10
Als er Kat am nächsten Tag von der Schule abholte, hatte sie ein Marmeladenglas mit einem Zweig und einer kleinen Eidechse dabei. Sie stieg hinten ein, setzte die Kopfhörer auf und zappte sich durch die Fernsehsender. Mike beobachtete sie über den Rückspiegel und dachte: Wenn Kinder einen für selbstverständlich nehmen, weiß man, dass man seine elterlichen Aufgaben gut erfüllt.
»Nimm doch mal dieses Ding ab und sag hallo.«
»Schnurlos«, sagte sie. »Mit Störschallunterdrückung. Ich will doch bloß, dass sich unsere Ausgaben auch gelohnt haben.« Sie hielt das Marmeladenglas hoch und zeigte ihm die Eidechse: »Guck! Die hab ich gefangen. Und Ms. Cooper hat mir geholfen, ihr ein Zuhause einzurichten.«
»Ich bin nicht sicher, ob die da drin genug Luft kriegt, mein Schatz.«
Sie nahm ihre Brille mit der roten Fassung ab und verstaute sie sorgfältig in ihrem Etui. »Ich hab Löcher in den Deckel gebohrt. Der geht’s gut.«
»Die braucht aber mehr Sauerstoff. Wenn du sie behältst, wird sie sterben.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich mag sie.«
Die gefangene Eidechse verstörte Mike mehr, als er logisch hätte rechtfertigen können. Seine Gereiztheit stieg. Kat war im Großen und Ganzen so reif, dass man manchmal vergaß, was für Verhaltensweisen ihrem Alter tatsächlich angemessen waren. Ihm als Vater fiel es sehr schwer, manchmal einfach den Mund zu halten, statt ihr Anweisungen zu erteilen, in ihre Gedanken einzugreifen und die vermeintlich richtigen Knöpfchen zu drücken.
»Wo fahren wir hin?«, wollte Kat wissen.
»Ich muss ein paar Schrankgriffe abholen, in einem Laden an der Promenade. Ich dachte, bei der Gelegenheit gehen wir ein paar Schritte und holen uns was zu essen.«
Er sah, wie sie begeistert den Kopf hob und das Sonnenlicht in ihre Augen fiel – eines bernsteinfarben, eines braun – in denen unzählige versteckte Farbschattierungen pulsierten. Sein Ärger verrauchte augenblicklich.
Sie fuhren schon eine Weile, da nahm sie den Kopfhörer ab und sagte: »Tut mir leid, dass ich beim Einsteigen nicht hallo gesagt hab.«
Er bemerkte den altklugen Zug um ihren Mund und wusste, dass sie ihn einlud, das Schlechte-Eltern-Spiel zu spielen, also sagte er: »Nicht dein Benehmen ist schlecht. Du bist schlecht.«
»Das ist«, sagte sie vergnügt, »ein Teil meiner Persönlichkeit.«
»Ich als dein Vater muss dein Selbstwertgefühl zerschmettern. Es langsam aufreiben und es aus ….«
»… aus meinem kleinen schwarzen Herzen vertreiben.« Jetzt konnte sie ihr Kichern endgültig nicht mehr unterdrücken.
Als sie Santa Monica erreicht hatten, hatten sie so lange genug herumgealbert, dass er die PVC-Rohre, das Babyphone und die gefürchtete Preisverleihung mit dem Gouverneur am nächsten Sonntag vergessen hatte. Sie schlenderten Hand in Hand über die Promenade, abgesehen von dem kurzen Stück, das er sie tragen musste, als sie an den kopflosen Schaufensterpuppen des Banana Republic Store vorbeikamen. Wie er vermutete, hatte sie ihre Angst vor Schaufensterpuppen schon als Vierjährige abgelegt, aber ein Ritual ist nun mal ein Ritual.
Er kaufte die Schrankgriffe, und anschließend besorgten sie sich Baguette und Meerrettichkäse von einem Bauernmarkt. Dann setzten sie sich beim Stegosaurus-Springbrunnen auf eine Metallbank und hörten einem Straßenmusikanten zu, der mit glaubwürdiger Inbrunst »Heart of Gold« spielte. Gegenüber saß ein Obdachloser, der in einem Haufen aus schmutzigen, fast schon schwarzen Kleidern verschwand. Mike dachte zuerst, dass der Mann total weggetreten war, aber dann sah er, wie er den Musiktext mitsang und in sich hineinlächelte, als würde er an eine alte Liebe denken. Schließlich schob er sich sogar eine Hand unter die zerrissene Jacke und markierte ein wild klopfendes Herz unter dem Stoff, und Kat musste mit vollem Mund losprusten.
