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Mikes übergroßes verpixeltes Gesicht sah ihm und seiner Familie entgegen, als sie den Fuß in den Braemar Country Club setzten. Der Artikel aus der Los Angeles Times vom Dienstag war auf Türformat vergrößert und auf eine Styroporplatte aufgeklebt worden. Am Rand waren ähnliche Zeitungsausschnitte aus den größten Zeitungen des Staates untereinander aufgeklebt wie riesige Dominosteine, was das ganze Arrangement wie die Titelseite einer Boulevardzeitung wirken ließ. Mike blieb stehen. Ihm war unwohl in seiner Haut und in seinem 800-Dollar-Anzug.

Obwohl das Zeitungsfoto ganz deutlich seine verschiedenfarbigen Augen zeigte, schrieb der Journalist von seinen »leuchtend braunen Augen«, und ließ dabei die Tatsache unter den Tisch fallen, dass eines davon genau genommen »leuchtend bernsteinfarben« war. Aber diese Schlamperei war nichts neben dem Betrug, der dem ganzen politisch aufgeladenen Hype zugrunde lag – dass Mike nämlich einen Umweltpreis für Häuser bekam, die die Anforderungen eigentlich gar nicht erfüllten. Als er die Lobeshymne überflog, die seine Arbeit in den ozonarmen Himmel hob, spürte Mike einen Anflug von Schuldgefühlen und – während er die kleine Hand seiner Tochter in seiner spürte – Scham.

Annabel zupfte ihn schließlich am Ärmel und riss ihn aus seinen Gedanken. Widerwillig trat er ein, nickte gut gekleideten Menschen zu, von denen ihn viele anstrahlten, weil sie ihn offenbar vom Foto wiedererkannten. Kat blieb dicht neben ihm. Sie hatte einen mit Büchern vollgepackten Rucksack dabei, für den Fall, dass sie sich langweilen sollte. Kellner liefen mit Champagnergläsern und Horsd’œuvres herum, die er nicht identifizieren konnte. Er steckte sich ein gebäckartiges Teilchen in den Mund, nur um irgendetwas zu tun zu haben, und ließ kauend den Blick über die Menge schweifen, um vielleicht ein bekanntes Gesicht zu entdecken.

Kat spielte bereits Fangen mit Andrés’ Kindern. Annabel sah umwerfend aus in ihrem roten Kleid mit dem Rückenausschnitt. Er beobachtete, wie sie sich mühelos in einen Kreis aus stark geschminkten Frauen einfügte, wobei sie sich mit einer Anmut bewegte, die einem nur gute Erziehung und natürliches Selbstbewusstsein verleihen konnte. Diese Frau war ein Wunder – jede neue Situation, in der er sie erlebte, brachte eine neue Facette an ihr hervor. Doch obwohl er sie mit Stolz beobachtete, schien ihre Entspanntheit nur zu unterstreichen, wie fehl am Platz er sich fühlte. Es kam ihm so vor, als wäre die einzige Umgebung, in der er sich so entspannt bewegen konnte, seine Familie.

Gerade wollte er auf seine Frau zusteuern, als sich eine ältere Dame mit einem Klemmbrett an Annabel wandte. »Sie sind Michael Wingates Frau, stimmt’s?«, fragte sie. »Ich müsste Sie ganz kurz für ein Foto entführen.« Sie nahm Annabel bei der Hand. Annabel zuckte in gespielter Hilflosigkeit mit den Achseln und ging lächelnd mit.

Mike durchquerte den Raum und gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Könnte ich ein Budweiser haben?«

Der Bartender, ein gutaussehender Typ, höchstwahrscheinlich mit Schauspieler-Ambitionen, deutete auf die Flaschen, die hinter ihm in eisgefüllten Eimern standen. »Da sind Sie auf der falschen Party. Wir haben bloß Heineken.«

Mike nahm die kalte Flasche entgegen. Das bittere Bier tat ihm gut. Die letzten zwei Tage hatten sich endlos hingezogen, es war ihm vorgekommen, als würde die Zeit immer langsamer vergehen, weil er sich so vor diesem Abend gefürchtet hatte.

