DAMALS
14
Drei Minuten nach Mitternacht sieht Mike die roten Lichter vor dem Fenster des Gemeinschaftsschlafzimmers in der Shady Lane 1788 und weiß Bescheid. Shep arbeitet als Rausschmeißer in einer Bar und wird erst in ein paar Stunden nach Hause kommen, wenn überhaupt. Mike hört die Schritte der Couch-Mutter zur Haustür donnern, ein sich beschleunigender Trommelwirbel, der seine wachsende Angst untermalt. Am liebsten würde er seinen Kopf unter der Decke vergraben. Auf dem Plastikschemel, der ihm als Nachttisch dient, liegt eine eselsohrige Ausgabe von John Steinbecks Von Mäusen und Menschen, die irgendein Genie – zweifellos Dubronski oder Tony M. – so zerkratzt hat, dass der Titel jetzt Von Mösen und Menschen lautet. Jetzt ist alles vorbei, denkt Mike.
Eine halbe Stunde später sitzt er im allzu vertrauten Vernehmungszimmer und diesmal wird ihm kein freundlicher großväterlicher Saab-Besitzer den Arsch retten.
Ja, das ist er auf dem Bild aus der Überwachungskamera. Ja, er hat die seltene Münze zum Pfandleiher gebracht. Ja, er hat sie auf der Straße gefunden.
Wie immer sind die Detectives gesichtslos, namenlos. Sie sind wie die Erwachsenen in den Peanuts-Cartoons: nur Stimmen und angedeutete Körper.
»Du bist ein anständiger Junge«, sagen sie. »Das sehen wir dir doch an. Es ist noch nicht zu spät für dich.« Sie sagen: »Wir haben uns deine Akte angeschaut. Okay, ein paar Mal hattest du mit der Polizei zu tun, aber einen Safe knacken? Das passt doch hinten und vorne nicht. Aber wir wissen, dass du mit Shepherd White befreundet bist, und zu dem würde das schon viel eher passen. Der Junge ist ein übler Kerl, den erwischt es früher oder später sowieso. Willst du, dass er dich mit runterzieht?«
Loyalität, denkt Mike. Durchhaltevermögen, denkt er.
»Du stehst kurz davor, aufs College zu gehen«, sagen sie. »Du willst ein guter Bürger werden. Du hast eine glänzende Zukunft vor dir. Shepherd White ist ein Ganove, ein verkommenes Subjekt. Du kannst doch eins und eins zusammenzählen, oder?«
Doch Mikes Gleichung sieht anders aus. Er ist immer noch siebzehn. Shep hingegen ist achtzehn und hat bereits zwei Vorstrafen als Erwachsener. Wenn Mike ihm diese Sache in die Schuhe schiebt, ist das Sheps drittes Verbrechen, und dann wird er fünfundzwanzig Jahre bis lebenslänglich ins Gefängnis wandern.
Mike kennt die Optionen, und beide jagen ihm solche Angst ein, dass er sein Bürgerhilfe-T-Shirt durchschwitzt.
»Wenn du nicht mitmachen willst, wird die Sache folgendermaßen laufen: Du hast einen Flecken in deiner makellosen Akte und wir haben ein wütendes Opfer, einen Mr. Sandoval von Valley Liquors, der auf jeden Fall aussagen wird. Die Jurys lieben Tresorknacker-Fälle, so was ist heutzutage fast schon ein Kuriosum, und sie sind einfach. So oder so, wir kriegen dich an deinem Pflegeheim-Arsch. Und auch wenn wir dich für den Einbruch nicht drankriegen, die Hehlerei können wir dir ins Strafregister schreiben. Und das bedeutet, dass du ins Gefängnis wanderst. Also denk lieber noch mal gründlich drüber nach, ob dir dein Kumpel das wert ist.«
Wenn Shep da gewesen wäre, hätte er den Mund aufgemacht. Er hätte eher ein lebenslängliches Urteil in Kauf genommen, als Mike den Kopf hinhalten zu lassen, denn er ist eine reine Seele, anders als Mike, der mit sich ringen muss, um das Richtige zu tun, und der sich wünschte, Shep wäre hier, um einzuschreiten und ihm die Gewissensqualen abzunehmen.
Mikes Kehle ist trocken und wie zugeschnürt, als er sagt: »Das ist er mir wert.«
Die Detectives sind auf so etwas gefasst. Sie ziehen eine Seite der Anmeldeformulare für die California State University L.A. hervor und sagen: »Lies das.«
Mike liest Frage 11 b, die mit gelbem Leuchtstift markiert ist »Sind Sie jemals für eine Straftat oder ein Vergehen verhaftet oder rechtskräftig verurteilt worden?«
»Ach genau, stimmt ja«, sagen sie. »Das wäre dann natürlich auch hinfällig, wenn du wieder rauskommst. Damit wirfst du das College weg. Damit wirfst du deine Zukunft weg. Denk drüber nach.«
Am nächsten Tag wird er angeklagt und auf Kaution freigelassen.
