21

Mike, der auf Kats rüschenverziertem Bett kniete, hatte gerade ihr Fenster fertig zugenagelt und tupfte sich mit seinem T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Die Erde unter dem Fenster war hart und wies, wie schon letztes Mal, keine Fußspuren auf. Er zog die Vorhänge zu und setzte sich auf die Matratze. Annabel war mit Kat im Elternschlafzimmer und versuchte, sie zu beruhigen und wieder in den Schlaf zu streicheln.

Mikes Blick blieb an Kats Schatztruhe auf ihrem Bücherregal hängen – der Schuhkarton, den sie in der Vorschule mit Stoff bezogen und mit Aufklebern verziert hatte, enthielt die Gegenstände, die sie am meisten liebte. Er nahm ihn auf den Schoß und nahm den stoffbeklebten Deckel ab. Annabels Plastikarmband, das sie auf der Entbindungsstation getragen hatte. Eine Babytasse aus Sterlingsilber, auf der ein Lämmchen eingraviert war. Der Schmetterlings-Strampler in der falschen Größe, den Shep mitgebracht hatte, als Mike ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Er nahm ihn heraus und faltete ihn auseinander und musste daran denken, wie Shep ihn an der Tür aus der Tasche gezogen und unverpackt überreicht hatte. Damals war er viel zu groß gewesen, eher für eine Dreijährige als für ein Neugeborenes, aber jetzt sah er doch so winzig aus. In den ersten Monaten hatten sie ihn als Spucktuch verwendet, und dann hatte Kat sich in das Ding verliebt und trug es als Kuscheldecke ständig mit sich herum. Sie hatte den Strampler aber nie angezogen, auch nicht, als sie im passenden Alter gewesen wäre.

Er wühlte in den pastellgelben und babyrosan Überresten. In diesem kitschig dekorierten Schuhkarton lag etwas Unantastbares.

Er stellte die Schatzkiste zurück an ihren Platz und ging den Flur hinunter.

Kat lag ausgestreckt auf dem zerwühlten Bett und schlief. Annabel hatte sich neben sie gekuschelt und blickte auf sie herunter, so dass ihr dunkles Haar ihr Profil und das ihres Kindes einrahmte.

Sie richtete sich auf und setzte sich so hin, dass sie sich ans Kopfteil des Bettes lehnen konnte. »Sie wollen, dass wir Angst kriegen, stimmt’s? Was soll ich sagen – ich habe Angst. Und wenn wir jetzt nicht zur Polizei gehen können, müssen wir kreativ werden und uns irgendwas überlegen. Ich könnte meine Familie anrufen und sie bitten herzukommen.«

»Du meinst, deine Mutter mit ihrem neuen Hüftgelenk springt mal eben in den Flieger?«

»Es gibt jeden Tag massenweise Flüge aus Tampa. Mein Vater kennt sich mit dem Gesetz aus. Er kann …«

»Dein Vater ist Insolvenzanwalt im Ruhestand. Und ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie sie die Lage einschätzen würden. Sie haben mir nie getraut …«

»Das müssen wir jetzt nicht vertiefen. Ich wollte bloß sagen, dass es immer noch ein paar legitime Wege gibt, um …«

»Hier ist nichts mehr zu machen mit legitimen Wegen. Solchen Typen kann man mit Vernunft nicht beikommen. Die hören nur zu, wenn du Gewalt anwendest.«

Sie hören zu, wenn du sie mit den Fäusten aufweckst, nachdem sie dir dein Hemd unter dem Kissen weggestohlen haben. Sie hören zu, wenn sie dir in Reichweite deiner Fäuste gegenüberstehen und du ihnen befiehlst, von dem Kind auf dem Boden abzulassen, das sie gerade verprügeln.

»Oder aber sie antworten mit noch mehr Gewalt«, meinte sie.