Der Straßenmusiker heulte und spielte auf seiner Mundharmonika, die auf einem Gestell befestigt war, so dass er die Hände nicht benutzen musste. Der Obdachlose rief Kommentare zu ihnen hinüber, als würden sie miteinander streiten. »Der Kerl singt Neil Young besser als Neil Young!« »Ich hatte mal einen T-Shirt-Shop in New York City.« »Meine Tochter macht professionelle Zahnreinigungen und hat so einen Typen geheiratet, und sie hat gesagt, ich kann sie jederzeit besuchen.«
Eine als Clown geschminkte Frau drehte Tierfiguren aus Luftballons – nur zwei Dollar pro Stück. Mike zog ein paar Scheine hervor und gab sie Kat. »Willst du dir einen holen?«
Kat schoss los, ging an der Frau mit den Ballons vorbei und gab das Geld dem Obdachlosen, der sie zwinkernd in seinen für die Münzen aufgestellte Tasse steckte.
Sie kam zurück und setzte sich wieder neben Mike, der einen Moment lang über ihre Tat staunte. Der Straßenmusikant war jetzt zu »Peaceful Easy Feeling« übergegangen, und die untergehende Sonne wärmte ihnen immer noch das Gesicht. Mikes Gedanken waren ausnahmsweise ganz im Hier und Jetzt.
Er trug Kat auf den Schultern zurück zum Auto, und unterwegs summten sie beide verschiedene Lieder. Sie machten noch einmal Halt, um sich Pommes und Milchshakes zu kaufen, und Kat schnallte sich auf dem Rücksitz an, immer noch kauend. Dabei trug sie einen Gesichtsausdruck von fast schon benommener Befriedigung zur Schau, der Mike ein Lächeln entlockte. »Was?«, fragte sie, und er sagte: »Eines Tages wirst du das auch verstehen.«
Als er auf den San Vicente Boulevard fuhr, sagte sie plötzlich: »Ich hab Snowball verloren.«
Mike warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie bekümmert sie war. »Wo hast du ihn zuletzt gehabt?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Ich hab’s schon in der Schule gemerkt. Ms. Cooper hat die ganze Klasse mitsuchen lassen. War überhaupt nicht peinlich. Aber wir konnten ihn nirgends finden. Dann fiel mir ein, dass ich ihn mit nach Hause genommen hatte. Ich hab überall in meinem Zimmer geguckt, aber …« Sie blickte betrübt aus dem Fenster, dann zuckte sie mit den Schultern. »Na ja, ich werde langsam sowieso zu alt für Stofftiere.«
»Aber doch nicht für Snowball«, protestierte Mike.
»Vielleicht war es einfach Zeit«, sagte sie, und er merkte, wie ihm ein Stück von seinem Herz abbröckelte und davongeweht wurde.
Er suchte gerade nach einer guten Antwort, als er drei Autos hinter sich eine schwarze Limousine entdeckte. Er hatte sie vorhin schon entdeckt, als sie nach ihm den Parkplatz verlassen hatte. In seinem Brustkorb ging das Paranoia-Lämpchen an.
Seine Augen klebten am Rückspiegel, während er den rechten Blinker setzte, dann aber doch geradeaus weiterfuhr. Die Limousine blinkte weder, noch bog sie ab. Kat hatte wieder ihre Kopfhörer auf und starrte gebannt auf den Bildschirm, während ihr Körper langsam den Bewegungen des Autos folgte. Die Luft hatte in der Abenddämmerung etwas Körniges, durchsetzt mit dem Licht der Autoscheinwerfer, und er konnte keinen klaren Blick auf Automarke oder Nummernschild erhaschen. Die Muskeln in seinem Nacken hatten wieder zu ihrer gewohnten Verkrampfung zurückgefunden. Wie schnell es sich doch wieder anfühlte, als hätten sie sich nie entspannt.
Als Mike seinen Blick wieder vom Rückspiegel losriss und nach vorne sah, kamen die Autos, die vor ihm stehen geblieben waren, so schnell näher, als würde er sie heranzoomen – viel zu schnell. Er trat mit aller Kraft auf die Bremse, und Kat fiel der Milchshake aus der Hand und klatschte auf den Sitz neben ihr. »Schei… benkleister.« Nur wenige Zentimeter von der Stoßstange ihres Vordermanns entfernt kamen sie zum Stehen.
