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Mikes Büro, eine Fertighütte, die man einfach in die Mitte der Baustelle auf den unbefestigten Erdboden gestellt hatte, bot die komplette Grundausstattung: Telefon, Fax, eine schnelle Internetverbindung. Eine aggressiv-kompetente, Kaugummi kauende »Vorzimmerdame«, inklusive Hochsteckfrisur und üppigem Dekolleté. Flohmarkttische standen an den korkverkleideten Wänden, an denen man diverse Baupläne, Genehmigungen, geologische Gutachten und Fotos von Familienmitgliedern aufgehängt hatte. Es war ein geschäftiges kleines Büro, acht mal dreizehn Meter pure Effizienz, die surrenden Zahnrädchen hinter den Fassaden, die andernorts errichtet wurden.

Mike saß an seinem Tisch und versuchte, sich seine Kopfschmerzen wegzumassieren, wobei er so tat, als würde er sich ein Angebot für eine Versicherung ansehen. Den ganzen Morgen über war er schon völlig geistesabwesend und hatte sich in unguten Gedanken verloren. Williams schwarzgesprenkelte Lippen wollten ihm einfach nicht aus dem Sinn gehen. Und wie sein Gesicht im Heckfenster des Vans erschienen war, ein körperloser Kopf, der zwischen den Gardinen schwebte. Dazu gesellte sich das Bild des ölfleckigen Eisbären, der in Zeitlupe zwischen Dodges Füßen auf dem Asphalt des Parkplatzes schaukelte.

Abrupt stand er auf und ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Während er übers Unkraut stapfte, versuchte er zum dritten Mal, Hank zu erreichen, und zu guter Letzt nahm der Privatdetektiv endlich ab.

»Hättest du gern ein bisschen Ablenkung?«, fragte Mike.

»Vom Sterben?«, fragte Hank zurück. »Was hättest du denn anzubieten?«

Mike erzählte ihm von seinem Zusammenstoß mit Dodge und William und dem seltsamen Verhalten der Deputys auf der Polizeistation.

»Das sind ja nicht allzu viele Anhaltspunkte«, meinte Hank, »aber ich werd mich umhören, mal sehen, was ich rausfinde.«

Unzufrieden ging Mike wieder hinein. Andrés stand frustriert am Kopierer und drückte wahllos auf irgendwelchen Knöpfen herum. Er kam zu Mike, setzte sich auf seine Tischkante und spähte quer durchs Büro in Sheilas Ausschnitt, die gerade durchs Telefon den Schadensachverständigen einer Versicherung in Grund und Boden argumentierte. Andrés drückte zum Spaß mit dem Handballen ein paar Mal auf Mikes Tacker. »Heute ist auf der Baustelle ein Kerl vorbeigekommen und hat nach dir gefragt.«

»Wie – nach mir gefragt?«

»Er wollte wissen, wann du da bist. Wann du im Büro bist und wann auf der Baustelle. So was. Als würde er Konversation mit mir treiben. Vielleicht will er dich ja anheuern.«

Mikes Gesicht begann zu glühen. »Wie sah der Typ aus?«

»Keine Ahnung. Irgend so ’n Typ halt. Ungepflegten Bart hatte der. Und er ging irgendwie komisch.«

Mike spürte die Vibration seines eigenen Herzschlags in den Ohren. Er zog die oberste Schreibtischschublade auf, um sich eine Paracetamol herauszuholen. »Wann war er …« Die Frage blieb ihm im Halse stecken, als er in seine Schublade blickte. Sein Kalender lag links. Da das Holz in dieser Schublade angeknackst war und Splitter herausragten, legte er seinen Kalender immer nach ganz rechts, eine Gewohnheit, die ihm in den letzten Monaten in Fleisch und Blut übergegangen war.

»Sheila?« Er wartete, bis sie die Sprechmuschel mit der Hand abdeckte und zu ihm hinüberblickte. »Mussten Sie heute Morgen aus irgendeinem Grund an meinen Schreibtisch?«

Sie schüttelte den Kopf. Er nahm die Tabletten, betrachtete sie und warf sie dann in den Abfalleimer. Er stand jäh auf, beobachtet von einem völlig verblüfften Andrés.

Mike ging zur Eingangstür, riss sie auf und ging in die Hocke, um das Schloss genau zu betrachten. Er hatte das Medeco-Schloss selbst ausgesucht, weil es sechs Zuhaltungen hatte und einen multidimensionalen Schlüssel erforderte, der kaum nachzumachen war. All das hatte er natürlich von Shep gelernt. Aber er hatte auch gesehen, wie Shep das Ganze schließlich doch aufbekam, mit einer Dose Gleitspray und einer Sperrpistole, die in Sheps fachmännischen Händen die Stiftzuhaltungen auf eine Linie springen ließ.

Er zögerte einen Moment, weil er fast Angst davor hatte, sich Gewissheit zu verschaffen, aber dann fuhr er mit dem Daumen über das Schlüsselloch, und als er seine Fingerkuppe betrachtete, sah er die Überreste von Gleitspray darauf glänzen.

