ihn, seine Vorurteile lösen sich Schritt für Schritt in Luft auf, zerbrechen wie fallen gelassene Eier auf dem Boden. Aber seine Reue ist nur vorübergehend, denn die Couch-Mutter hat die Stimme mittlerweile so gehoben, dass sie jeden Gedanken übertönt.

Als es gerade so aussieht, als würde Shep doch triumphieren und sie mit seiner Sturheit in die Knie zwingen, murmelt er: »Tut mir leid.«

Mike ist schockiert. Er hat Shep noch nie einknicken sehen, und er befürchtet, dass dieser Vorfall ihn unwiderruflich schwächen wird. Auf der Heimfahrt schmollt Mike. Shep, der wieder auf seinem Schoß sitzen muss, dreht sich zu ihm um und mustert sein Gesicht, ohne seinerseits eine Miene zu verziehen. Und dann verziehen sich seine Lippen zu etwas, was wohl ein Lächeln sein soll. Er zieht sein Hemd hoch und gibt ganz kurz den Blick auf die Literflasche Jack Daniel’s frei, die er sich vorne in die Hose geschoben hat.

Ein verwischtes, halbes Jahrzehnt, nun sind sie vierzehn. Shep hat sich angewöhnt, einen Anhänger von St. Jerome Emiliani zu tragen – dem Schutzheiligen der Waisen – den er aus einem Pfandleihergeschäft gestohlen hat. Während Mike noch auf seinen Wachstumsschub wartet, ist Shep inzwischen groß genug für seine eigenen Füße. Er ist riesig und kräftig, mit frühreifen Muskeln. Obwohl er ein bisschen Akne hat, kann er seinen Jack Daniel’s inzwischen kaufen, ohne nach dem Ausweis gefragt zu werden. Charlie Dubronski lebt in Angst und Schrecken, aber Shep hat ihm noch nie ein Haar gekrümmt. Er schaut ihn nur ab und zu an, und das reicht.

Mike und Shep sind mit dem Bus nach Van Nuys Park gefahren, wo der Eismann immer vergisst, die Hintertüren seines Wagens abzuschließen, so dass man ihm Eis klauen kann, während er mit der zahlenden Kundschaft beschäftigt ist. Sie sind zum hintersten Schlagmal auf einem Baseballfeld gegangen, wo ein Vater, sein Sohn und der Großvater spielen. Die Jungen lehnen sich an den Maschendrahtzaun und schauen zynisch zu. Der Großvater wirft, der Sohn schlägt, und der Vater holt den Ball und wirft ihn zurück. Der Junge, der ungefähr in ihrem Alter ist, dribbelt seinem Vater einen niedrigen Ball zu.

»Der kann ja bloß auf seine Seite schlagen«, sagt Mike, und Shep bemerkt: »Genau, mehr hat der nicht drauf.«

Das Auto des Vaters, ein nigelnagelneuer, waldgrüner Saab, steht hinter dem Zaun geparkt, und das Fahrrad des Jungen, ein teuer aussehendes Zehngangrad, lehnt an der Stoßstange.

»Nettes kleines Auto«, sagt Mike, und Shep sagt: »Der 900er ist doch der volle Scheiß.« Mike stimmt ihm zu, aber insgeheim findet er den Saab toll – seine glatten Linien, seine verqueren Kanten, wie er so gar keine Angst hat, gleichzeitig hässlich und schön zu sein. Das Auto riecht nach Wohlstand und Macht, nach Erfolg und Souveränität. Er sieht sein verzerrtes Spiegelbild im makellosen Lack, sein idealisiertes Ich, eine Zukunft, die er noch nicht richtig erkennen kann. Der Aufkleber des Autohändlers starrt ihn an – AUTOHANDEL WINGATE – WIR HABEN, WAS SIE WOLLEN – und findet, dass der Name, ebenso wie das Auto, nach Erfolg stinkt. Wingate. Win-gate. Irgendwie hallt ihm das im Ohr nach.

Eine Stimme vom Baseballfeld unterbricht Mikes Träumereien, der Vater ruft: »Hey, wie wär’s mit einem Eis?« Mike ist so desorientiert, dass er sich einen Augenblick lang selbst angesprochen fühlt. Aber dann lächelt der Sohn und wirft seinen Schläger weg, und Generationen gehen durch den Park zu dem Eiswagen, den Mike und Shep gerade geplündert haben.

