JETZT

8

Es gab keine Empfangsdame, nur den Empfang. Kein Schild, keine Jalousien, keine schwarzen Buchstaben, die verkündet hätten: HANK DANVILLE, PRIVATDETEKTIV. Mike ging an dem Holztisch vorbei, klopfte an die Bürotür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

Hank saß mit heruntergelassener Hose an seinem Tisch und zog sich gerade eine Nadel aus der blassen weißen Haut seines Oberschenkels. Er warf einen Blick über die Schulter, verzog das Gesicht und bellte: »Verdammt noch mal!«

Mike murmelte eine Entschuldigung, ging hinaus und machte die Tür zu. Wenig später riss Hank sie wieder auf. Er stopfte sich das Hemd in die Hose und ging zurück an seinen Tisch, während Mike ihm mit vorsichtigem Abstand folgte. Beide Männer vermieden jeden Blickkontakt. Hank ließ sich in seinen Stuhl plumpsen und deutete auf den abgewetzten Zweisitzer gegenüber, auf dem Mike in den letzten fünf Jahren so oft gesessen ist.

Hank war eine altmodische Figur, wie man sie nicht mehr oft zu sehen bekommt – groß und schlaksig, mit Schultern, die so breit waren, dass sie einem Footballspieler alle Ehre gemacht hätten. Er bekam langsam eine Glatze, aber auf eine gleichmäßige, attraktive Art. Sein Kopf saß auf einem sehnigen, leicht vorgestreckten Hals, was ihn ein bisschen wie eine Schildkröte aussehen ließ. Ein intellektueller Kopf – akademisch geradezu – der dazu gemacht schien, verstaubte Wälzer und handgeschriebene Briefe zu studieren. Dieser Kopf wollte weder zu seinen kräftigen Unterarmen passen noch zu seinem Auftreten à la schweigsamer Bulle, das er über dreißig Jahre hinweg perfektioniert hatte, bis er seine Dienstmarke mit mäßigem Erfolg gegen eine Karriere als Privatdetektiv eingetauscht hatte.

Hanks trockene Lippen zitterten, während er nach einer Erklärung suchte. Kein ganz einfaches Unterfangen, nach dem, was Mike eben gerade gesehen hatte. Hank stieß einen unterdrückten Fluch aus, stieß sich vom Schreibtisch ab und stand auf. Mike merkte, dass sein Gegenüber etwas schwerer an seinen Jahren zu tragen hatte als bei ihrer letzten Begegnung. Er war zwar schon alt genug, um hie und da zu zittern, aber immer noch jung genug, um wütend zu werden, wenn man ihm helfen wollte.

Hank trat ans Fenster, schob es auf und lehnte sich auf die Fensterbank, wobei sich die Hosenträger auf seinem Rücken straffzogen. Er hatte mit dem Rauchen aufgehört, aber manchmal vergaß er es und lehnte sich aus dem Fenster, als wollte er Rauch ausatmen. Seine fette Tigerkatze blickte gleichgültig von der Heizung auf.

Mike räusperte sich verlegen. »Ich wollte mich für gestern entschuldigen. Ich war …«

»Ich sterbe«, sagte Hank. Er lehnte immer noch über der Fensterbank und starrte auf den Hollywood-Schriftzug in der Ferne, während sich der Stoff seines Hemdes zwischen den Schulterblättern bauschte. »Lungenkrebs. Verdammt, dabei hab ich vor fünfzehn Jahren aufgehört. Ich dachte, ich bin auf der sicheren Seite. Schon komisch, wie einen so was wieder einholen kann.«

Er kam an den Tisch und tippte auf das kleine Spritzenset auf der Schreibtischplatte. »Deswegen auch dieses Gift hier. Neupo-Irgendwas. Soll meine verbliebenen zwei weißen Blutkörperchen stimulieren.«

Hank setzte sich, und sein Blick schweifte umher, als wüsste er nicht recht, wo er hinschauen sollte. Bei näherem Hinsehen wirkte er tatsächlich nicht einfach schlank, sondern geradezu ausgemergelt. Mike hatte ihn nie verlegen gesehen, geschweige denn ausweichend. Vor lauter Mitleid wusste er nicht, was er sagen sollte. Es war immer schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn einem jemand so tiefe Einblicke in sein Privatleben gab, wenn man einen Blick auf die inneren Mechanismen seines Lebens werfen konnte. Also sagte Mike das Erste, was ihm in den Sinn kam: »Was kann ich tun?«

Hank schnaubte. »Was willst du schon tun? Jeden Mittwoch mit ’nem Auflauf vorbeikommen?«

»Wenn ich einen Auflauf machen würde«, sagte Mike, »würde er dich garantiert umbringen.«

Hank legte den Kopf in den Nacken und lachte, und Mike erkannte endlich seinen alten Freund wieder. Die ruhige Würde, das Schmunzeln eines weisen Mannes, das auch in schwierigen Situationen unerschütterlich blieb.