Als er nach Hause kommt, sieht er Shep am Fenster stehen. Sie gehen in den Garten und setzen sich auf die morschen Schaukeln.
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagt Shep. »Ich geh da hin und erzähl ihnen alles.«
»Wenn du da hingehst«, erwidert Mike, »kommst du nicht wieder raus, Mr. Du-weißt-doch-was-ich-draufhab.«
Zum ersten Mal seit langem hebt Shep die Stimme. »Das ist mir egal. Es geht um dein Leben. Es geht ums College. Ich geh da hin.«
»Wenn du da hingehst, werd ich dich niemals besuchen kommen«, sagt Mike. »Ich werd für den Rest meines Lebens kein Wort mehr mit dir sprechen.«
Sheps Gesicht verändert sich, und einen schrecklichen Moment lang glaubt Mike schon, dass er gleich anfangen wird zu weinen.
Wie versprochen, kriegen sie ihn für Hehlerei dran. Der Richter hat Jungs wie Mike gründlich satt und verurteilt ihn zu sechs Monaten Jugendgefängnis. Am Abend vor seinem Haftantritt bittet er die anderen, ihn einen Moment im Schlafzimmer allein zu lassen, und die anderen gewähren ihm diesen letzten Wunsch. Sheps Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten, aber Mike weiß, dass er am Boden zerstört ist, weil er mit den anderen hinausgeschickt wird. Mike räumt seinen Platz auf, macht ein letztes Mal sein kleines Feldbett und hält dann kurz inne, um nachdenklich das Zimmer zu betrachten. Auf der Klimaanlage, die seit Ewigkeiten kaputt ist, steht einer von Sheps Schuhen, der so riesig aussieht, als könnte man darin schlafen. Die Schubladen der Kommode hängen krumm und schief, die Leisten sind längst abgebrochen. Auf dem Plastikstuhl liegt Von Mösen und Menschen. Er nimmt es in die Hand und fährt mit dem Daumen über das zerfledderte Cover. Wie damals der Saab scheint es alles zu symbolisieren, was er nicht haben kann, alles, was er nicht ist, alles, was er niemals sein kann. Er streckt den Arm aus und lässt es in den Abfalleimer fallen.
Dubronski steht an der Schwelle. Mike denkt sich, dass das Arschloch die Türangeln für solche Gelegenheiten geölt haben muss. Dubronski hat ihn beobachtet, aber ausnahmsweise zeigt das fette Mobbergesicht keine Schadenfreude. Er wirft eine Geleebohne ein, um sich eine Ration Zucker zu verpassen, und fummelt verlegen an seinen Wurstfingern herum. »Hey, Doe Boy, ich wollte nur sagen – das ist echt Scheiße. Ich dachte immer, wenn du es schaffst, verdammt, dann sind wir alle vielleicht doch was wert.«
Bei diesen Worten bricht etwas in Mikes Innerem zusammen.
Das Gefängnis ist hart, aber nicht so gewalttätig wie behauptet. Mike weiß, wie man kämpft, deswegen kommt er nicht allzu oft in die Verlegenheit, es zu tun. Aber es ist die Hölle – die Hölle der völligen Vernachlässigung. Die anderen, seine Mitinsassen, repräsentieren all die schmutzigen Seiten an ihm, die er beim besten Willen nicht sauber kriegen konnte. Er passt ständig auf wie ein Schießhund, und das stresst ihn bis kurz vor der Erschöpfung: Er wacht alle fünf Minuten auf, geht auf dem Flur im Kreis, lehnt sich beim Hofgang mit dem Rücken an den Maschendrahtzaun.
Nach drei Wochen wird er zur Direktion bestellt, wo ihn die Leiterin der Einrichtung erwartet. Sie ist keine Gefängnisdirektorin. Genauso, wie er kein »Urteil« absitzt, sondern eine »angeordnete Strafe«, und die bulligen Wächter heißen »Betreuer«. Aber diese ganzen weichgespülten Bezeichnungen machen die Strafe nicht weniger hart.