»Scheibenkleister«, wiederholte Kat.
Mike zog sein T-Shirt aus und warf es ihr nach hinten. »Hier, wisch’s damit auf.«
»Tut mir leid, Dad.«
»Kannst doch nichts dafür, Schatz.« Er verstellte den Rückspiegel ein wenig. Die Limousine war immer noch da, stand im Leerlauf hinter einem Minivan und ließ einen Scheinwerfer sehen. Die Motorhaube wirkte verbeult, und auf dem schwarzen Lack lag eine Staubschicht.
»… oder den Mond?«, fragte Kat.
»Entschuldige, was hast du grade gesagt?«
»Wen magst du lieber, den Mars oder den Mond? Ich mag den Mars, weil er ganz rot ist und …«
Die Ampel sprang auf Grün, und Mike wartete kurz, bevor er langsam anfuhr. Der Minivan wechselte die Spur, und er konnte die getönte Windschutzscheibe und den Kühlergrill der schwarzen Limousine erkennen – sah aus wie ein Mercury Grand Marquis – bevor ein Jeep in die Lücke zwischen ihren Autos einscherte.
Er bog in eine Wohnstraße und ließ den Motor aufheulen.
»Dad. Dad. Dad.« Kat wedelte mit einer besonders langen Pommes herum, die sie ihm unbedingt zeigen musste.
»Super, Schatz. Das ist ja ein Riesending.« Im Spiegelbild hinter Kats Pommes sah er, wie der Mercury in dieselbe Straße bog.
Mike fuhr um die Ecke, gab Gas und bog in die nächste Nebenstraße. Dann stellte er den Motor ab und machte das Licht aus.
»Worauf warten wir, Dad?«
»Nichts, mein Schatz. Ich muss nur mal kurz nachdenken. Schau ruhig weiter deine Sendung.«
Sie zuckte die Achseln und tat, was er ihr gesagt hatte.
Ganz abrupt war die Nacht hereingebrochen. Hunde bellten, Bewegungsmelder ließen grelle Beleuchtung aufflammen, Wohnzimmerfenster wurden von fernsehblauem Geflacker erfüllt. Ohne T-Shirt fühlte Mike sich seltsam verwundbar. Die Lüftung blies kühle Luft über seinen nackten Oberkörper, und er blickte auf seine Hände, die das Steuerrad so fest umklammerten, dass die Knöchel ganz weiß wurden. Ein Bild, das ihn zurückversetzte in …
Auf einmal tauchten die Scheinwerfer eines Autos auf, das langsam die Straße hochgefahren kam. Immer näher.
Mike ertastete einen Schraubenschlüssel in der Mittelkonsole. Mit der anderen Hand fasste er den Türgriff und machte sich innerlich bereit. Die Scheinwerfer waren jetzt direkt vor ihm, ihr Licht glitt ihm übers Gesicht, und als er gerade aus dem Auto springen wollte, begann sich die Garagentür direkt neben ihnen ruckelnd zu öffnen. Als das Scheinwerferlicht weiterglitt, konnte er auch das Auto dahinter erkennen – keine schwarze Limousine, sondern ein weißer Mercedes. Er fuhr in die Auffahrt, und der Mann am Steuer warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
Mike atmete durch. Hinten sah er Kats Gesicht, das in das fahle Licht des Bildschirms getaucht war. Sie blinzelte in immer längeren Abständen. Nachdem er noch eine Minute abgewartet hatte, fuhr er auf die leere Straße hinaus. Vorsichtig bog er um die nächste Ecke. Nichts.
Als er wieder normal atmete, dachte er über die Route nach, die er von Santa Monica genommen hatte – eine große Zufahrtsstraße zum Freeway. Was bedeutete das schon groß? Dreimal musste man da abbiegen. Hatte das schwarze Auto überhaupt etwas Auffälliges gemacht? Oder sah er überall schon eingebildete Bedrohungen?
Er lachte in sich hinein und wischte sich den Schweiß vom Nacken. Officer, ein Grand Marquis ist mehrere Blocks weit hinter mir her gefahren. Und ist dabei sogar ein paar Mal auf dieselbe Straße abgebogen wie ich. Nein, ein Nummernschild hab ich nicht gesehen, aber vielleicht könnten Sie ihn ja via Satellitenbild finden?