Als er über die Köpfe der Menschenstrudel hinwegblickte, entdeckte er Andrés an einem der elegant gedeckten Tische beim Podium. Er hielt die Handtasche seiner Frau und sah aus, als würde er vor Langeweile gleich umkommen. Er verdrehte die Augen, und Mike musste schnell wegschauen, um sein Lächeln zu verstecken.

Als er jedoch den Stabschef des Gouverneurs entdeckte, der am Nebentisch Hof hielt, erstarb das halbe Grinsen auf Mikes Gesicht.

Bill Garner fing seinen Blick auf und bedachte ihn mit einem Nicken, dass Mike als verschwörerisch interpretierte. Sahen ihn andere Leute auch so an? Er wurde dieses Gefühl von Verunsicherung einfach nicht los. Die ganze Woche bildete er sich schon solche Dinge ein.

Die hintere Wand des Saales bestand aus deckenhohen Fenstern, aus denen man auf die sanft geschwungenen Hügel eines Golfplatzes blickte, der jetzt im Dunkeln lag. Mike bahnte sich einen Weg durch die Menge und grüßte dabei das eine oder andere Gesicht. Als er am Rand der Menge angelangt war und auf den Horizont blicken konnte, wurde er ein bisschen ruhiger.

Gerade als er seine Sorgen ein wenig loslassen wollte, rempelte ihn jemand von der Seite an. Er stolperte ein paar Schritte zur Seite, um das Gleichgewicht wiederzufinden, aber schüttete sich dabei Bier auf ein Hosenbein.

Von hinten hörte er eine Stimme. »Oh, tut mir leid.« Ein drahtiger Mann mit unregelmäßigem Bartwuchs lehnte sich zu ihm und fasste seinen Arm. »Ich habe ZP.«

Der Atem des Mannes roch nach Vogelkäfig, seine Lippen waren übersät mit schwarzen Flecken. Waren das Sonnenblumenkerne? Er griff in die Tasche seines mausbraunen Sakkos und holte ein Taschentuch hervor. Mike nahm es und wischte damit auf dem nassen Fleck herum, aber die Flüssigkeit war schon eingezogen.

»Zerebralparese«, erläuterte der Mann. »Ich verlier leicht das Gleichgewicht, wissen Sie? Wirklich, es tut mir leid.«

»Schon gut. Ich hasse diesen Anzug sowieso.«

Das Sakko des Mannes sah aus, als hätte er es von der Heilsarmee bekommen – Cord, abgescheuerte Ellbogenflicken, ausgefranste Ärmelsäume. Mike gab ihm das Taschentuch zurück, und der Mann nahm es mit einer gekrümmten Hand, die aussah wie eine Affenpfote. Seine Augen in dem gelblichen Gesicht zuckten unruhig von einer Seite zur anderen.

Ein paar Meter entfernt stand ein bulliger Mann, der weder entspannt noch unentspannt aussah – tatsächlich sah er nach überhaupt nichts aus. Mike brauchte einen Moment, bis er begriff, dass die beiden zusammengehörten.

»Ich hab mir die Achillessehne schon achtmal verlängern lassen und die Kniesehne fünfmal«, fuhr der Mann im Sakko fort. »Allein in meinem rechten Fuß musste ich mir schon elfmal die Sehnen durchtrennen lassen. Insgesamt vierundvierzig Operationen. Die Botox-Injektionen in die spastischen Muskeln zähle ich dabei gar nicht mit. Dazu kommen die Krampfmedikamente, dann die Medikamente gegen die Nebenwirkungen der Medikamente und … na ja, ich glaube, Sie können sich eine ganz gute Vorstellung machen.«

Mike lockerte seine Krawatte und überlegte, was der Kerl von ihm wollen könnte.

Der große Mann blieb reglos an seinem Platz stehen und schaute ins Nichts. Hörte er überhaupt zu?