»Verdammich«, sagte Hank. »Allein dein Gesichtsausdruck, als du mich hier mit runtergelassenen Hosen gesehen hast, wäre das Sterben wert.«

»Vielleicht …«

»Wir haben die Chemo eingestellt. Letzte Woche. Es ist jetzt auch in den Knochen.« Sein sarkastisches Grinsen verschwand. Er drehte sich leicht auf seinem Stuhl, so dass er den Blick auf ein brieftaschengroßes Foto von einem kleinen Jungen freigab, vielleicht sechs Jahre alt. Das Bild war mit Reißzwecken an die ansonsten völlig kahle Wand geheftet. Zu Anfang hatte Mike einmal höflich nachgefragt, doch Hank hatte ihm zu verstehen gegeben, dass jede Diskussion über dieses Foto tabu war. Die Tatsache, dass Hank unverheiratet war und nie Kinder erwähnt hatte, machte die Sache noch rätselhafter. Das Bild war abgegriffen und hatte weiße Knitterfalten. Das gestreifte, mit Druckknöpfen geschlossene Hemd des Jungen schrie geradezu heraus, dass es aus den späten Sechzigern stammte. Irgendetwas an seiner schreinartigen Positionierung – das Foto hing so niedrig, dass es nur als persönliche Erinnerung gedacht sein konnte – legte die Vermutung nahe, dass der Junge tot war. Ein Sohn, der schon lange getrennt von ihm lebte? Das Opfer eines ungelösten Falles, der Hank nicht aus dem Kopf gehen wollte?

Mike sah woanders hin, bevor Hank reagieren konnte. Hank las Mikes Gedanken, dann brach er den Bann, indem er sich wie Fonzie aus »Happy Days« über die verbliebenen Haarsträhnen auf seiner glänzenden Kopfhaut strich. »War ’ne ganz moderne Chemotherapie, so hab ich zumindest meine Haare behalten.«

Mike lehnte sich zurück, blickte zur Decke und atmete vernehmlich aus. »Scheiße, Hank«, sagte er.

»Tja, jeder muss sein Ticket mal stempeln. Ich bin so schlau und nehm’s nicht persönlich.« Hank zog einen dicken Ordner aus der untersten Schublade und warf ihn auf den Tisch. Die Katze sprang von der Heizung und stolzierte an der Fußbodenleiste entlang. »Bist du gekommen, um das hier abzuholen?«

Mike betrachtete die Akte wie ein Artefakt, als wollte er ihr erst einmal die gebührende Achtung erweisen, bevor er danach griff und sie auf seinen Schoß legte. Sie enthielt sämtliche Aufzeichnungen von der Suche des Privatdetektivs nach Mikes Eltern. Der Umfang war beeindruckend, in Anbetracht der Tatsache, dass Mike sich an so wenig erinnerte, was Hank bei seinen Nachforschungen hätte helfen können. John und Mommy. Ungefähres Alter. Kein Familienname. Keine Stadt. Kein Staat. Damals hatte man es mit den Nachforschungen noch nicht so genau genommen, wenn irgendwo ein ausgesetztes Kind gefunden wurde. Und mit Computern war es auch noch nicht weit her gewesen. Die Hälfte der Informationen, die Hank zutage gefördert hatte, waren auf zerfallenden Mikrofiches gespeichert, und keine der Vermisstenanzeigen passte zu dem bisschen, an das Mike sich noch erinnern konnte. Er hatte jahrzehntelang mit der nagenden Überzeugung gelebt, dass sein Vater an jenem Morgen das Blut seiner Mutter am Ärmel gehabt hatte. Vielleicht würde er für immer damit leben müssen.