Seine massiven Schuldgefühle wegen der pseudo-grünen Wohnanlage ließen ihm eben keine Ruhe, so dass er mittlerweile Stalker sah, wo keine waren, und Babyphone und andere Verkehrsteilnehmer von vornherein mit Misstrauen betrachtete. Außerdem waren die einzigen Leute, die über diese PVC-Rohre Bescheid wussten, im Grunde ja Komplizen – wer würde ihn da schon anzeigen wollen? Und warum? Niemand. Kein Grund zur Aufregung.
Auf dem ganzen Heimweg behielt er den Rückspiegel genau im Auge.
»Sie kratzt sich am Kopf. Pausenlos. Ist dir das nicht aufgefallen?«
Mike beobachtete, wie Annabel Kats Haar untersuchte. »Nein«, gab er zu.
»Die gehen an der Schule um, und wie bei allem scheint sie die Erste zu sein, die sich die Dinger einfängt.« Annabel hielt Kats Kopf mit zwei Händen fest und drehte ihn ins helle Licht der Badezimmerlampe. Es war spät, sie waren alle müde. »Steh mal still, mein kleines Äffchen.«
»Du musst nicht gleich sauer auf mich werden«, sagte Kat. »Ich lauf ja auch nicht rum und denk mir: ›Hm, was könnte ich denn heute mal machen, um Mom zu ärgern? Au ja, genau. Ich hol mir Kopfläuse.‹«
Mike legte seine Schlüssel auf die Arbeitsplatte in der Küche – er war gerade noch beim Drugstore gewesen – und holte die Flasche mit dem Mittel aus der Tasche.
Kat beäugte das rote Etikett. »Puh, was in dem Zeug wohl drin ist?«
Mike hielt die Flasche hoch und las blinzelnd die Inhaltsstoffe vor: »Benzin, Stinktiersaft, Batteriesäure …«
»Mom.«
»Er macht doch bloß Spaß.«
»Aber da sind schlimme Sachen drin. Davon krieg ich Verätzungen. Und Mutationen.«
»Davon kriegst du keine Mutationen«, antwortete Annabel müde.
Aber wie immer siegte ihre Tochter mit ihren Argumenten, also wendeten sie am Ende ein altes Hausmittel an, das Annabel im Internet gefunden hatte – sie kämmte Kat Mayonnaise ins Haar und wickelte ihr dann einen Turban aus Frischhaltefolie darüber. Das Ganze betonte Kats lächelndes Elfengesicht. Mike ging ins Badezimmer, um sich die Mayonnaise unter den Fingernägeln herauszukratzen, und hörte über das Babyphone zu, wie Annabel Kat in den Schlaf sang, mit einem liebevollen, sanften Wiegenlied, und wie immer völlig schief. »Der Mond ist aufgeGANgen, die gold’nen Sternlein PRANgen.«
Er lächelte in sich hinein, bis ihm der schmutzige schwarze Grand Marquis wieder einfiel, in dem er einen Verfolger vermutet hatte. Er sah vor seinem inneren Auge, wie der Milchshake von Kats Hand tropfte, weil er an der Ampel so scharf gebremst hatte und …
Mist.
Die Eidechse.
Er rannte hinaus zum Auto und fand das Erdnussbutterglas unter dem Beifahrersitz. Die Eidechse darin war tot, dünn und aufgebogen wie eine Feder.
Er trug das Glas hinein, als Annabel gerade aus Kats Zimmer kam. »Ich hab ein Handtuch auf ihr Kissen gelegt, damit die …« Sie brach ab, als sie das Glas in seiner Hand sah.
»Sie wollte sie behalten«, erklärte Mike.
Annabel zuckte mit den Achseln. »Wie soll sie’s sonst jemals lernen?« Sie verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. »Wollen wir’s ihr sagen?«
Sie hatten das Ganze schon mit Hamstern, Goldfischen und einem Frosch durchgemacht, aber als Kat älter wurde und immer mehr begriff, schien es jedes Mal schlimmer zu werden.
»Ja«, sagte Mike. »Müssen wir.«
»Ich weiß. Machst du’s?«
»Klar.«
Mike stellte das Glas auf den Boden, ging in Kats Zimmer und setzte sich auf ihre Bettkante. Sie blickte zu ihm auf und sah irgendwie koboldhaft oder fast schon außerirdisch aus mit ihrem Mayo-Turban. Er drückte seine Fingerspitzen in den Bettüberwurf. »Ich lüg dich niemals an, stimmt’s?«
Sie nickte, und im nächsten Moment hatte er das Bild der vergrabenen PVC-Rohre vor sich, die Lüge der Vertuschung, die Lüge mit den Häusern, die Lüge der baldigen Preisverleihung. Aber das war jetzt nicht der richtige Moment. Jetzt war der Moment für eine Achtjährige und eine tote Eidechse.