Sie fragt ihn: »Wie würdest du deinen Gemütszustand beschreiben, mein Junge?«
»Ich hab eine Scheißangst«, sagt Mike.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, bist du aus den falschen Gründen hier. Wenn du dich gut führst, werde ich dafür sorgen, dass du hier eine angenehme Zeit verlebst.«
»Ja, Ma’am.«
»Ich werde mich dafür einsetzen, dass du frühzeitig entlassen wirst. Bis dahin benimm dich bitte so, dass ich nicht blöd dastehe.«
»Ja, Ma’am.«
»Und wenn du draußen bist, benimmt dich bitte auch so, dass ich nicht blöd dastehe.«
»Ja, Ma’am.«
Ein paar Tage später weckt ihn ein Wächter mit teigigem Gesicht um zwei Uhr morgens und murmelt ihm zu, dass die Couch-Mutter tot ist.
Details gibt es kaum. Die restliche Nacht sitzt Mike auf seiner zurückgeschlagenen Bettdecke. Seine nackten Füße stehen auf den eisigen Fliesen, eine Wand aus statischem Rauschen blendet jeden Gedanken und jedes Gefühl aus.
In einem geflüsterten morgendlichen Telefonat mit Shep erfährt Mike, dass sie auf einem ihrer seltenen Ausflüge ins Badezimmer einen Schlaganfall erlitten hat und sich auf dem Badewannenrand den Schädel gebrochen hat. Sie hatte ein gutes Herz, das stark genug war, ihr Blut durch diesen ganzen Riesenkörper zu pumpen. Doch jedes Herz hat seine Grenzen.
Als er Sheps Stimme hört, löst sich etwas in Mikes Brust, und er legt auf, geht auf die Toilette und sperrt sich in eine Kabine ein. Er sitzt auf dem heruntergeklappten Deckel, beugt sich vor und schluchzt dreimal völlig lautlos. Die Augen hat er fest zugekniffen, mit den Händen hält er sich den Mund zu.
Möglich, dass die Couch-Mutter nicht viel hergemacht hatte, aber sie war nun mal alles gewesen, was er hatte.
Er darf zur Beerdigung fahren. Zwei verlegene Polizisten in Uniform begleiten ihn und stellen sich an die hintere Wand der stickigen Kapelle. Als der Gottesdienst anfängt, steht der Leichenwagen der vorherigen Beerdigung noch mit laufendem Motor in der Auffahrt, man kann ihn durch eine Seitentür sehen. Die Gäste der nächsten Trauergesellschaft warten bereits im Empfangsbereich. Mike geht durch den Mittelgang, betrachtet den kühlschrankartigen Sarg und denkt: Ich hab dich enttäuscht.
Keines der Pflegekinder hält eine Rede. Ihnen fehlt der Sinn für Zeremonien, für Förmlichkeiten. Schließlich steht Shep auf. Er trägt ein schlecht sitzendes Hemd und sieht sehr düster aus, als er aufs Podium tritt. Sein Mund ist eine trotzige Linie. Stille.
»Sie war für uns da«, sagte er und geht wieder zurück an seinen Platz.
Obwohl der diensthabende Pfarrer die Stirn runzelt, weiß Mike, dass Sheps Äußerung als größtmögliches Kompliment gemeint war.
Neun Wochen später verlässt Mike das Jugendgefängnis mit einer Tasche voller Kleidung und vierzig Dollar vom Staat. Shep wartet an der Straßenbiegung auf ihn. Mit verschränkten Armen lehnt er an einem zerbeulten Camaro. Mike hat keine Ahnung, woher Shep von seiner vorzeitigen Entlassung wusste, er hat ja selbst erst am Morgen zuvor davon erfahren.
Als Mike auf ihn zugeht, wirft Shep ihm die Schlüssel zu. »Das hättest du nicht tun sollen«, sagt Shep.
»Loyalität«, erwidert Mike. »Und Durchhaltevermögen.«
In den nächsten paar Monaten versucht er sich für einige Jobs zu bewerben, aber seine Vorstrafe steht ihm im Weg wie ein Felsen mitten auf einer Straße durch einen Canyon. Also besorgt er sich einen Job als Tagelöhner, und macht irgendwelche Drecksarbeiten zusammen mit Ex-Knackis, die doppelt so alt sind wie er. Mit seinem ersten Gehaltsscheck heuert er einen Anwalt aus den Gelben Seiten an, der dafür sorgt, dass die Akte mit seiner Jugendstrafe einen Sperrvermerk erhält. Aber er findet bald heraus, dass potenzielle Arbeitgeber diese Akte zwar nicht mehr einsehen können, aber sehr wohl erfahren, dass sie für die Einsicht gesperrt wurde. Und er erfährt, dass sie sich viel schlimmere Verbrechen ausmalen als das, was er tatsächlich begangen hat.