Er blätterte durch den Ordner. Erinnerungen und Möglichkeiten stiegen aus den Druckbuchstaben. Die geografische Ausdehnung der Suche war auch beachtlich, denn er wusste nicht, wie weit sein Elternhaus von dem Spielplatz entfernt gewesen war, auf dem man ihn abgesetzt hatte. Sein Vater konnte nur ein paar Blocks oder die ganze Nacht lang gefahren sein. Im Ordner lagen Ermittlungsberichte und Mitschriften von Telefonaten, Polizeiregister und aus Kleinstadtzeitungen ausgeschnittene Todesanzeigen. Polizeifotos von Männern mit finsteren Gesichtern, die alle John hießen und alle im selben Alter waren, aber keiner von ihnen war sein Vater. Inzwischen kannte er fast alle diese fremden Gesichter auswendig. Bei dem Anblick krümmte er sich innerlich. Er fragte sich, welche Kinder diese Männer ausgesetzt hatten, welche Frauen sie zerstört hatten. Aber was ihm wirklich das Herz im Leibe umdrehte, waren die Fotos aus der Leichenschauhalle. Eine Technicolor-Parade von Frauen, die 1980 ermordet worden waren, sowie Leichen, die Jahre später aufgetaucht waren. Ihm war das ganze Vokabular vertraut, mit dem man solche Leichen bezeichnete, um zu vermeiden, dass einem das Leid zu nahe ging: Schwimmer, Grillwürstchen, Kopflose Reiter.

Er schlug den Ordner zu und klopfte mit der Faust darauf. Das Album einer gescheiterten Ermittlung. Jahre voller Sackgassen. Jahre freudiger Hoffnungen und zermürbender Enttäuschungen. Ein tiefverwurzeltes Sehnen, das sich durch jeden Tag zieht wie eine schlechte Angewohnheit, die man einfach nicht ablegen kann.

Ihm wurde bewusst, dass dieser Ordner mit dem unleserlichen Gekrakel, dem blau verfärbten Fleisch und dem blitzlichterleuchteten Elend alles war, was er von seinen Eltern hatte.

Hank fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und zog die Haut nach unten, was ihm für einen Moment die Züge eines Bassets verlieh. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht wirklich helfen konnte, Mike.«

Im Laufe der Jahre hatte es noch ein paar mehr Ermittlungen gegeben, aber keine war mit solchem Eifer verfolgt worden.

»Ich bin heute gar nicht deswegen vorbeigekommen«, sagte Mike und klopfte noch einmal auf den Ordner. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen. Die Sache hat mir gerade besonders zugesetzt, als wir telefoniert haben. Eigentlich kann ich mit Stress besser umgehen. Mir geht es schon so lange gut, dass ich vergessen hatte, wie man sich anständig benimmt, wenn es einem nicht so gutgeht.«

Hank musterte ihn. Nickte. Die Katze sprang ihm auf den Schoß, und er vergrub die Finger in ihrem Nackenfell, woraufhin sie erschlaffte und nur noch blinzelte. »Kommst du einigermaßen gut raus aus der Sache mit diesen Rohren?«

»Ich Trottel bin selbst schuld. Ich fand den Preis prima und hab nicht besser aufgepasst, und jetzt stehe ich als Lügner und Betrüger da.«

»Was soll das heißen?«

Hank betrachtete ihn immer noch forschend, doch Mike schüttelte nur den Kopf. Es war zwecklos, sich erneut darüber aufzuregen. Er hatte seine Entscheidung getroffen, und jetzt musste er die Sache irgendwie hinter sich lassen. Mit dem Ordner in der Hand stand er auf und reichte Hank die Hand über den Schreibtisch. »Du hast immer gute Arbeit für mich geleistet, Hank.«

Sie schüttelten sich die Hand, und Mike verließ das Büro. Hank blieb sitzen und starrte aus dem Fenster, und die Katze schnurrte auf seinem Schoß.

 

Jimmy wartete in Mikes Wagen. Er hatte das Radio aufgedreht und das Fenster auf der Beifahrerseite heruntergelassen und stützte sich mit dem Ellbogen auf. Mike hatte ihn mitgenommen, weil sie Steine für die Feuergrube aussuchen mussten, und Hanks Büro lag auf dem Weg zum Steinlager.

Mike stieg ins Auto und warf den dicken Ordner auf das breite Armaturenbrett. Jimmy beäugte die Akte kurz, sagte aber nichts. Mike hatte behauptet, dass er etwas zu erledigen hatte, und es war mehr als deutlich, dass er nicht weiter darüber reden wollte.