»Und die Muskeln ziehen sich trotzdem weiter zusammen. Jedes Jahr kann ich ein bisschen schlechter gehen. Und brauch wieder ein paar Schnitte hie und da. Höllisch teuer ist das alles. Allein deswegen muss ich schon weiterarbeiten.« Er hob ein Weinglas ans Kinn und spuckte ein paar Schalen von Sonnenblumenkernen hinein, die, zusammen mit einem halben Zentimeter Rotwein, eine feuchte Masse am Glasboden bildeten. »Und das Ganze bloß, weil ich nicht genug Sauerstoff gekriegt hab, als ich den Geburtskanal runterkam. Hatte nicht mal selbst Schuld. Aber zahlen muss ich trotzdem dafür, Tag für Tag.« Er kicherte. »Karma ist schon ätzend, stimmt’s, Mike? Früher oder später holt es uns alle ein.«

Mike musterte das Gesicht des Mannes. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

Der Mann deutete mit einer Kopfbewegung auf die vergrößerten Zeitungsartikel. »Der Mann des Tages.«

»Und Sie sind …?«

»William.«

»William …?«

William lächelte, wobei er seine gelb verfärbten Zähne zeigte. »Mein kleiner Cousin hatte auch solche Narben.« Mit einem Nicken deutete er auf Mikes Knöchel.

Mike steckte die Hände in die Hosentaschen. »Hatte?«

»Leute mit solchen Knöcheln erreichen das mittlere Lebensalter meistens nicht.«

Kat lief vorbei. Sie verfolgte Andrés’ Sohn und quietschte vor Lachen.

William deutete mit dem Kinn auf die Kinder. »Sehen Sie sich bloß die Kleinen an. Da könnte ich den ganzen Tag zuschauen.«

Die Art, wie William die Kinder ansah, rief bei Mike jedoch ein Schaudern hervor.

»Süßes Mädchen«, bemerkte William. »Muss Ihre sein – eine große Ähnlichkeit, diese Katzenaugen. Da sieht man gleich, dass sie nicht adoptiert ist.«

Eine unheimliche Bemerkung, und noch unheimlicher deswegen, weil Mike fand, dass Kat ihm gar nicht sonderlich ähnlich sah. Warum sollte sich der Kerl dafür interessieren, ob Kat adoptiert war? Hatte Mike sich verhört oder hatte William tatsächlich das »nicht« betont? Eine versteckte Anspielung auf Mikes Vergangenheit als Pflegekind? Was wollte er ihm damit sagen? Und woher konnte William das alles wissen? Mike spürte den Puls in seiner Halsschlagader.

»Wen von den Anwesenden kennen Sie hier eigentlich?«, fragte Mike.

»Tja, Mike – jetzt kenne ich Sie, oder?«

»Natürlich«, erwiderte Mike ruhig. »Aber wer hat Sie eingeladen?«

Irgendjemand machte eine Durchsage, und die Leute begannen sich auf ihre Plätze zu verteilen. Die Frau mit dem Klemmbrett winkte Mike mit einer überdeutlichen Geste zu seinem Sitz beim Podium. Sie müssen sofort hier rüberkommen.

»Ich glaube, Sie gehen jetzt besser«, meinte William. »Sieht so aus, als wollen die Sie gleich auf der Bühne haben.«

Es konnte keinen Zweifel geben, diese zweite Anspielung war Absicht. Irgendetwas lag plötzlich in der Luft.

Und Mike verlor langsam die Geduld. Er schluckte und versuchte seine Gereiztheit zu verbergen. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Inwiefern haben Sie mit dieser Veranstaltung zu tun?«

»Ich geh einfach nur gern auf Partys.« William sah Mike unverwandt in die Augen und spuckte noch eine Schale eines Sonnenblumenkerns aus, die aber diesmal auf dem Teppich landete. »Außerdem sind hier jede Menge hübsche Frauen.« Er deutete erneut mit seinem rauhen Kinn in die Menge. »Schauen Sie sich doch bloß mal dieses Schnittchen da drüben an.« Annabel saß an der Ecke des Banketttisches auf dem Podium. Obwohl sie darauf achtete, ihre Beine geschlossen zu halten, war ihr das Kleid über ein Knie hochgerutscht, und aus Mikes tieferer Perspektive konnte er ein kleines Dreieck aus weißer Seide zwischen ihren Beinen erkennen.

Mike spürte, wie sein Gesicht ganz heiß wurde. Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich, und der bullige Mann machte einen halben Schritt in seine Richtung, ohne den Blick von der Wand zu nehmen.

Mike merkte, wie der alte Instinkt wieder in ihm hochkam. Sein Gesicht war nah genug an Williams, um den Gestank zu riechen, der aus seinem Mund aufstieg.