In einem schäbigen kleinen Büro in der Stadt steht er Schlange mit verprügelten Ehefrauen, um eine Änderung seines Nachnamens und seiner Sozialversicherungsnummer zu beantragen. Er bekommt eine neue Nummer und einen neuen Nachnamen, diesmal einen selbst ausgesuchten. Er ist Michael Wingate, und er hat keine Vergangenheit und keine Geschichte. Er fängt noch einmal von vorne an.
Daraufhin bekommt er einen richtigen Job als Zimmermann, und nachts bügelt er Hemden in der Vorhölle einer Reinigung. Shep und er driften langsam auseinander, sie lassen sich von verschiedenen Strömungen mitziehen. Es geschieht ganz natürlich und schrittweise. Keiner von beiden spricht es aus.
Eines Tages kommt er am Schaufenster einer Videothek vorbei und sieht sie zwischen Drama und Comedy stehen. Er bleibt stehen und starrt sie an. Beim Anblick dieser Frau empfindet er eine schmerzhafte Sehnsucht, er verzehrt sich nach ihr. Aber er ist zu eingeschüchtert, um hineinzugehen und sie anzusprechen, also geht er nach Hause und liegt die ganze Nacht wach und verflucht sich für seine unerwartete Zaghaftigkeit.
In den nächsten paar Wochen geht er immer wieder bei der Videothek vorbei: vor der Arbeit, in seiner Pause, zwischen seinen beiden Jobs. Sie muss diesen Film doch irgendwann mal zurückgeben – nach zwei Tagen Überziehen muss man schließlich Strafe zahlen, oder? Er kommt langsam zu der Überzeugung, dass sie sich keine Filme mehr ausleiht, dass sie ihr Haus nur zu unmöglichen Zeiten verlässt, oder dass sie ihn durchs Fenster gesehen und für einen Stalker gehalten hat, woraufhin sie vor lauter Angst umgezogen ist.
Aber eines Sonntags taucht sie doch wieder auf. Ohne sich vorher zurechtzulegen, was er zu ihr sagen will, läuft er auf dem Parkplatz auf sie zu, um dann jäh stehen zu bleiben und sich zu fragen: Was tust du hier eigentlich? Sie mustert den keuchenden, sprachlosen, jungen Mann, und bevor er auch nur eine Silbe sagen kann, bricht sie in Gelächter aus und meint: »Okay, ein Mittagessen. Aber irgendwo, wo viel los ist, für den Fall, dass du ein Axtmörder bist.«
Das Mittagessen zieht sich hin bis zum Abendessen. Sie sind so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie das Essen ganz vergessen und auf den unberührten Tellern alles kalt wird. Sie arbeitet in einer Kinderkrippe. Von ihrem Lächeln wird ihm ganz schwindlig. Einmal, als sie lacht, berührt sie seinen Arm. Er erzählt ihr seine Geschichte, gänzlich ungeschminkt, sie bricht einfach aus ihm heraus. Dass er unglaublich dumm war, als er ins Jugendgefängnis ging, aber seitdem nicht mehr ganz so dumm ist. Er erzählt ihr von der Couch-Mutter und dem Saab-Großvater und der Gefängnisleiterin, die ihm samt und sonders Achtung entgegenbrachten, bevor er sie verdient hatte. Wie ihm das wahrscheinlich das Leben gerettet hat, und wie er hofft, dass er dasselbe eines Tages für andere Menschen tun kann. Er erzählt ihr, dass er eines Tages Häuser bauen will. Sie sagt: »Träumen kann jeder – aber irgendwie hört es sich fast so an, als hättest du das Rückgrat, die Sache durchzuziehen.« Er lodert vor Stolz und sagt: »Durchhaltevermögen, das hab ich.«
Sie erlaubt ihm, sie noch zu ihrem Auto zu begleiten, wo sie nervös in der schneidend kalten Oktobernacht stehen bleiben. Sie hat die Fahrertür schon aufgemacht, die Innenbeleuchtung ist angegangen, aber sie steht immer noch da und wartet. Er zögert, weil er den perfekten Abend auf keinen Fall verderben will.
»Wenn du auch nur eine Handvoll Courage hättest«, sagt sie, »würdest du mich jetzt küssen.«
Es kommt zu einem zweiten Abendessen und zu einem fünften. Als sie ihn zu sich nach Hause zum Essen einlädt, zieht er sich vorher dreimal um, doch für ihn sieht sein Outfit immer noch abgetragen und nach Arbeiterklasse aus. Während sie Pilze sautiert, streift er durch ihre Wohnung. Mal hebt er eine Zuckerdose hoch, mal betrachtet er die ganzen zusammenpassenden Kerzen, und er befühlt die Vorhänge, die nur dazu da sind, einen Hauch von Lavendel ins Dekor zu bringen. Er denkt an seine kahle Matratze, die Ravioli-Dosen in seinem Schrank, das Poster von Michael Jordan, das er über seinen Flohmarkttisch an die Wand gepinnt hat, und merkt, dass niemand ihm jemals beigebracht hat, wie man so richtig wohnt.