Mike sieht ihnen nach. Unter dem Käppi lugt der blonde Lockenschopf des Jungen hervor, ein Anblick, bei dem Mike sich für seinen und Sheps Stoppelschnitt geniert. Es nervt ihn ohne Ende, dass sein Aussehen sich nach diesen Scheißkopfläusen richten muss.

Shep geht um den Zaun herum und hebt den Schläger auf. Er kommt zurück. Tritt gegen das Fahrrad, so dass es umfällt. »Wollen wir draufpissen?«

So was haben sie schon öfter gemacht.

Mike schüttelt den Kopf.

»Erst das Auto?« Shep sagt ungern mehr als nötig.

Mike starrt den schönen Saab an, und er hat das Gefühl, dass es schade um den Wagen wäre, aber tief in seiner Brust brennt irgendetwas, was aus ihm raus will. Er ist nicht sicher, was es ist, aber es hat etwas mit den strahlend weißen Zähnen zu tun, die im Mund des Vaters aufblitzten, als er seinem Sohn das Eis vorschlug. »Ich weiß nicht«, sagt Mike.

»Warum?«, fragt Shep.

Er schämt sich, aber es ist Shep, und dem kann er alles erzählen. »Ich meine, wenn meine Mutter tatsächlich noch lebt, dann bin ich es ihr schuldig, dass ich mich nicht in Schwierigkeiten …«

»Es gibt keine Vergangenheit«, unterbricht ihn Shep.

Mike lacht kurz auf. »Wie – es gibt keine?«

Shep öffnet den Mund, und seine Oberlippe gibt den Blick auf die beiden leicht übereinandergeschobenen Schneidezähne frei. »Es gibt nur zwei Dinge, die im Leben zählen: Loyalität und Durchhaltevermögen. Alles andere lenkt nur ab.«

»Wie wäre es mit Verantwortung?« Jetzt redet er wie die Couch-Mutter, und er hasst sich selbst dafür.

»Du bist kein Sohn«, sagt Shep, ruhig wie immer. »Du bist ein Bruder. Niemand will dich. Also. Mach draus, was du willst. Du kannst alles werden, was du werden willst. Und jetzt? Bist du einfach ein Mann mit einer Aufgabe.«

Mike greift sich den Schläger. Ein Scheinwerfer zerbricht mit befriedigendem Krachen. Die erste halbmondförmige Delle stört den Glanz der glatten Motorhaube, und die nächste noch mehr. Ihm ist, als würde er in Nebelschwaden stecken, in irgendetwas Klebrig-süßem, Unstillbarem.

Mikes Unterarme schmerzen. Er hält keuchend inne. Auf der anderen Seite im Park dröhnt Bon Jovis Blaze of Glory aus einem Ghettoblaster.

Shep nimmt den Schläger und drischt auf das Fahrrad ein. Die Räder verbiegen sich, die Speichen fliegen, das Metall scheppert.

Hinter ihnen ein Stimme: »Hey, du Loser. Hey. Das ist mein Fahrrad.«

Der Junge ist seinem Vater und Großvater vorausgerannt.

»Was?«, fragt Shep. Der Junge tritt vor und wiederholt, was er gesagt hat. »Was?«, fragt Shep. Der Junge beugt sich vor und will es ein drittes Mal versuchen, da versetzt ihm Shep einen Schlag mit dem Kopf, und der Junge geht schreiend zu Boden. Der Vater rennt auf sie zu und Mike steht da wie angewurzelt. Er hat schon viele Kämpfe ausgefochten, aber ein altmodischer Respekt vor Älteren blockiert ihn. Der Vater packt Mike grob mit beiden Händen am Genick, doch Shep wirbelt herum und ist in Sekundenschnelle bei ihnen, um dem Vater die Hand auf die Kehle zu pressen, bis der nach Luft ringt und sich zurücklehnt.

Mit der leisen Stimme, die so typisch für ihn ist, sagt Shep: »Ich werde Sie loslassen, aber Sie rühren ihn nicht mehr an. Kapiert?«

Der Vater nickt. Shep lässt ihn los. Er streckt dem Jungen die Hand hin, hilft ihm auf und sagt: »Nenn mich nicht Loser.«

Man hört Sirenen. Sheps Mund ist rot vom Kirscheis, und Mike ist ziemlich sicher, dass seiner genauso aussieht.