Jamaikanische Reggae-Pop-Musik dröhnte ohrenbetäubend durch den Wagen. Mike drehte die Lautstärke herunter, änderte aber betont großzügig nicht den Kanal. »Danke fürs Warten.«

Jimmy zuckte mit den Schultern und wippte im Takt mit. »Du bist der Chef, Wingate.« Während Mike losfuhr, beobachtete er, wie Jimmy an den Knöpfen auf der Mittelkonsole herumdrückte und die Sitzheizung anmachte – Sitzheizung in Kalifornien! »Hey«, sagte Jimmy, »krieg ich dieses Auto auch, wenn du damit durch bist?«

»Nicht, wenn du dann immer solche Musik anmachst.«

Jimmy schnalzte wegwerfend mit der Zunge. »Shaggy macht so eine coole Scheiße … da fängt man sich allein beim Zuhören schon ’ne Geschlechtskrankheit ein.«

»Und das soll eine Empfehlung sein?«

»Besser als dein Scheiß-James-Taylor.«

»Mein Scheiß-James-Taylor?« Mike drehte aus schierem Protest ein paar Frequenzen weiter. Toby Keith knödelte, dass er ein Cowboy hätte sein wollen, ein Wunsch, den Jimmy, seiner säuerlichen Grimasse nach zu urteilen, nicht nachvollziehen konnte.

Mike liebte Musik, aber Countrymusik mit ihrer näselnden Großspurigkeit liebte er ganz besonders. Es lag so viel väterliches Amerika darin, so viel Huldigung an hart arbeitende Männer, die ihr Leben lang die Stechuhr bedienen und niemals Forderungen stellen. Eltern waren Helden, und wenn ein Mann seinen Grund und Boden mit ehrlichem Schweiß bestellte, durfte er sich ein anständiges Leben und die Liebe einer guten Frau erhoffen. Ein anständiges Leben. Diese verdammten PVC-Rohre schaukelten durch Mikes Gedanken wie eine Leiche, die einfach nicht untergehen will, und während der restlichen Fahrt und dem Besuch beim Steinhändler in der brütenden Hitze war er zerstreut und im Grunde zu nichts zu gebrauchen.

Auf der Heimfahrt kamen sie an einem Friedhof vorbei, den Mike noch nie gesehen hatte, und er hielt an.

Jimmy warf ihm einen entnervten Blick zu. »Haben wir heute nicht noch genug zu tun, dass du das jetzt auch noch einschieben musst?«

»Zwei Minuten«, sagte Mike.

Der Wächter im Häuschen am Eingang saß entspannt auf seinem Hocker und las die L.A. Times. Mike ließ das Fenster herunter und entdeckte überrascht sein eigenes Konterfei auf einem körnigen Schwarzweiß-Foto unter der Schlagzeile GOUVERNEUR SETZT GANZ AUF GRÜN. Ja, das war Mike, mit einem Grinsen auf dem Gesicht, obwohl die ganzen Ehren nichts als verlogen und geheuchelt waren. Seinen Arm hatte er um die beachtlichen Schultern des Gouverneurs gelegt. Das Papier raschelte und sank herab, und das gerötete Gesicht des Wächters erschien. Er winkte Mike durch, ohne Fragen zu stellen. Früher hatte man Mike an jedem Wachhaus und jeder Rezeption angehalten, aber mittlerweile war er ja eine seriöse Erscheinung mit seinem gefälschten Marken-Poloshirt und dem überteuerten Scheißauto.

Er parkte unter einer alten verwilderten Weide und sie stiegen aus. Jimmy klopfte von unten gegen seine Zigarettenschachtel. »Was zum Teufel suchst du eigentlich immer auf diesen ganzen Friedhöfen?«, fragte Jimmy.

»John.«

»Nur John?«

»Genau.«

Und eine Frau, die in den späten vierziger Jahren geboren wurde.

»Es gibt ’ne ganze Menge Johns auf der Welt, Wingate«, bemerkte Jimmy.

»Fünfhundertzweiundsiebzigtausendsechshunderteinundneunzig.«

Die Zigarette baumelte Jimmy von der Unterlippe. Die Augenbrauen hatte er fast bis zu seinem dichten Haaransatz hochgezogen. Er schwieg einen Moment, wahrscheinlich überlegte er, ob Mike noch ganz bei Trost war. »Im ganzen Land?«

»In diesem Staat.«

»Aber du weißt, dass er tot ist? Nur John?«

Mike schüttelte den Kopf und dachte: Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Er griff sich den Ordner vom Armaturenbrett, weil er nicht wollte, dass Jimmy darin herumschnüffelte, und ging davon.

Der Boden federte angenehm unter seinen Füßen, und die kompakte Luft schmeckte nach Moos. Ein paar Zweige von einem Rosenbusch verhakten sich an seinem Ärmel. Das erste Grab fand er in der dritten Reihe: John Jameson. Zwei Reihen weiter – die Akte unter seinem Arm wurde langsam schwer – eine Tamara Perkins. Vielleicht du. Ein Grabstein am hinteren Zaun, der fast völlig unter verwelktem Laub verschwunden war. Er schob es mit dem Fuß beiseite und förderte den nächsten kalten, eingemeißelten Namen zutage. Vielleicht du. Er musterte die Daten und überlegte. Dann schloss er die Augen, atmete die vertrauten Gerüche ein und träumte ein wenig.