An diesem Abend lieben sie sich zum ersten Mal. Hinterher weint sie, und er ist überzeugt, dass er irgendetwas falsch gemacht hat, bis sie es ihm erklärt.
Sie ist ganz anders als die Mädchen, die er während seiner Zeit in der Shady Lane 1788 kennengelernt hat.
Eines Abends, als sie im Kino sitzen, kichert sie über einen Witz, den er ihr ins Ohr geflüstert hat, und der muskelbepackte Kerl in der Reihe vor ihnen dreht sich um und sagt: »Halt die Klappe, Schlampe.« Mike bricht ihm mit einer blitzschnellen Geraden die Nase. Sie rennen hinaus, lassen den Typen winselnd im Gang liegen, während seine Freunde, lauter Klone in identischen College-Football-Jacken, hilflos zuschauen. Als sie draußen sind, meint Annabel: »Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich das nicht auf eine verquere Art charmant und aufregend fand. Aber versprich mir, dass du so was nie wieder tust, außer wenn es wirklich nötig wird.«
Typisch sie – respektvoll und respektlos zugleich.
Er willigt verwirrt ein.
In derselben Woche passiert es ihm, dass er in der Arbeit vor Erschöpfung eindöst und ein Frackhemd ansengt. Der Kunde, ein koksender Wichser mit einem blauen Audi, kommt auf dem Weg zu seinem Event vorbei, um das Hemd abzuholen. »Verdammt, haben Sie eine Vorstellung, wie viel das Scheißding gekostet hat?« Mike entschuldigt sich und bietet dem Mann an, ein Schadensersatzformular auszufüllen. »Und was zum Teufel soll ich heute Abend anziehen?« Der Kunde wird immer wütender, beugt sich über den Tresen und bohrt Mike einen Finger in den Brustkorb. »Sie kleiner Scheißclown, Ihr Jahresgehalt würde nicht reichen, um das Ding zu zahlen.« Er versetzt Mike einen Schubs, und Mike sieht genau, wo die Lücke in seiner Verteidigung ist, wie er ihm mit einem einzigen Schlag den Kiefer brechen könnte, aber stattdessen macht er einen Schritt zurück. Die Wut des Mannes verraucht von selbst und er läuft hinaus, nicht ohne Mike noch den Finger zu zeigen. Mike hat seinen Job behalten, seine Knöchel sind unversehrt, und er muss sich nicht mit irgendwelchen Polizisten auseinandersetzen. Tagelang genießt er seinen kleinen Triumph.
Langsam, aber sicher wird er sozialisiert.
Aber das bevorstehende Abendessen mit der Familie jagt ihm nach wie vor Angst ein. Ihr Vater ist Anwalt für Insolvenzrecht. Ihre ältere Schwester ist eine Haushaltsmaschine, die in beängstigendem Tempo Gebäck und Nachwuchs produziert. Ihr Bruder hat einen Subaru und einen Flechtgürtel. Er spendet an wohltätige Organisationen und jammert über die hohen Steuern. Der Typ, der wahrscheinlich Drei-Generationen-Baseball im Park gespielt hat, als Mike und Shep dort noch Eis am Stiel gegessen und auf Fahrräder gepinkelt haben.