Auf der Polizeistation meint der diensthabende Beamte: »Die Jungs aus der Shady Lane, so eine Überraschung aber auch.«

Mike und Shep werden in verschiedene Vernehmungszimmer gebracht.

Während Mike auf die Wand starrt, branden Erinnerungen an ähnliche Zimmer über ihn herein. Kannst du dich erinnern, wie deine Mom heißt? Hallo? Wie heißt deine Mom? Ein Detective kommt herein, setzt sich hin, liest den Bericht und wirft ihn dann seufzend auf den Tisch. »Du bist doch den Stuhl nicht wert, auf dem du hockst, du kleiner Pflegeheimwichser.«

Selber, denkt Mike.

»Du hast einen Schaden von ungefähr fünfzehntausend Dollar verursacht.«

Als er die Zahl hört, krampft sich sein Magen zusammen. Es könnte genauso gut eine Million sein. In diesem Moment weiß Mike, dass sein Leben gelaufen ist.

Er blickt auf seine Handgelenke, die von flexiblen Plastikhandschellen zusammengehalten werden – Kinderhandschellen – weil ihm die aus Stahl schon im Park ständig über die Hände gerutscht sind.

»Bevor wir deinen Arsch vor Gericht stellen«, fährt der Detective fort, »wollen deine Opfer gerne mit dir reden.«

Die Panik ist noch stärker als der Schrecken. »Ich will sie nicht sehen.«

»Tja, soll ich dir mal was verraten? So kleine verwahrloste Gesetzesbrecher wie du werden gar nicht lang gefragt, was sie wollen.«

Mike schließt die Augen. Als er sie wieder aufmacht, steht der Junge mit den sommersprossigen Wangen vor ihm. Seine Miene ist verächtlich. Sein Vater und der Detective stehen rechts und links von ihm. Der Großvater hält sich mit verschränkten Armen im Hintergrund. »Entschuldigst du dich?«, fragt der Junge.

Mike weiß, dass es in seinem eigenen Interesse wäre, aber er schaut das gebügelte Hemd an, den kleinen Schokoladenfleck in seinem Mundwinkel, und kann nur eines denken: Niemals.

Der Junge zeigt auf Mike. »Du bist ein Nichts. Du hast meine Sachen kaputt gemacht, weil du nichts hast und niemals was sein wirst. Soll ich dir mal was sagen? Es ist nicht meine Schuld, dass dein Leben so scheiße ist.«

Mike schließt erneut die Augen, diesmal sehr lange. Er hört Schritte, die Tür öffnet sich knarrend und fällt mit einem Klicken wieder ins Schloss. Als er die Augen wieder aufmacht, sitzt der Großvater allein vor ihm. Der Mann sagt: »Das war mein Auto.«

»Ich dachte, es gehört ihrem Sohn«, sagt Mike.

Der Großvater lacht. Er hat einen perfekt gepflegten weißen Schnurrbart. »Und, dann wär’s okay gewesen?«

Mike starrt auf den Holztisch. Jemand hat etwas hineingeschnitzt: HIER KOMMST DU NICHT MEHR RAUS, WICHSER.

»Ich bin während der Großen Depression aufgewachsen. Weißt du, was das bedeutet?« Der Mann wartet auf eine Antwort, und als er keine bekommt, fährt er fort: »Wenn wir am Straßenrand ein überfahrenes Tier gesehen haben, ist mein Vater rechts rangefahren, damit wir was zum Abendessen haben. Eine Weile haben wir auch im Auto geschlafen. Zwei lange Jahre hatten wir kein Dach über dem Kopf.«

»Man kann nicht alles haben«, sagt Mike.

Der Großvater spreizt die Hände. »Warum nicht?«

»Ich weiß nicht. Leute wie wir jedenfalls nicht.«

»Leute wie wir?«

»Wie Shep und ich.«

»Und was ist mit mir?«

»Sie haben einen Saab.«

»Verstehe.« Der Großvater faltet die Hände auf seinem Altmännerbäuchlein und nickt. »Was meinst du, wie ich zu diesem Auto gekommen bin?«

»Woher soll ich das wissen? Das war heute das erste Mal, dass ich so ein Auto überhaupt mal aus der Nähe gesehen habe.«

»Eines wollen wir doch mal festhalten: Du bist hier das Raubtier, ich bin das Opfer.« Seine Augen sind jetzt hart, und die überzeugte Haltung seines Gegenübers macht Mike ganz kleinlaut.