»Deine Eidechse ist gestorben.«
»Tot?« Sie musste zwinkern. »Im Eidechsenhimmel, meinst du?« Trotz ihres kleinen Witzes begann ihre Unterlippe ganz leicht zu beben. Er sah, wie die Reue über ihr Gesicht zog, aber dann biss sie sich auf die Lippe, so dass sie aufhörte zu zittern. »Na, dann kannst du ja jetzt sagen ›Hab ich dir doch gleich gesagt‹.«
Es machte ihn fertig zu sehen, wie gut sie ihre Gefühle beherrschen konnte. Er blickte auf seine Hände und versuchte sich einen Trick auszudenken, mit dem er zu ihr durchdringen konnte. Vielleicht mit dem Schlechte-Eltern-Spiel?
»Wir sprechen nicht über unsere Gefühle«, sagte er. »Wir schlucken sie herunter und stauen sie in uns auf, bis sie sich in unterschwellige Angst oder Wut verwandelt haben.«
Kat musste halb lächeln, wenn auch mit glasigen Augen, aber dann verzog sich ihr Gesicht und die Tränen begannen ihr nur so über die Wangen zu strömen. »Ich will nicht, dass meine kleine Eidechse tot ist.«
Er nahm sie in den Arm, rieb ihr mit der Hand in kleinen Kreisen den Rücken, und sie schluchzte ein wenig an seiner Schulter. Schließlich löste sie sich von ihm. »Kann ich sie sehen?«
Er holte das Glas, sie nahm es in die winzigen Hände und hielt es ein wenig schräg, so dass die steife Eidechse über den kleinen Zweig rutschte. »Was machen wir mit ihrer Leiche?«
»Na ja, wir können sie ja im Garten vergraben und …«
»Nein«, sagte sie schnell. »Zach Henson.«
Mike brauchte einen Moment, bis er den Namen in seinem Gedächtnis fand – ein Fünftklässler, der ein Jahr zuvor an Leukämie gestorben war. Mike und Annabel waren zur Beerdigung gegangen, nur um den Eltern die Hände zu schütteln und hilflos das Einzige zu sagen, was sie sagen konnten: »Wenn es irgendwas gibt, was wir tun können …« Danach saßen sie auf dem Parkplatz vor der Kirche und schwiegen vor lauter Grauen. Annabel weinte leise, er umklammerte das Lenkrad und sah zu, wie nach und nach die Verwandten vorbeigingen, mit verzerrten Gesichtern und hängenden Schultern. Wie immer fasste Annabel seine Gedanken in Worte und sagte: »Alles andere könnte ich wahrscheinlich überleben, aber wenn ihr etwas passieren würde, würde ich sterben.«
Jetzt räusperte sich Mike, legte Kat eine Hand auf das winzige Knie und sagte: »Zachs Körper ist mittlerweile wahrscheinlich ganz in die Erde zurückgegangen.«
Kat kratzte sich den Kopf durch die Mayonnaise-Frischhaltefolien-Hülle, zog ein ernstes, nachdenkliches Gesicht und meinte dann: »Was ist eigentlich, wenn ihr sterbt, Mom und du?«
»Das werden wir so schnell nicht. Über solche Dinge kannst du dir noch lang genug den Kopf zerbrechen, wenn du älter bist. Im Moment ist es deine einzige Aufgabe, ein Kind zu sein und Spaß zu haben. Wir werden dich immer beschützen. Bis du dich selbst beschützen kannst.«
Kat drehte sich auf die Seite und stopfte ihr Kissen an die Stelle, wo sonst immer ihr Eisbär geschlafen hatte. »Aber wenn du eines Tages einfach verschwindest? So wie deine Eltern? Was würde dann mit mir passieren?«
Die Frage nahm ihm im ersten Moment fast den Atem, und es dauerte ein, zwei Augenblicke, bis er sie beruhigen und ihr einen Gutenachtkuss geben konnte. Als er durch den Flur zum Schlafzimmer ging, hätte er schwören können, wieder das Summen der Unglück bringenden Schmeißfliege zu hören, aber als er sich umdrehte, sah er an der Stelle, wo Wände und Decke zusammenstießen, nichts als Dunkelheit.