Mike achtet auf sein Silberbesteck, seine Ellbogen, die Serviette auf seinem Schoß. Er denkt an die wenigen häuslichen Momente, an die er sich erinnern kann – der Duft von langsam verbrennenden Salbeisträußchen in einer Küche mit gelben Fliesen, die braune Haut seiner Mutter, der Staub- und Ölgeruch der Sitze in ihrem Kombi. Er fühlt sich unwohl, nicht würdig, an diesem hübsch gedeckten Tisch in so einem schönen Heim zu sitzen. Die Eltern, die nicht allzu entzückt von ihm sind, scheinen seine Meinung zu teilen. Als ihr Vater ihm die Butter reicht, fragt er: »Auf welches College sind Sie gegangen?«, und Mike lächelt nervös und antwortet: »Auf gar keins.« Die restliche Zeit werden Geschichten von erfolgreichen Freunden und Nachbarn erzählt, die nie ein College besucht haben und trotzdem Erfolg hatten. Die zwei Geschwister tauschen Anekdoten, während die Eltern kauen und nippen und sich verschmitzte Blicke zuwerfen. Annabel muss ihr Lachen unterdrücken, und als sie gehen, sagt sie: »Ich werd dich nie wieder dazu zwingen.«
In der folgenden Woche stochert sie beim Abendessen in ihrer Brunnenkresse herum. Ihr Gesichtsausdruck ist verschlossen und unglücklich, und er macht sich auf das Gespräch gefasst, vor dem er sich schon eine geraume Weile fürchtet. Und tatsächlich spricht sie ihn geradewegs darauf an. »Was machen wir hier eigentlich?« Sie wirft ihre Gabel klirrend auf den Teller. »Ich meine, ich hab keine Lust auf diese Unverbindlichkeit …«
»Ich auch nicht.«
Unerschrocken redet sie weiter. »… zu der auch gehört, dass wir uns gegenseitig erlauben, nebenbei auch mit anderen auszugehen …«
»Ich will gar nicht mit jemand anderem ausgehen.«
»… und ich tue auch noch so, als würde mich das nicht stören.«
»Mich würde es stören.«
»Ich bin zu alt für so einen Mist. Ich brauche jetzt auch mal Sicherheit, Mike.«
»Dann heirate mich doch.«
Diesmal hört sie ihm endlich zu.
Bei der Trauung trinken sie keinen Tropfen Alkohol, sind aber wie betrunken vor Freude. Die Zeremonie ist kurz, hinterher gibt es ein paar Fotos auf der Treppe des Standesamtes, und Mom und Dad tun ihr Bestes, auch ein Lächeln aufzusetzen.
Als er ihrer Mutter an diesem Abend behutsam ins Auto hilft, hält sie in einem der wenigen ungeschminkten Momente inne, den aufgerafften Kleidersaum in der Hand, und sagt: »Du bist so sanft – das passt einfach nicht so richtig zu dir.«
»Das liegt daran, dass ich jahrelang nicht sanft gewesen bin«, antwortet er.
Er arbeitet hart, wird zum Vorarbeiter befördert. Am schönsten Tag seines Lebens wird seine Tochter geboren. Es soll eine Natalie werden, aber als sie sie sehen, wird es eine Katherine, also müssen sämtliche Formulare noch einmal neu ausgefüllt werden, damit sie auch den richtigen Namen bekommt.
Sie ziehen in eine Wohnung in Studio City. An der Wand Drucke von Wasserlilien, passende Bettwäsche, kleine muschelförmige Seifen im Badezimmer. Wenn sie hinten aus dem Fenster schauen, sehen sie den L.A. River durch einen Kanal aus Betonwänden rauschen.
Da ruft aus heiterem Himmel Shep aus einer Telefonzelle an. Ihr letztes Gespräch liegt Monate zurück – nein, sogar über ein Jahr. Die beiden Gelegenheiten, bei denen Annabel und er sich begegnet sind, waren die reinste Quälerei, und Sheps Schwerhörigkeit behinderte noch das bisschen Konversation, das sie zustande brachten. Annabel will Mike beschützen, denn ihr ist nur zu bewusst, was für einen Preis seine Verurteilung hatte. Shep hingegen versteht sie nicht, sie lebt einfach jenseits seiner Welt. Mike kann sich nur noch an lange Schweigepausen und missmutiges Nippen an Biergläsern erinnern, und er saß zwischen den beiden und schwitzte schlimmer als bei seinem ersten Abendessen mit ihrer Familie.
Auf Grund von Sheps Gehör ist auch dieses Telefonat wieder umständlich, sie fallen sich gegenseitig ins Wort oder brechen gleichzeitig ab. Shep hat mitbekommen, dass Mike eine Tochter hat, und möchte gerne vorbeikommen. Kat ist fünf Monate alt, und Mike, der sich immer noch an die neue Situation gewöhnen muss, ist nervös, aber er bringt es nicht übers Herz, Nein zu sagen.
Zwei Stunden später ist Shep da, nachdem Kat schon eine ganze Weile im Bett liegt. »Kann ich bei euch übernachten?«, fragt er an der Tür, noch bevor er hallo sagt. »Ich hab grad das eine oder andere Problem mit meiner Wohnung.«
Mike und Annabel bringen ein Nicken zustande.
Shep zieht ein Geschenk aus der Tasche – einen gefütterten, unverpackten Strampler für eine Dreijährige. Mike hasst sich dafür, aber er fragt sich sofort, ob der wohl gestohlen ist. Er fährt mit den Fingern über das Schmetterlingsmuster. Das ist das Weichste, was er je in Sheps Hand gesehen hat.
