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Braucht der denn nicht irgendwie so … Decken mit Tarnmuster?«

»Nein.«

»Aber, Papa, der sieht doch total komisch aus … mit meinen pinken Decken, oder nicht?«

»Shep kommt schon klar, mein Schatz.«

»Kanntest du Papa, als er noch ein Kind war?«

»Ja.«

»Ich dachte immer, dass ihn niemand als Kind gekannt hat. Ich dachte, vielleicht war er ja nie ein Kind. Wie war er denn?«

»Rechthaberisch.«

»Hat er getrunken? Also, Bier und so was?«

»Manchmal.«

»Hat er geraucht.«

»Er hat’s versucht.«

»Papa hat geraucht!«

»Nicht so richtig, Schatz. Ich hab nicht immer getan …«

»Hatte er Freundinnen?«

»Dutzende.«

»Echt?«

»Nein.«

Grinsend ging Mike den Flur hinunter, um sich selbst zum Schlafengehen fertig zu machen, und ließ Kat und Shep miteinander allein. Kat legte den Kopf schräg und betrachtete Shep, als wolle sie ihn gleich porträtieren. Er wirkte lächerlich, wie er so eingeklemmt in ihrem Kinderbett lag.

»Und warum bist du jetzt eigentlich hier?«

»Ich stehe bei deinem Dad in der Schuld.«

»Echt? Wieso?«

»Er hat mir das Leben gerettet.«

»Wie – hat er dich aus einem brennenden Auto gerettet?«

»Es gibt verschiedene Arten, wie man jemand das Leben retten kann.«

»Zum Beispiel?«

Shep blinzelte ein paar Mal müde.

»Ms. C. in der Schule sagt immer, es gibt keine dummen Fragen.«

»Da irrt sich Ms. C.«, erwiderte Shep.

»Lass ihn schlafen!«, rief Annabel, die gerade auf dem Korridor vorbeiging.

Kat wartete, bis die Schritte ihrer Mutter verklungen waren. »Zum Beispiel?«, wiederholte sie.

»Er hat mehr von mir erwartet als ich selbst.«

»Stehst du dann für immer in seiner Schuld?«

Shep legte sich zurück und starrte an die Decke.

»Weißt du was? Ich kann ohne Taschenrechner dividieren.«

»Nicht im Ernst.«

»Und ich kann die Sternbilder benennen. Und die Planeten der Reihe nach aufzählen. Außer Pluto, der ist jetzt kein Planet mehr. Ist doch traurig, oder? Eben bist du noch ein Planet, und dann … ups, tut uns leid.«

»Ganz schön traurig.« Shep hob sein T-Shirt an, zog aus dem Bund seiner Jeans einen 45er Colt und legte ihn auf seine Brust.

»Wow. Also … wow. Darf ich den mal anfassen?«

»Klar.«

Sie kam zögernd zu ihm herüber, streckte einen Finger aus und stupste damit gegen den stählernen Lauf.

»Kat, wir möchten jetzt, dass du sofort zu uns ins Bett kommst. Ich hab morgen Praktikum, da bin ich sowieso schon so gut wie durchgefallen, und wenn …« Annabel kam um die Ecke, und ihr Gesicht wurde hart, als sie Kat erblickte, die mit rotem Gesicht und noch ausgestrecktem Finger zu ihr aufschaute. »Oh, bitte, lass sie das nicht anfassen.«

»Okay«, sagte Shep.

Annabel deutete stumm aufs Schlafzimmer. Kat marschierte hinaus. Annabel folgte ihr. Die Tür des Elternschlafzimmers wurde mit Nachdruck geschlossen. Dann hörte man laute Stimmen durch die Wände. Ein paar Minuten später stand Mike auf der Schwelle und stützte sich mit dem Unterarm an den Türrahmen.

»Hübsche Rüschen. Passen zu deinem Charakter.« Er kam herein und setzte sich.

Shep rutschte hoch ans Kopfende und legte den Colt auf seinen Schoß. Er deutete mit einem Nicken zum Fenster. »Keine Sorge. Heute Nacht kannst du ganz ruhig schlafen.«

»Ich weiß.« Mike atmete tief durch und deutete erst Richtung Schlafzimmer, dann auf die Waffe. »Tut mir leid. Wir haben ein paar harte Tage hinter uns. Mit so was wie das hier hatten wir noch nie zu tun.«

»Hatte sie noch nie zu tun, meinst du.«

Mike befeuchtete sich die Lippen. »Du magst Annabel nicht.«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Theoretisch nicht.«

»Sie liebt dich«, sagte Shep. »Mehr brauch ich nicht zu wissen.«

Mike betrachtete seine Füße. Shep starrte an die Stelle, wo die Wand mit der Decke zusammenstieß.

»Hör zu«, begann Mike. »Wie wir damals auseinandergegangen sind, das … ich wollte nie …«

Shep winkte ab. »Die Vergangenheit interessiert mich nicht. Du brauchst mich jetzt. Also bin ich jetzt hier.«

»Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte«, gab Mike zu. »Wie ich das vereinbaren sollte …« Er spürte Sheps Desinteresse und ließ das Thema fallen.

»Du hast es weit gebracht«, sagte Shep.

»In anderer Hinsicht auch wieder nicht.« Die verhinderte Konversation gab Mike das Gefühl, dass er so viel mehr sagen wollte, aber er wusste nicht was. »Wir haben heute einiges geschafft.«

Das stimmte. Shep war Dana Riverton zu einem Apartment in Northridge gefolgt. Von der anderen Straßenseite hatte er beobachtet, wie sie eine Wohnung im ersten Stock betrat. Er fing eine ältere Nachbarin ab, die ihren Schnauzer Gassi führte und ihm erzählte, dass in diesem Block keine Dana Riverton wohnte. Mike hatte Hank die Adresse sowie die anderen Informationen oder Fehlinformationen, auf seinen altmodischen Anrufbeantworter gesprochen. Am Nachmittag hatte Shep sich Mikes Haus vorgenommen und herumgewerkelt, um die Schlösser so sicher zu machen, wie es nur ein Tresorknacker konnte.