Er schaut auf seine Hände. Sein Daumen hat noch einen klebrigen, blauen Streifen von seinem Eis. Er muss an den schönen, makellosen Saab denken (AUTOHANDEL WINGATE – WIR HABEN, WAS SIE WOLLEN!), und einen Moment lang sieht er das Auto und den Mann ineinander verschmelzen, zwei elegante, glänzende Teile desselben Ganzen. Sheps Worte kommen ihm wieder in den Sinn: Du kannst alles werden, was du werden willst. Mike denkt noch einmal an die Frage, die man ihm vor einer Minute gestellt hat: Was meinst du, wie ich zu diesem Auto gekommen bin? Dann, bevor sein Gehirn sich einschalten kann, sagt er leise: »Wenn ich aus dem Jugendgefängnis raus bin, werde ich arbeiten, damit ich Ihnen das Geld für das Auto zurückzahlen kann.«

Der Großvater schließt die Augen, sein Gesicht ist friedlich und sanft, und Mike versteht seine Reaktion überhaupt nicht. Dann sagt der Mann: »Nein. Das wirst du nicht. Ich werde keine Anzeige erstatten. Und du wirst für den Schaden nicht zur Verantwortung gezogen werden.«

Mike ist sicher, dass der Mann sich über ihn lustig macht.

»Ich werde die Reparatur meines Autos selbst zahlen«, sagt der Mann. »Aber für das Geld verlange ich etwas. Möchtest du wissen, was?«

Mike sitzt wie gelähmt vor ihm und nickt.

»Ich verlange dafür, dass du dir wegen dieser Sache nicht selbst leidtun wirst.«

»Wozu soll das gut sein?«, fragt Mike ungläubig.

»Wart’s ab«, sagt der Mann.

Mike und Shep werden auf freien Fuß gesetzt, und von diesem Tag an sieht Mike die Dinge ein wenig anders. Shep und er bleiben dicke Freunde, sie stehen sich näher als Brüder, weil sie alle Teil einer Familie sind, aber das bleibt unausgesprochen. Denn Shep ist im Vernehmungszimmer nicht eingeknickt und hat keine Reue gezeigt. Er muss den Preis des Fahrrads abarbeiten, indem er den Kunden im Supermarkt ihre Lebensmitteleinkäufe einpackt. Er verdient gleich das Doppelte, indem er Zigaretten verhökert, die er an der Kasse klaut.

Als sie älter werden, können sie ohne gefälschte Ausweise ins Spirituosengeschäft gehen, sich besinnungslos besaufen und alles Mögliche anstellen, aber Mike verbringt mehr Zeit mit der Lektüre seiner Schulbücher – Michael, mein Schatz, du wirst mein erstes Pflegekind sein, das aufs College geht – dann lernt er für die Abschlussprüfung, macht die Aufnahmeprüfungen für die Highschool und landet irgendwo zwischen geistig zurückgeblieben und dumm. Aber in seinem ersten Jahr an der Highschool hievt er seine Noten auf Durchschnittsniveau, und als er von der California State University L.A. ein Schreiben bekommt, in dem sie ihm seine Aufnahme bestätigen, erzählt er es Shep nicht sofort. Er geht in den Hof, als alle schlafen, und setzt sich mit dem Brief in den goldenen Schein der Verandalampe, liest ihn immer und immer wieder und fühlt sich, als hätte er einen Schatz in der Hand.

Ein paar wunderbare Monate lang scheint sein Weg klar vorgezeichnet. Die Couch-Mutter ist stolz: Seine Collegepläne werfen ein gutes Licht auf sie beide. Dubronski und Tony M., unoriginell wie eh und je, haben gleich einen neuen Spitznamen für ihn parat: Hey, College, lässt du dir jetzt einen Schnäuzer wachsen wie Alex Trebek? Doch Mike empfindet ihre Hänseleien als eine Art von Schmeichelei.