Shep legt die Füße auf den Wohnzimmertisch und steckt sich eine Zigarette an, und Annabel fragt in entschuldigendem Ton: »Ach, könntest du hier drin bitte nicht rauchen? Wegen dem Baby.«
»Ach so, klar«, sagt Shep. »Tut mir leid.« Er geht ans Fenster, lehnt sich hinaus und bläst den Rauch in den Wind.
»Ich glaub, ich leg mich mal aufs Ohr«, sagt Annabel zu Mike.
Er geht zu Shep und möchte so gern, dass er ihr gute Nacht sagt, dass er höflich und liebenswürdig zu ihr ist. Er legt ihm eine Hand auf den Rücken, der immer noch kräftig ist. Als Shep seine Zigarette wegschnipst und sich umdreht, zieht Annabel bereits das Schlafsofa aus, und er sagt leise: »Mach dir keine Umstände, ich schlaf einfach so drauf.«
»Das macht mir wirklich keine Mühe.«
Er zögert kurz und überlegt. »Eine Couch ist bequemer«, sagt er dann. »Zu Hause schlaf ich auch auf einer Couch.«
»Ach so«, sagt sie. »Ja, dann.«
Sie starren sich an, während Shep seinen St.-Jerome-Anhänger zwischen den Lippen festhält.
»Also«, sagt sie, »dann gute Nacht.«
Shep nickt.
Die Schlafzimmertür geht zu. »Wollen wir uns einen Drink besorgen?«, schlägt Shep vor. »Ich weiß nicht, ich bin ganz schön k.o.«, meint Mike. »Das Baby weckt uns in der Nacht ein paar Mal auf, und ich muss um fünf in die Arbeit.«
»Kann ich dann den Hausschlüssel haben?«, fragt Shep.
Um drei Uhr morgens geht die Haustür laut und vernehmlich auf und wieder zu. Shep hört so was schlecht, aber Annabel schreckt hoch und aus dem Babyphone hört man Kat wimmern.
Mike stolpert ins Wohnzimmer und Shep empfängt ihn mit einem: »Alkohol? Verband?«
Als Mike näher herankommt, sieht er, dass Sheps Wange tiefe Kratzspuren von Fingernägeln aufweist. Als er seinen Kopf fasst und ihn ins Licht dreht, sieht er das weiße Fleisch durchs Blut glitzern. Er holt ein Handtuch aus dem Bad, das er in warmes Wasser getaucht hat. Als Shep sich den Wundalkohol auftupft, zuckt er nicht mal zusammen. Sie haben das schon unzählige Male gemacht – nachts aufbleiben, flüstern, Wunden reinigen. Einen Moment verliert sich Mike ganz in der süßen Vertrautheit dieses Rituals. Aber die Schritte und die Bewegung haben Kat jetzt komplett geweckt. Annabel kommt aus dem Schlafzimmer und bleibt auf dem Weg ins Kinderzimmer kurz an der Tür stehen. »Was ist passiert?«
»Überfüllte Bar«, sagt Shep. »Ich bin in Schwierigkeiten geraten, du weißt schon …« Er deutet auf sein Ohr. Mike hat ihn noch nie explizit über seine Hörschwäche sprechen hören, und er macht auch jetzt keine Ausnahme. »Da hat sich so ein Typ einen Spaß mit mir machen wollen. Er hatte seine ganze Clique dabei und hat mir plötzlich eine reingedonnert. Der Rest lief dann nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Irgendwann ist mir in dem Gerangel seine Freundin auf den Rücken gesprungen. Als die Bullen kamen, bin ich abgehauen. Ich war nicht schuld.«
Draußen brüllt jemand: »Du Scheißarschloch, komm raus! Wir legen dich um!«
Jetzt weint Kat lauthals.
»Hast du das gehört?«, fragt Mike.
»Was?«, fragt Shep. Mike deutet auf das Fenster, und Shep geht durchs Zimmer, um hinauszuschauen. Eine Sekunde darauf zerspringt eine Flasche an der Hauswand gleich neben dem Fenster in tausend Scherben. Jetzt schreien sie im Chor, und es wird immer lauter.
Da klingelt das Telefon und Annabel nimmt ab. »Ja, tut mir leid, Mrs. McDaniels.« Sie deutet zur Decke, für den Fall, dass Mike vergessen haben sollte, wo die McDaniels wohnen. »Alles in Ordnung«, sagt sie in den Hörer. »Das sind bloß ein paar Betrunkene da draußen, wir kümmern uns drum.« Sie legt auf und sagt zu Mike: »Ich will solche Sachen hier nicht«, bevor sie ins Kinderzimmer verschwindet.