Die Frau mit dem Klemmbrett rief jetzt Mikes Namen. Er entspannte ganz bewusst seine Muskeln und ging ruhig Richtung Bühne. Als er auf das Podium stieg, flüsterte er Annabel etwas ins Ohr, und sie strich sich das Kleid wieder ganz übers Knie. Die Lichter wurden gedimmt, bis auf die Scheinwerfer, die auf den Banketttisch gerichtet waren und Mike und die anderen Preisträger beleuchteten. Mike blinzelte in den Raum, konnte aber kaum mehr als schattenhafte Figuren an den weit entfernten Tischen ausmachen.

Der Gouverneur hatte seinen großen Auftritt. Seine Körpergröße ließ das Podium winzig aussehen. Er riss ein paar kleine Witze und zeigte beim Grinsen die charakteristische Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen. Mike nahm das Gekicher im Publikum wahr, aber sonst nicht allzu viel, denn seine Augen suchten die Menge ab. Annabel interpretierte seine Anspannung falsch und drückte ihm die Hand, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie bei ihm war. Kat winkte ihm von Andrés’ Tisch vor der Bühne zu.

Die anderen Preisträger standen auf und hielten jeweils eine kurze Rede, aber Mike konnte sich nicht auf ihre Worte konzentrieren. Er glaubte, Williams Gestalt im hinteren Bereich des Saals erspäht zu haben, aber dann gab es auf einmal eine schreckliche Stille, und er merkte, dass ihn alle anstarrten. Die Frau von vorhin – diesmal ohne Klemmbrett – sagte Mikes Namen noch einmal ins Mikrofon. Annabel drängte ihn aufzustehen, und er stelzte wie auf Holzbeinen zum Rednerpult.

»Ich … äh …« Durchdringend quietschendes Feedback. Sein Mund war zu nah am Mikro. Der nasse Stoff an seinem Oberschenkel fühlte sich kalt an. Er bemühte sich, die bizarre Begegnung zu verdrängen. »Ich verdiene es gar nicht, hier zu stehen«, sagte er.

Bill Garner sah von seinem VIP-Tisch zu ihm hoch. Er hatte den Kopf schräg gelegt und trug ein angespanntes leichtes Lächeln zur Schau.

»Ich meine, ich kriege auch noch einen Preis, wo ich doch schon so glücklich bin über das, was ich habe, und über die Arbeit, die ich machen kann. Jeden Tag beim Aufwachen denk ich mir, dass ich den Hauptgewinn im Lotto gemacht habe.«

Mike konnte sich endlich wieder ein bisschen entspannen und sah seine Frau an. Sie erwiderte seinen Blick liebevoll. »Weil ich … ich meine, ich hab meine Frau und meine Tochter, und eine feste Arbeit, die ich liebe.«

Mike senkte den Blick aufs Podium. »Außerdem ist es ja nicht so, als wäre der Bau von ›Green Valley‹ völlig selbstlos gewesen. Ich hab ja auch was verdient dabei.« Ein paar Leute lachten, um die angespannte Stille aufzulockern. Sie dachten, dass er Witze machte. »Ich bin kein großer Kämpfer für die Umwelt«, sagte er. »Ich möchte nur nicht, dass meine Tochter und meine Enkel in ein paar Jahrzehnten auf mich zurückblicken und sauer auf mich sind, weil ich nicht das Richtige getan habe.«

Annabels neuer Diamantring glänzte auf. Der große Stein schien zusammenzufassen, wie durch und durch mies er war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, legte sie die Hände in den Schoß und blickte weg, um die Fassung zu bewahren. Es warf ihn komplett aus der Bahn, sie so bestürzt zu sehen, und einen Augenblick verlor er völlig die Orientierung. Die Schweigepause zog sich unangenehm in die Länge, während er nach Worten rang. Um ein Haar hätte er die Karten auf den Tisch gelegt, hätte die Lüge gestanden, um dann wegzugehen und zu versuchen, sich aus dem Loch herauszuschaufeln, dass er sich und vierzig Familien geschaufelt hatte, doch stattdessen hörte er sich sagen: »Danke für Ihre Anerkennung. Ich fühle mich sehr geehrt.« Annabel schloss die Augen, und er sah, wie die dünne Haut an ihrer Schläfe im Takt ihres Pulses flatterte. Als das Publikum applaudierte, verließ er den Lichtkegel, berührte sie sanft an der Schulter und murmelte: »Lass uns gehen.«