Jedes Jahr sind neue Kinder dazugekommen, jung und geschädigt, und Mike merkt zum ersten Mal, dass er absurderweise ein Vorbild geworden ist. Shep ebenso – eine andere Art von Vorbild. Als fast Erwachsener versteht Mike jetzt die Mechanismen seines Pflegeheims. Dass die Couch-Mutter für jedes Kind, das sie unter ihrem Dach aufnimmt, Geld vom Staat bekommt. Dass sie mit ein wenig Hilfe von gleichgesinnten und ähnlich gebauten Frauen in der richtigen Position immer mal wieder eine Geburtsurkunde fälscht, um sicherzustellen, dass ihre Kinder nicht zu ihren gewalttätigen Müttern und grabschenden Onkels zurückgeschickt werden. Ihm geht auf, was für ein Glück er hat, ein Rädchen in diesem System zu sein.

Für einen High School Senior ist er mit seinen siebzehn Jahren sehr jung. Shep hat die ersten vier Monate nach seinem achtzehnten Geburtstag genutzt, um zweimal mit dem Gesetz von Kalifornien in Konflikt zu kommen. Beim dritten Vergehen wird er fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis wandern, wenn nicht lebenslänglich, was fast ein bisschen viel scheint für einen gestohlenen Videorekorder und die Tracht Prügel, die er einem rotznäsigen, reichen Jüngelchen verpasst hat, das sich einer Armdrückwette entziehen wollte. Doch wie immer macht sich Shep keine Sorgen. Zwei Vorstrafen sind doch gar nichts. Du hast doch gesehen, was ich draufhabe.

Eines Tages kommt Shep in ihr gemeinsames Zimmer und hat etwas unter dem Arm, was nach einem Wandtresor aussieht. Sein beachtlicher Bizeps beult sich unter dem Gewicht. Mike liest mal wieder in seinem Übungsbuch für die Abschlussprüfung, weil er sicher ist, dass er im Herbst aufs College kommt und nicht wissen wird, was er mit den Jugendlichen reden soll, die so klug sind, dass sie dort tatsächlich hingehören. Gegen alle Logik hofft er, dass er diese Kluft überbrücken kann, wenn er Wörter wie »Zierrat« oder »Acetat« kennt.

Ungläubig blickt er von seiner Vokabelliste auf und schaut Shep an. »Wo hast du den denn her?«

»Aus einer Wand«, sagt Shep.

Mike nimmt sich noch einen Mundvoll Ravioli mit Tomatensauce aus der Dose. Mit der stumpfen Seite eines Buttermessers, weil die Gabeln und Löffel gerade alle schmutzig sind. »Shep«, murmelt er, während er auf den verkochten Nudeln herumkaut, »so ’n Scheiß kannst du nicht bringen.«

»Du kriegst die Hälfte vom Inhalt.«

»Ich will nicht die Hälfte vom Inhalt.« Mike rollt sein Buch auf und klopft sich damit gegen die Stirn. »Ich will wissen, was ›Flagellant‹ heißt.«

»Von einer Flagge oder flaggenartig.« Shep sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, klopft von mehreren Seiten auf den Safe, dann holt er zusammengefaltetes Millimeterpapier und ein echtes Stethoskop aus seiner Hosentasche. Mike beobachtet ihn fasziniert. Shep steckt sich die Enden des Stethoskops in die Ohren und fängt an, die Scheibe zu drehen, während er mit medizinischem Interesse horcht. Auf Grund seines eingeschränkten Hörvermögens scheint er die Klicks nicht richtig hören zu können. Die EKG-Linie seines Graphen scheint jedenfalls über ein paar Auf und Abs nicht hinauszukommen. Schließlich legt er das Stethoskop beiseite, geht hinaus und kommt einen Moment später mit Hammer und Meißel zurück.

Mike starrt ihn mit halb offenem Mund an. »Ist das dein Ernst?«

Zweite Runde. Shep fängt an, nach allen Regeln der Kunst auf den Safe einzudreschen. Der Lärm stört ihn natürlich überhaupt nicht. Die anderen sind offenbar alle beim Dodgers-Spiel, daher sind Shep und Mike relativ ungestört.