Natürlich wusste er, dass seine Eltern nicht auf diesem Friedhof lagen, und auch auf keinem der zahllosen anderen Friedhöfe, an denen er in den letzten zwanzig Jahren gehalten hatte. Er konnte ja nicht mal sicher sein, dass sie tot waren. Ausgehend von den Blutspritzern auf der Manschette seines Vaters nahm er an, dass seine Mutter tot war. Und sein Vater konnte von allen möglichen Gefahren heimgesucht worden sein. Doch selbst wenn einer von beiden oder auch beide unter der Erde lagen, und selbst wenn Mike durch ein wundersames Zusammentreffen von Zufall und Raten zum richtigen Friedhof kam, war es möglich, dass er über das richtige Grab hinwegspazierte und es nicht merkte. Was zum Teufel suchte er also hier auf diesen saftig grünen Hügeln? Die Rituale, die er nie hatte haben dürfen? Schließlich hatte er nie an ihrem Sterbebett sitzen können, war nie vor einem Sarg gestanden, hatte nie die aschegefüllte Urne in Empfang genommen.

Er kam an den letzten Besuchern eines Gottesdienstes vorbei, die sich in feierliche Zweier- und Vierergrüppchen teilten. Eine empfindliche Erschöpfung lag über der ganzen Versammlung, alle möglichen universalen Ängste und Verletzlichkeiten waren bloßgelegt. Und in der Peripherie all dessen strich Mike zwischen den Grabsteinen umher wie ein Zombie und versuchte sich einzureden, dass er von irgendwo herkam. Versuchte sich einzureden, dass er als Vierjähriger etwas gewesen war, was man eigentlich hätte behalten können.

Deine Mutter und ich haben dich sehr, sehr lieb. Mehr als alles andere auf der Welt. Er fühlte sich wie ein Eindringling und machte nach einem unmerklichen Nicken einen Bogen um die Witwe. Ein neuer Morgen in Amerika. Er ging einen gezackten Pfad aus zerbrochenen Steinen entlang und dachte daran, wie sich Hanks Hemd leer zwischen den Schultern gebauscht hatte, wo seine ehemals stämmige Statur weggeschmolzen war. Du musst dir merken, dass nichts von dem, was passiert ist, deine Schuld war. Er spürte das Phantomdrücken von der Schnalle des Sicherheitsgurts in jenem Kombi, sah den Schweiß, der seinem Vater über den roten Nacken lief, fühlte die Leere in seinem vier Jahre alten Bauch. Wo ist Mommy? Er dachte an die hohen, geschwungenen Wangenknochen seiner Mutter, und vor seinen Augen verschwamm alles, doch dann wurde er sich jäh wieder seines Arms bewusst, der unter dem Gewicht des Ordners schwitzte.

Dieser ganze Ordner war absurd. Eine Sammlung willkürlich ausgewählter Männer und Frauen, die das Geburtsjahr oder einen Vornamen gemeinsam hatten oder einer vagen Beschreibung glichen. Er hatte die Akte immer bei Hank gelassen. Was sollte er jetzt damit anfangen? Sie nach Hause mitnehmen? Sie mit Kat durchblättern?

Aus der Kapelle tönte brüchig und unheilverkündend die Stimme eines Pfarrers, der noch einen zweiten Gedenkgottesdienst abhielt. Die ewig alte Formel, Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Irgendetwas an Hanks Krankheit hatte Mike ein neues Bewusstsein, eine rauhe Wirklichkeit aufgezwungen, und er kam nicht umhin, sich seinen Gefühlen zu stellen. Vielleicht war es die Symbolik, die darin lag, dass sein letzter Verbündeter bei dieser Suche das Todesurteil erhalten hatte. Doch dann überkam ihn die jähe, bösartige Gewissheit, dass das Scheitern unvermeidlich war und es immer gewesen war. Er hatte eine Stecknadel in einem Heuhaufen gesucht.

Er würde es niemals erfahren.

Als er um die Ecke bog, erschien ein Abfalleimer, ein Zeichen vom entgegenkommenden Universum, und Mike warf einen Blick auf den dicken Aktenordner, den er immer noch so fest umklammerte, dass seine Hand zitterte. Er hielt den Ordner über die Tonne und schloss die Augen. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Er ließ ihn fallen. Das Echo des scheppernden Geräusches wurde von den Steinen zurückgeworfen.

Fall abgeschlossen.