Die Lichter im Speisesaal gingen wieder an, die Zeremonie war vorüber. Mike ließ den Blick rasch durch den Raum schweifen, doch keine Spur von William oder dem vierschrötigen Typen. Er fühlte sich krank, seine Gedanken rasten, sein Magen war immer noch in Aufruhr von dem vorherigen Gespräch, dem falschen Preis, der Art, wie Annabel den Blick abgewendet hatte, als er dort oben stand, als könnte sie ihm nicht in die Augen sehen. Er wollte nach Hause, die Nacht mit einer heißen Dusche abwaschen und diese ganze Sache hinter sich lassen.

Ein Fotograf kam auf sie zu: »Wir brauchen Sie noch für ein paar Fotos ….«

»Tut mir leid«, schnitt Mike ihm das Wort ab. »Wir müssen jetzt wirklich los.«

Er nickte den Gratulanten wortlos zu, dann nahm er Kat bei der Hand und führte sie und Annabel zur Tür. Andrés rief ihm hinterher: »Warum hast du’s denn auf einmal so eilig?«

Kat strahlte. »Dad hat gesagt, dass er ›Green Valley‹ für mich gebaut hat.«

Annabel zwang sich ein Lächeln ab und Mike lief weiter, in dem Versuch, Kats Bemerkung auch gleich hinter sich zu lassen. Ein paar vereinzelte Gäste waren hinausgegangen, ansonsten war der Parkplatz zum Großteil leer. Glänzende ausländische Autos und eine ganze Menge Hybridfahrzeuge. Mike hastete mit Annabel und Kat durch die Reihen und suchte nach dem schwarzen Mercury Grand Marquis, von dem er sich Anfang der Woche verfolgt geglaubt hatte.

»Mike …« Annabel drückte die Auszeichnung ein bisschen fester unter ihren Arm, hätte sie dabei aber beinahe fallen lassen. »Was ist eigentlich los?«

»Sag ich dir gleich.«

Am hinteren Ende des Parkplatzes fiel unter all den eleganten Fahrzeugen ein zerbeulter weißer Van ins Auge, der quer auf zwei Stellplätzen geparkt hatte. Zwischen Windschutzscheibe und Armaturenbrett klemmte eine aufgerissene Tüte Sonnenblumenkerne. Mike erstarrte paar Meter vor dem Van. Fahrersitz und Beifahrersitz waren leer, aber der Laderaum dahinter lag im Dunkeln.

Vorne trug er kein Nummernschild.

Mike wandte sich zu seiner Frau. »Nimm Kat, steig in unser Auto und verriegle die Türen.«

Annabel runzelte besorgt die Stirn, aber sie nahm Kat bei der Hand und eilte zu ihrem Auto. Obwohl noch ein paar Leute zu ihren Autos unterwegs waren, war es hier in der hintersten Reihe doch dunkel und still.

Vorsichtig ging Mike zur Rückseite des Vans. Ein alter Ford, ein Modell aus den späten Siebzigern. Karierte Vorhänge verdeckten bis auf einen schmalen Spalt die staubige Heckscheibe. Erleichtert sah er, dass das Auto hinten ein Kennzeichen trug, aber die gelben Zahlen und Buchstaben waren so verblichen, dass er sie berühren musste, um sie anhand ihrer Konturen zu entziffern. 771 FJK.

Die Stimme war erschreckend nah. »In so einem Kleid lassen Sie Ihre Frau in die Öffentlichkeit?«

Mike fuhr hoch. Über Williams Gesicht, das grinsend aus dem Rückfenster spähte, lagen die karierten Vorhänge wie Haare. Die Hecktür öffnete sich knarrend. Mike machte ein paar Schritte rückwärts, und sein Herz klopfte heftig. William quälte sich langsam aus dem dunklen Laderaum, gefolgt von dem großen Mann, der sich drohend hinter ihm aufbaute.