Bis die Couch-Mutter, die im übelriechenden Dunst ihres Schlafzimmers unter einer Kolitis stöhnt, über den Flur ruft: »Michael, mein Schatz, was ist das für ein Lärm?« Mittlerweile weiß sie, dass es zwecklos ist, nach Shep zu rufen.

»Ich reparier einen Vergaser«, sagt Shep leise.

»Er repariert einen Vergaser!«, ruft Mike.

Shep hat gar kein Auto.

»Macht keinen Dreck!«, schreit die Couch-Mutter.

»Nee, macht er nicht!« Mike hat sein Buch aus der Hand gelegt. »Was hast du mit deinem Anteil vor?«, neckt er Shep.

»Vegas«, sagt er. »Nutten. Und du?«

»Ein Haus. Kredit über dreißig Jahre. Einen Garten. Und ich will eine Werkstatt in der Garage.«

»Wie alt bist du noch mal?« Shep geht in die Hocke und wischt sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. »Schau«, murmelt er, ohne sich wirklich an Mike zu wenden. »Schau dir das an. Nützt überhaupt nichts, wenn man da die Angeln wegschlägt. Ich muss rausfinden, an welcher Stelle die Verriegelung in die Seite reingeht.« Er lehnt sich vor, bohrt die Zungenspitze von innen gegen die Wange und notiert sich irgendetwas auf der Rückseite seines Zettels.

Ein paar Stunden später sieht der Safe völlig demoliert aus, und Shep hat etwas skizziert, was aussieht, wie das Diagramm eines Ingenieurs. Er hat auf den Seiten herumgehämmert und sorgfältig die Stellen markiert, an denen die Riegel einrasten. Mike hat zugesehen, wie sich dieses kleine launige Unternehmen zur wissenschaftlichen Beschäftigung ausgewachsen hat.

Etwas später hat Shep ein Loch in die Rückwand des Safes gebohrt und das Metall aufgebogen. Darunter befindet sich eine Zementschicht, die unter seinen Hammerschlägen zerbröselt, dann kommt wieder eine Metallschicht. Elfte Runde, oder vielleicht auch die zwölfte.

Vom Flur hört man die entnervte, dehydrierte Stimme der Couch-Mutter. »Bist du immer noch nicht fertig mit deinem Vergaser?«

»Gleich«, sagt Shep leise.

Noch ein letztes Stemmen und Hebeln, dann gibt die Rückwand endlich nach. Shep wirft die Beute, ein Säckchen mit alten Münzen, zur Seite. Er murmelt irgendetwas in sich hinein, sieht sich die Riegel genau an, die er nicht auf der Rechnung hatte, notiert sich die Marke und das Modell des Safes. »Den Zement haben sie wegen dem Gewicht reingetan«, murmelt er.

»Willst du deine Münzen denn jetzt gar nicht haben?«, fragt Mike.

Shep kaut auf seiner Lippe herum und bewundert die mehrfach verstärkte Tresortür. »Was?«, fragt er.

Am nächsten Tag kommen sie bei einem Pfandleiher vorbei, und Shep holt eine der Münzen aus der Tasche und gibt sie Mike.

»Warum gehst du nicht?«, fragt Mike, und Shep sagt: »Weil sie an der Kasse ein Foto von mir hängen haben.«

Mike zögert kurz. Er denkt an die Ermahnung, die ihm der Großvater vor Jahren gegeben hat, und erinnert sich an sein leicht verzerrtes Spiegelbild im makellosen waldgrünen Lack des Saab vom Autohändler Wingate. Aber es ist eine alte Münze, und es ist Shep, also nimmt er sie und geht hinein. Die Sicherheitskamera hinter dem kugelsicheren Glas macht ihn nervös, aber er schreibt einen falschen Namen und eine falsche Anschrift auf den Zettel und sagt sich immer wieder: Es ist eine alte Münze, und es ist Shep. Mike kommt mit zwanzig Dollar wieder raus, die er Shep in die Pranke drückt. »Das war es ja wert«, grinst er.

Shep gibt ihm zehn Dollar zurück.

In dieser Nacht fährt die Polizei in der Shady Lane 1788 vor. Der ältere Officer hat eine Aufnahme aus der Sicherheitskamera des Pfandleihers mitgebracht, und diesmal hat er Handschellen für erwachsene Handgelenke dabei.