Shep zieht den Kopf vom Wohnzimmerfenster zurück und wischt sich das Bier ab, das auf sein Gesicht gespritzt ist. »Müssen mich wohl ein paar von seinen Kumpels verfolgt haben«, meint er. »Ich erledige das.«
Er geht ganz ruhig nach draußen. Mike sitzt auf dem Sofa und stützt das Gesicht in die Hände. Er hört ein Krachen. Noch einmal. Dann ist es still.
Einen Moment später kommt Shep zurück. »Meine Schuld«, sagt er.
»Hör mal«, sagt Mike. »vielleicht solltest du abhauen, bevor noch mehr Typen hier aufkreuzen.«
»Was?«
»Ich finde, vielleicht ist das nicht der richtige Zeitpunkt …« Er sucht nach Worten, hin- und hergerissen zwischen mit Blut besiegelter Loyalität und dem, was er dem Großvater aus dem Park schuldig ist, der für fünfzehntausend Dollar seine Seele gekauft hat. Er denkt an die Couch-Mutter, die Gefängnisleiterin, Annabel, Kat, sich selbst. Verpflichtung bedeutet harte Arbeit.
»Der Typ hat mich angegriffen«, erklärt Shep. »Ich hab mich nur verteidigt.«
Shep mag ja vieles sein, aber ein Lügner ist er nicht.
Mike denkt an den schwachen Zimtduft seiner Mutter, seine langsamen Friedhofsspaziergänge und die schlafende Kat im Nebenzimmer. Er wird nicht zulassen – er kann nicht zulassen – das dieses Kind oder seine Zukunft aufs Spiel gesetzt werden. Andererseits ist Shep aber auch Shep, und ihre Freundschaft ist kampferprobt wie keine andere Beziehung in Mikes Leben. Das Leben ist nicht fair, das weiß er aus erster Hand. Aber in diesem Moment schmerzt es ihn, dass er auf dem oberen Ende der Wippe sitzt und weiter blicken kann.
Er schwitzt und fühlt sich unsicher. Er hasst sich selbst. Dann sagt er: »Ich weiß, aber es ist … nicht sicher. Ich meine, ich hab jetzt ein Baby. Und dann die Nachbarn. Ich bin ja selbst noch am Rudern, dass ich das Ganze hier anständig auf die Reihe krieg.«
Shep nickt kurz und steht auf. Sein Gesicht zeigt keinerlei Regung. Mike fühlt sich wie ein Schuft, als er ihn zur Tür begleitet. Sheps breite Gestalt zeichnet sich im gelben Licht der Straßenlaternen ab, als er auf den Wash zugeht. Mike läuft ihm nach. Eine schmale Fußgängerbrücke führt über den Fluss. Schwarzes Wasser rauscht zwischen den Zementufern. Mike muss rennen, um mit Shep Schritt halten zu können, und er ruft ihm nach: »Shep. Shep. Shep.« Er ist sich sicher, dass Shep zum allerersten Mal wirklich wütend auf ihn ist.
Aber als Shep ihn endlich hört und sich auf der Mitte der Brücke zu ihm umdreht, ist auf seinem Gesicht kein Ärger zu lesen.
Insekten stoßen gegen die Laternen über ihren Köpfen. Im Osten hat sich der Horizont von Schwarz zu Grau verfärbt.
Mike räuspert sich. »Du hast mal zu mir gesagt … du hast mal gesagt: ›Du kannst alles werden, was du werden willst.‹« Er würde am liebsten losheulen – tatsächlich heult er fast schon los – und begreift selbst nicht, was mit ihm los ist. Es fühlt sich an, als würde sein Gesicht ein Eigenleben führen, während sein Herz entschlossen in Deckung bleibt. »Tja, und das hier …« Er breitet die Arme aus. »Das hier ist das, was ich sein will.«
Sheps Lippen verziehen sich ganz leicht zu einem traurigen Lächeln. Das Blut glänzt dunkel auf den Kratzspuren unter seinem Auge. »Dann will ich dasselbe für dich«, sagt er.
Beide scheinen zu spüren, dass in diesen Worten und in diesem Moment etwas Abschließendes liegt. Der Wind frischt auf und dringt durch Mikes Jacke. Shep streckt ihm die Hand hin und sie fassen sich bei den Daumen.
»Du bist der einzige Verwandte, den ich habe«, sagt Shep.
Bevor Mike antworten kann, geht er davon.
Mike beobachtet, wie Sheps Schultern in die frühmorgendliche Dunkelheit verschwinden. Er beißt sich auf die Lippe, dreht sich um und macht sich im nassen Wind auf den Heimweg.