»Was schlägst du dann vor? Uns sind doch die Hände gebunden. Wir können nicht zur Polizei gehen, bevor wir nicht wissen, welche Behörden hinter mir her sind und warum.«

»Ich wollte bloß sagen, dass diese Geschichte auch außer Kontrolle geraten kann.«

»Annabel. Siehst du denn nicht, was hier abgeht?«

»Doch. Und ich gebe mir die größte Mühe rauszufinden, was es zu bedeuten hat.«

»Was soll das denn jetzt heißen?«

Sie zog die Decke über Kat und bedeutete ihm mit einer Geste, dass sie leiser sprechen sollten. »›Wir wissen, wer du bist.‹ Das hat er doch gesagt, oder? Durchs Babyphone?«

»Und?«

»Ich weiß, dass du damals so einige Dinger gedreht hast. Mit Shepherd. Gibt es da irgendwas, was jetzt auf uns zurückfallen könnte? Irgendjemand, dem du Geld gestohlen hast, dem du weh getan hast, was auch immer?«

Die Frage traf ihn zutiefst, an einer Stelle, die er so lange von sich abgekapselt hatte, dass er schon vergessen hatte, wie empfindlich sie war.

Er machte die Augen fest zu und rief sich den Moment ins Gedächtnis, den er vor Jahrzehnten eingefroren hatte: der Blick aus dem Erkerfenster, durch die Arkade aus gelb-orangen Blättern bis ans Ende der Straße, auf der der Kombi niemals erschien. Dieser Schnappschuss gehörte ihm, nur ihm allein, und jetzt zog er sich in seine Sicherheit zurück. Dieses Bild hatte ihm gezeigt, dass er überleben würde, auch wenn der Kombi niemals auftauchte, denn er hatte etwas, das ihm niemand wegnehmen konnte, und solange er das hatte, würde er nie wieder jemanden brauchen.

Aber er war nicht mehr sieben. Er hatte eine Frau und eine Tochter, und er brauchte sie so sehr, wie sie ihn brauchten. Er schlug die Augen auf und versuchte, seinen Ärger auf möglichst kleiner Flamme zu halten.

»Nein«, antwortete er. »Wir waren Kleinkriminelle, wir haben keine Banküberfälle durchgezogen.«

»Bist du sicher, dass da gar nichts war?«

»Du glaubst mir einfach nicht. Nach so vielen Jahren glaubst du immer noch, dass gleich unter dem Lack noch der Straßenjunge steckt.«

»Das ist überhaupt nicht wahr.«

»Wie kannst du mich so was fragen? Ich hab dich niemals angelogen.« Er drehte sich um, und sein Blick blieb an seinem Preis hängen, der an der Wand lehnte.

Sie atmete tief aus und konzentrierte sich wieder aufs eigentliche Thema. »Weil diese Männer hinter unserer Familie her sind, Mike. In Anbetracht dieser Situation muss ich dich alles fragen dürfen, zwischen uns darf es keine Tabus geben. Und wenn es irgendetwas …«

»Glaubst du nicht, dass ich mir nicht schon den Kopf zermartert hätte? Da ist nichts. Aber auch wirklich gar nichts. Das waren damals Ladendiebstähle, Graffiti-Kleinscheiß. Nichts, was einem Männer von diesem Schlag so lange nachtragen würden.«

Kat protestierte murmelnd im Schlaf, und Annabel stand auf, packte ihn am Arm und zog ihn ein paar Schritte ins Badezimmer. Es machte ihn nervös, seine Tochter nicht mehr im Blick zu haben, obwohl sie gleich nebenan lag, und er machte die Tür ein paar Zentimeter weiter auf, damit er sie sehen konnte.

Annabels Stimme war leise, aber eindringlich. »Wenn du jemandem ein Unrecht angetan hast, kannst du nie wissen, was dir nachgetragen wird und was nicht.«

Sie hatte eine angriffslustige Haltung eingenommen, den Kopf leicht vorgestreckt. Er merkte, dass er genauso dastand. »Nur weil wir in einer bedrohlichen Situation sind, meinst du also gleich, du hättest Scarface geheiratet? Ich habe niemals irgendetwas getan, was einem Menschen geschadet hätte. Du hast recht, ich hab ein paar Mal die falschen Entscheidungen getroffen, aber das war’s dann auch schon. Tut mir leid, wenn wir nicht alle in so einem mustergültigen Elternhaus aufwachsen konnten wie du.«

Mit einer schwungvollen Armbewegung fegte sie eine Parfümflasche von der Ablage. Sie machte einen kleinen Hüpfer und zersprang in der Badewanne in tausend Scherben, und einen Moment später war der Raum von klebrig-süßem Geruch erfüllt. Ihr Gesicht, das nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war, blieb völlig reglos. Der Klang der explodierenden Flasche hallte immer noch von den Wänden wider.