Shep schien erleichtert über die Wendung des Gesprächs. Organisatorische Details. Sicherer Boden unter den Füßen. »Morgen werd ich zusehen, dass wir dieses Handy geortet kriegen«, sagte er.

»Wie?«

»Ich hab ’nen Typen angerufen, der ’nen Typen kennt.«

»Wird aber eher schwierig?«

»Jepp.« Shep zog am Hahn, und die Trommel zeigte ihren Messingkopf. Er ließ ihn wieder los und legte den Colt auf seine Brust zurück. Wie es aussah, ging ihnen jetzt der Gesprächsstoff aus. Schließlich brach ausnahmsweise Shep das Schweigen. »Kat ist ja ein ganz schönes Energiebündel.«

»Ja. Ja, allerdings.«

»Und, wie ist das so, wenn man Vater ist?«

Die Frage, die für Shep ziemlich vage formuliert war, traf Mike völlig unvorbereitet.

»Abgesehen von den naheliegenden Sachen«, fügte Shep hinzu.

»So ein Kind gehört dir«, sagte Mike. »Total. Aber dann musst du es dein Leben lang Stück für Stück loslassen. Erst schläft es nicht mehr in deinem Bett. Dann kann es allein laufen und möchte auch nicht mehr auf dieselbe Art im Arm gehalten werden. Dann hört man auf, ihm das Essen vorzuschneiden. Dann geht es in die Schule. Und irgendwann steht so ein Trottel im Auto vor der Tür und will deine Tochter auf ein Konzert mitnehmen.«

»Wir waren auch mal solche Trottel«, bemerkte Shep.

»Hoffen wir, dass sie’s etwas besser trifft.«

»Ja, das wollen wir hoffen.« Shep kratzte sich mit dem Pistolenlauf das Kinn. »Ich schätze, wenn du deine Aufgabe erfüllen willst, musst du sie in dem Moment auch gehen lassen.«

So hörte es sich jedes Mal an, wenn Shep etwas Kluges sagte – seine Weisheit war in Schlichtheit verpackt. Tiefe Dankbarkeit wallte in Mike auf, und er merkte, wie sehr er ihn vermisst hatte. Wieder suchte er nach Worten. »Das alles …« Seine Geste bezog das Zimmer, das Haus, seine ganze Familie mit ein. »… das hab ich dem zu verdanken, was du mir beigebracht hast.« Er sah sich um, und die Worte hallten in seinem Kopf nach – das alles – und ihm wurde bewusst, dass es sich vielleicht so anhörte, als würde er damit angeben wollen. Auf einer gewissen Ebene waren Shep und er wieder ein eingeschworenes Team, aber gleichzeitig wollte sich ein Teil von Mike nicht so recht wohl dabei fühlen.

»Ich hab dir überhaupt nichts beigebracht«, sagte Shep.

»Durchhaltevermögen.« Mike brachte es nicht über sich, in diesem Moment noch ein »Loyalität« hinzuzufügen.

Sheps Blick fiel auf ein Foto auf dem Bücherregal, die dreijährige Kat, die Seifenblasen machte, während ihr das Haar ins Gesicht fiel. »Nee, du warst schon immer schlau genug, um zu wissen, dass es da noch mehr gibt.«

»Aber wir haben es gebraucht. Durchhaltevermögen.«

»Ja, aber auch bloß, weil wir sonst nichts hatten«, sagte Shep.

Er schloss die Augen, aber Mike wusste, dass er sich nur ausruhte und nicht einschlief.

Nach einer Weile stand er leise auf und ging zurück zu seiner Familie.

 

Zwei schlaflose Stunden später stand Annabel am Kühlschrank und zapfte sich kühles Wasser am Wasserspender. Einen Daumen hielt sie ins Glas, um in der Dunkelheit zu spüren, wann es voll war.

Als sie sich umdrehte, erstarrte sie, weil sie den Umriss eines Mannes auf der Wohnzimmerschwelle sah. Die Hand, in der sie das Glas hielt, wurde weiß.

»Shep?«, stieß sie erstickt hervor.

»Ja.«

Sie schauderte. »Du hast mich erschreckt.«

»Wollt ich nicht.«

So blieben sie stehen, zwei gesichtslose Silhouetten.

»Du hast mich nicht gern hier«, sagte er.

Sie befeuchtete sich die Lippen. »Stimmt. Aber die Hälfte der Zeit irre ich mich, also beachte mich einfach gar nicht.« Sie legte den Kopf schräg und schien ihn eingehend zu betrachten. »Weißt du was? Ich weiß im Grunde überhaupt nicht, was ich im Moment will. Das war einfach alles so grauenvoll. Und du bist schließlich hier, stimmt’s? Du bist auf unserer Seite.«

»Sorry.« Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, was ihm selten passierte.

Ihr Gesicht wurde weich. Seine Unsicherheit schien sie zu rühren. »Du und ich, wir hatten so unsere Meinungsverschiedenheiten, aber du musst wissen, ich bin wirklich dankbar, dass du gekommen bist.«

»Okay«, sagte Shep.

»Und für Mike bedeutet es unheimlich viel. Ich mach mir Sorgen um ihn. Er ist wirklich … wütend geworden. So hab ich ihn noch nie gesehen.«

»Du brauchst dir keine Sorgen um Mike zu machen, wenn er sauer wird«, erwiderte Shep. »Mach dir lieber Sorgen, wenn er still wird.«