Mikes Atem durchglühte heiß seine Lungen. »Ich lasse sie überhaupt nichts.«

In der Nähe fiepte ein Alarm los, und Mike bemerkte erleichtert, dass noch mehr Leute zu ihren Autos gingen und sich auf dem ganzen Parkplatz verteilten. Hatten die Männer sich in ihrem Van versteckt und gewartet, um ihn auf dem Heimweg zu verfolgen?

Feixend taumelte William mit seinem seltsam x-beinigen Gang auf Mike zu. »Warum belästigen Sie uns?« Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schwenkte er sein Weinglas, das inzwischen halb voll mit den Schalen seiner Sonnenblumenkerne war. »Verfolgt uns bis auf den Parkplatz und spioniert um unseren Van herum.« William spuckte eine Schale auf den Asphalt vor Mikes Füßen. Er deutete mit seinem Kinn ruckartig auf den Parkplatz – eine Geste, die er wirklich übermäßig oft benutzte. »Gehen Sie lieber mal zurück zu ihrer Familie.«

Mikes Augen lösten sich nervös von William und musterten den großen Mann, der schweigend da stand, die astdicken Arme verschränkt, die undurchdringliche Miene halb im Schatten. »Was zum Teufel soll das denn heißen?«

»Das soll heißen, dass ein Familienvater wie Sie Besseres zu tun hat, als hier mit ein paar Asozialen zu quatschen.« Er warf einen Blick an Mike vorbei auf den Parkplatz, und Mike drehte sich um.

Annabel saß auf dem Beifahrersitz und beobachtete sie ängstlich durch die Windschutzscheibe. Der Wagen stand zwei Reihen entfernt, aber man konnte Kat auf dem Rücksitz erkennen. Sie stand und fummelte irgendetwas an ihrem Rucksack herum. Beide waren von hier aus deutlich zu sehen. Die Nachtluft, die Mike kühl in den Lungen spürte, schmeckte nach dem gemähten Gras des nahe gelegenen Golfplatzes. Ein Hauch von Zigarrenrauch lag in der Brise. Annabels Augen sahen ihn flehend an.

Mike drehte sich wieder um. »Geht es um ›Green Valley‹?«

»›Green Valley‹?« William wirkte aufrichtig verwirrt.

»Sie sind mir gefolgt«, sagte Mike.

Williams Augen zuckten rasch von einer Seite zur anderen, in einem fast schon mechanischen Tick. »Hört sich ja ganz so an, als wären da Leute hinter Ihnen her, Mr. Wingate. Aber das brauchen Sie nicht an Dodge und mir auszulassen.«

Mike machte ein paar Schritte zurück, dann drehte er sich um und ging rasch auf sein Auto zu, während Annabel ihn angespannt beobachtete. Ein paar Passanten riefen ihm noch ihre Glückwünsche zu, und er nickte, auch wenn sein Gesicht immer noch brannte vor Wut. Als er kurz vor dem Wagen war, machte Annabel ihm von innen die Tür auf. Kat hatte sich gerade in die andere Richtung gedreht und deutete lachend durchs Fenster: »Mann, die Frau hat ja einen be-scheu-erten Hut auf!«

Mike hörte das Geräusch von zerspringendem Glas hinter sich.

Er drehte sich um. William sah bemitleidenswert aus, wie er sein zitterndes Handgelenk umklammerte und sich bei dem kleinen Menschenauflauf entschuldigte, der sich um ihn gebildet hatte. »Tut mir leid, es ist einfach runtergefallen.« Ein Mann im Anzug fegte mit einer zusammengerollten Zeitschrift die Scherben des Weinglases von seinen Reifen weg. Dodge bückte sich, immer noch wortlos, um ihm zu helfen. Ob er wohl stumm war?

Annabel war jetzt ausgestiegen. »Mike, was zum Teufel ist hier los?«

Er fasste sie am Arm und dirigierte sie zurück auf den Beifahrersitz. »Wir fahren. Ich erklär’s dir gleich.«

»Du tust mir weh«, sagte sie ganz ruhig.

Er ließ sie los. Wo er sie angefasst hatte, hatte ihre Haut sich rot verfärbt. Sie kletterte in den Wagen und er umrundete den Kühler, um auf den Fahrersitz zu steigen.