Annabel atmete tief ein und hielt einen Moment die Luft an. Als sie wieder ausatmete, war ihre Stimme völlig ruhig. »Okay, versuchen wir’s noch mal. Der Einbruch im Büro und die Akte, die sie sich angesehen haben, zeigen ziemlich deutlich, dass das Ganze nichts mit ›Green Valley‹ zu tun hat. Worum auch immer es hier gehen mag, es kreist um dich und deine Vergangenheit. Wenn es nichts mit deinen Jahren als sogenanntem Kleinkriminellen zu tun hat, dann gibt es nur noch eine Möglichkeit.«

Sein Hals kratzte, als er sagte: »Glaubst du, das wüsste ich nicht?«

»Das, was mit dir passiert ist, als du vier Jahre …«

»Wollen wir die Dinge nicht einfach mal beim Namen nennen?«, sagte Mike. »Mein Vater hat meine Mutter umgebracht.« Er hatte es noch nie so unverblümt ausgesprochen, und die Muskeln unter seinem Gesicht schienen sich auf einmal zu verschieben. Die Haut hing darüber wie eine Maske, aber das wahre Ich, das daruntersteckte, brannte nach diesen Worten wie Feuer.

Hatte er es die ganze Zeit über gewusst? Dass diese ganzen Hinweise irgendwann zu diesem blutroten Fleck auf der Manschette seines Vaters zurückführen würden? Er rief sich in Erinnerung, wie die geisterhaften Hände seines Vaters nervös das Lenkrad umklammerten und immer wieder ihre Position änderten. Du musst dir merken, dass nichts von dem, was passiert ist, deine Schuld war. Nichts von dem, was passiert ist. Was zum Teufel hatte sein Vater getan?

Annabel schluckte und befeuchtete sich die Lippen. Sie hob eine Hand mit leicht gespreizten Fingern. »Wir kennen nicht die ganze Geschichte.«

»Ich weiß genug. Ich weiß, dass jetzt auf uns zurückfällt, was er damals getan hat, was auch immer das gewesen sein mag.«

»Vielleicht war es ja etwas anderes. Vielleicht ist irgendwas passiert, was ihn dazu getrieben hat …«

»Was ihn dazu getrieben hat? Nichts hätte ihn zu so etwas treiben können. Es gibt keine Entschuldigung!« Er bremste sich selbst. Auf einmal war alles wieder da und stürzte auf ihn nieder, ein Trommelfeuer aus Worten und Bildern: Ein neuer Morgen in Amerika. Der Trottel glaubt immer noch, dass Daddy zurückkommt. Du hast meine Sachen kaputt gemacht, weil du nichts hast und niemals was sein wirst. Schauen Sie sich doch bloß mal dieses Schnittchen an da drüben. Ihre Akte sieht aus wie ein Schweizer Käse. Wir wissen, wer du bist.

Auf dem Bett murmelte Kat irgendetwas und drehte sich um.

Mike zwang sich, wieder leiser zu sprechen. »Was ist das für ein Mann, der sein Kind verlässt? Es einfach irgendwo stehen lässt? Es gibt keine Entschuldigung für Eltern, die einem Kind so was antun.«

Annabel küsste ihn lange und zärtlich auf die Lippen, mit geschlossenem Mund. »Hör auf damit«, sagte sie. »Atme tief durch.«

Er folgte ihrem Rat.

»Was immer du brauchst, um dich diesen Dingen stellen zu können – ich werde es dir geben«, sagte sie.

Er küsste sie auf die Stirn, und sie schlang ihm die Arme fest um die Taille.

In der Küche lief er unter dem unbarmherzig grellen Licht auf und ab und drückte sich das schnurlose Telefon gegen den Mund. Zu guter Letzt wählte er die Nummer. Die letzte Nummer, die er sich notiert hatte, war nicht mehr gültig, aber eine automatische Ansage gab ihm eine neue Nummer mit einer Vorwahl aus der Gegend von Reno.

Es klingelte und klingelte. Obwohl es sieben Jahre her war, klang die Stimme genauso, wie er sie in Erinnerung hatte, leise und ein wenig heiser. »Ja?«

»Ich brauch dich.«

»Was?«

»Ich brauch dich«, wiederholte Mike ein wenig lauter.

Leises Rascheln. Ein, zwei Sekunden Stille. Dann sagte Shep: »Okay.«

Es klickte, und dann hörte Mike nur noch das dumpfe Tuten.