Irgendjemand hatte dieses Schloss für die Anwendung einer Sperrpistole präpariert. Dodge oder William.

Mike hatte einen ganz trockenen Mund bekommen. Wer ein Medeco-Schloss knacken konnte, musste ein wahrer Profi sein. Das war ein Coup, wie er Sheps würdig gewesen wäre. Was bedeutete, dass ein Einbruch durch Kats Fenster nicht so weit hergeholt war, wie Mike sich im Nachhinein weiszumachen versucht hatte.

Aber warum sollten sie in sein Büro einbrechen?

»Sheila?« Mikes Stimme klang ihm selbst barsch in den Ohren. Er merkte, dass ihn alle im Büro anstarrten, wie er da auf der Türschwelle kauerte. »Können Sie feststellen, wann bestimmte Dateien im Computer geöffnet wurden?«

»Natürlich, Mr. Wingate.« Egal, wie oft er ihr sagte, dass sie ihn doch Mike nennen sollte, sie blieb hartnäckig bei der formellen Anrede. »Bei den meisten Dateien ist vermerkt, wann der letzte Zugriff stattgefunden hat, obwohl die Leute normalerweise nicht drauf achten.«

Er winkte sie zu sich an den Schreibtisch und bot ihr seinen Stuhl an. Während sie in seinem Computer herumklickte, lehnte er sich über ihre Schulter. Andrés sah von der anderen Seite des Schreibtischs zu.

»Ist am Wochenende irgendetwas geöffnet worden?«, wollte Mike wissen.

»Ich schaue grade. Aber dazu muss ich mir ein Dokument nach dem anderen ansehen. Soll ich irgendwas Besonderes für Sie checken?«

»›Green Valley‹«, sagte er.

Während sie tippte, legte Andrés den Kopf schräg und meinte zu Mike: »Was das angeht – die Dateien dazu sind alle sauber.«

»Warum sollten sie nicht sauber sein?«, fragte Sheila, die konzentriert auf den Bildschirm blickte. Mike und Andrés tauschten einen Blick. Bevor einer der beiden antworten konnte, sagte sie: »Nein, diese Dateien sind nicht mehr geöffnet worden seit 12.21 Uhr letzten Donnerstag.«

Das war Mike selbst gewesen, als er während der Mittagspause über der Rechnung für die Rohre aus verziegeltem Lehm gebrütet hatte.

»Nein, Moment«, sagte Sheila. »Diese hier ist Samstagnacht geöffnet worden, um 1.32 Uhr.«

»Was für eine ist das?«, fragte Mike.

»Personalakten.«

Es überlief ihn kalt. »Sie haben sich unsere Personalakten angesehen?«

Sie klickte noch ein bisschen weiter. »Nein«, sagte sie, »bloß Ihre.«

Er trat einen Schritt zurück. Andrés und Sheila wandten sich ihm zu. Ihre Lippen bewegten sich, aber er hörte nicht, was sie sagten. Dodge und William suchten keine Informationen über irgendeinen Auftrag, sondern über ihn. Genauso wie die Deputys.

Wie es aussah, interessierten sich Dodge und William genauso sehr dafür, wer er eigentlich war, wie Mike selbst.

Langsam drang ihm ins Bewusstsein, dass sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Er fischte es heraus und warf einen Blick aufs Display, auf dem eine SMS von Annabel erschien: HI SCHATZ WO IST NOCH MAL DER SCHLÜSSEL FÜR UNSER SCHLIESSFACH ICH HABS VERGESSEN UND BRAUCH SCHNELL WAS.

Er starrte auf die SMS und spürte, wie die Paukenschläge in seinem Schädel sein Kopfweh in ungeahnte Höhen schraubten. Annabel und er schrieben sich niemals SMS. Sie waren altmodisch und telefonierten lieber richtig.

Er rief seine Frau sofort an und landete auf ihrer Mailbox.

»Hallo, hier ist Annabel. Wahrscheinlich suche ich mein Handy gerade in dem Spalt zwischen Sitz und Autotür, also …«

Er gab Andrés und Sheila ein Zeichen, dass sie ihn kurz in Ruhe lassen sollten, und begann, in engen Kreisen um seinen Schreibtisch zu laufen, während er das Festnetztelefon zu Hause klingeln ließ. Anrufbeantworter.

Er brauchte einen Moment, bis er merkte, dass Sheila mit ihm sprach. »Mr. Wingate. Mr. Wingate. Sie sollen um zwei Uhr den unerschlossenen Baugrund in Chatsworth besichtigen. Das bedeutet, dass Sie jetzt losmüssen.«

»Ich kann nicht, Sheila.« Er schoss zur Tür. »Ich muss sofort nach Hause.«

Sie zwang sich zu einem gereizten Lächeln, als er an ihr vorbeitrabte und dann zum Auto rannte.