Doch William und Dodge standen bereits vor ihm. Er drehte sich um und sah Annabels Blick. Sie deutete seinen Gesichtsausdruck und aus ihrem Gesicht wich jede Farbe. Sie bewegte den Arm, und er hörte die Zentralverriegelung klicken. Auf dem Rücksitz ordnete Kat zerstreut ihre Bücher im Rucksack.

Im nächsten Moment war William mit einer geschmeidigen Bewegung bei Mike. Seine Hüften bewegten sich ein bisschen auffällig, wenn er ging, aber nichts im Vergleich zu dem betonten Hinken, das er vorher an den Tag gelegt hatte. Mike fragte sich, wie oft der Mann seine Krankheit wohl schon zu seinem Nutzen ausgespielt hatte, so wie Shep seine Hörbehinderung.

Mike ging in Angriffsstellung, als William sich in seine Reichweite manövriert hatte, und sagte: »Wie ich sehe, hat sich Ihre ZP spontan ein wenig gebessert.«

William entblößte die gelben Zähne. »Unserem Herrn Jesus sei Dank.«

Dodge versteckte einen seiner mächtigen Arme hinter dem Rücken. Verbarg er ein Messer? Einen Revolver?

Das Adrenalin brandete durch Mikes Adern, ihm war fast ein wenig schwindelig. William konnte er innerhalb einer Sekunde zu Boden werfen, aber Dodge war ein Risiko. So wie der aussah, konnte er Mike mit einer Handbewegung den Hals umdrehen. Doch im Moment galt Mikes einzige Sorge Annabel und Kat. Seine Tochter war immer noch voll und ganz auf ihre Büchertasche konzentriert, aber sie konnte jeden Moment aufblicken und merken, was hier gleich passieren würde. Er versuchte, Annabel per Willenskraft dazu zu bewegen, dass sie über die Mittelkonsole sprang und schleunigst davonfuhr, aber er wusste, dass sie ihn nie allein zurücklassen würde.

William spuckte Mike einen Regen aus zerkauten Schalen auf die Schuhe.

»Spucken Sie mich nicht an«, sagte Mike.

Williams Zunge fuhr in seinem Mund herum und erschien dann zwischen seinen Lippen, um einen schwarzen Halbmond auf der Zungenspitze zu präsentieren. Er blies ihn Mike direkt auf das Hemd.

»Noch einmal und wir kriegen ein Problem.«

William schürzte die Lippen, dass sich die Stoppeln auf seinem Kinn sträubten, und sein starrer Blick bekam etwas Anerkennendes. »Na also. Geht doch.«

Eine Frau im Pelzmantel entschuldigte sich und schlüpfte an Mike vorbei, um in ihren Jaguar zu steigen. Ihre Gegenwart brachte ihn wieder zur Besinnung. Er atmete aus und ließ seine Wut verfliegen. Dann machte er einen Schritt zurück und überließ William das Feld, ohne dabei die Augen von Dodges Schulter und seinem hinter dem Rücken verborgenen Arm zu nehmen.

Rasch warf Mike einen Blick über seine Schulter. Kats Gesicht blickte ihm entgegen, mit demselben Gesichtsausdruck wie Annabel. Verzweifelt versuchte er es mit vernünftigen Argumenten: »Schauen Sie sich diese ganzen Leute an. Das ist eine feine Veranstaltung. Wir wollen uns hier doch nicht schlagen.«

»Schlagen? Schlagen?« William grinste, und sogar Dodges Gesichtszüge schienen sich für einen Augenblick zu verschieben, um so etwas wie Amüsement zu verraten, wobei er ein paar Zahnlücken entblößte. »Normalerweise sind da doch noch ein paar Eskalationsstufen vorgeschaltet, oder? Schreien, Schubsen, Anrempeln. Wir wollen doch jetzt nicht das ganze Vorspiel unter den Tisch fallen lassen, oder?«

»Doch«, sagte Mike. »Genau das wollen wir. Egal, was Sie hier für ein Spiel spielen, hier ist es zu Ende.«

»Nein«, sagte Dodge, und seine tiefe Stimme, die man fast eher als Vibration wahrnahm, überraschte Mike.

Dodge zog die Hand hinter dem Rücken hervor und ließ einen weißen Eisbären aus Stoff auf den Boden fallen.